Wohltätigkeit ist auf freie Märkte angewiesen
20.6.2016 – Selbst wenn jeder Mensch vollkommen uneigennützig wäre, könnte eine komplexe Wirtschaft nicht ohne den Preismechanismus des Marktes entstehen.
von Jörg Guido Hülsmann.
Auch wenn manche meinen, dass eine Wirtschaft, die auf dem Prinzip des Schenkens aufgebaut wäre und nicht auf der Grundlage von Tauschgeschäften, die menschlichen Bedürfnisse besonders gut befriedigen würde, stünden wir in diesem Fall immer noch dem Problem der Herstellung und Produktion von komplexen Gütern gegenüber, die den Markt als Grundlage für die Ressourcenallokation benötigen.
Wenn wir uns zudem vergegenwärtigen, dass der Akt des Schenkens sowohl die Zustimmung des Schenkenden als auch des Beschenkten bedarf, wird ziemlich schnell klar, dass die Probleme einer reinen Wirtschaft des Schenkens vielschichtiger sind als sie auf ersten Blick erscheinen.
Sowohl der Schenkende als auch der Beschenkte müssen zustimmen
Ein Geschenk ist eine bedingungslose Übertragung eines wirtschaftlichen Gutes von einer Person (dem Schenkenden) zu einer anderen Person (dem Begünstigten). Im Falle einer Dienstleistung stimmt der Schenkende zu, dem Begünstigten die Dienstleistung zu erbringen, und der Beschenkte willigt ein, diese als Geschenk zu empfangen.
Es handelt sich um ein Geschenk im eigentlichen Sinne, wenn das Gut aus freien Stücken übergeben wird und die Entscheidung, das Gut herzugeben, an keine Bedingungen geknüpft ist. Für den Schenkenden ist es nicht die Erfüllung einer Verpflichtung, und es kann nicht als ein Anspruch des Begünstigten verstanden werden. Insbesondere stellt es keine Vergütung für ein zuvor, vom Begünstigten an den Spender übertragenes wirtschaftliches Gut dar. Selbstredend gibt es im echten Leben viele Fälle von „falschen Geschenken“, bei denen die Übertragung von Eigentumsrechten einige, aber eben nicht alle Merkmale eines wahren Geschenks aufweist.
Es ist notwendig, dass beide Seiten dem Geschenk zustimmen. Wenn beide Seiten zustimmen, gewinnt sowohl der Begünstigte als auch der Spender.
Dies scheint im Falle des Begünstigten offensichtlich zu sein. Schließlich ist er es, der ein wirtschaftliches Gut ohne Bezahlung erhält und dementsprechend als Begünstigter bezeichnet wird. Jedoch ist es wichtig, bei der Deutung des Geschenkes nicht in einen „materialistischen Trugschluss“ zu verfallen. Der Begünstigte profitiert nicht deshalb, weil jemand anderes ihm unentgeltlich ein wirtschaftliches Gut überlässt. Er gewinnt, weil er bevorzugt, das Geschenk anzunehmen anstatt es auszuschlagen. So ist gut bekannt, dass Geschenke abgelehnt werden können – und einige tatsächlich auch abgelehnt werden sollten. Nicht weil die Griechen den Trojaner ihr hölzernes Pferd am Strand anboten, waren diese genötigt oder gezwungen, dieses anzunehmen. Die Trojaner nahmen es an, weil sie glaubten – irrtümlicherweise, wie sich herausstellen sollte – mit dem Pferd besser gestellt zu sein.
Es steckt ein Wert darin, Geschenke zu machen oder diese anzunehmen
Was ein Geschenk also zu einem Geschenk macht, ist nicht seine Eignung für diese Anwendung oder jenen Genuss (sein „Gebrauchswert“), nicht der Umstand, dass andere Menschen es für begehrenswert halten (sein „Tauschwert“ oder Marktpreis), sondern der Umstand, dass der potentiell Begünstigte es für begehrenswert hält und daher annimmt. Zwar erhält er das ihm angebotene Objekt – ob nun eine Dienstleistung oder Eigentum an einem körperlichen Gegenstand – unentgeltlich. Was ihn jedoch zu einem wahrhaften Begünstigten und was das Objekt zu einem Geschenk werden lässt, ist dessen persönlicher Wert. Indem er dem Empfang zustimmt, beweist er, dass er selber dieses Geschenk lieber annehmen als ablehnen möchte. Er offenbart, dass er glaubt, sich mit dem Geschenk besser stellen zu können als ohne das Geschenk.
Der Geber profitiert ebenfalls. Wenn Maier einem Bettler eine 5 Euro-Note gibt, offenbart er damit, dass es ihm lieber ist, dass der Bettler die Banknote besitzt, als dass sie in seinem, Maiers, Besitz verbleibt. Dies hört sich jetzt so an, als hätte Maier irgendein „Interesse“ an der Schenkung, was wiederum unterstellen würde, das Geschenk sei nicht vollkommen unentgeltlich, weil Maier selbst von ihm profitieren würde. Nun, im weitesten Sinne hat Maier ein Interesse, aber das macht sein Geschenk nicht per se weniger unentgeltlich.
Maier profitiert von der Schenkung. Darum willigt er auch in die Schenkung ein. Für Nicht-Ökonomen ist diese Feststellung möglicherweise schockierend, aber das sollte nicht so sein. Es gibt keine menschliche Handlung, die nicht irgendwelche Mittel einsetzt, um höherwertige Ziele zu verfolgen. Der Grund, warum der Mensch handelt, ist immer der Wunsch, die Gesamtlage zu verbessern, also eine Lage zu erzeugen, die er jener Lage gegenüber bevorzugen würde, die ohne seine Handlung entstanden wäre. Hiervon gibt es keine Ausnahmen. Dies steht aber nicht im Widerspruch zur unentgeltlichen Natur von Maiers Handlung. Er ist nicht verpflichtet, die Note herzugeben, und der Bettler hat keinen Anspruch auf sie. Daher ist die Handlung im wahrsten Sinne des Wortes unentgeltlich.
Die Rolle von Marktpreisen bei der Schenkung
Wir wollen noch eine weitere Beobachtung zur Wirtschaft des Schenkens machen. Geschenke können durch mehr oder weniger zeitaufwendige Prozesse und menschliche Zusammenarbeit produziert werden. Mit anderen Worten wird die Entscheidung zur Schenkung nicht notwendigerweise in dem Moment getroffen, in dem wir dem Bettler an der Straßenecke begegnen. Geschenke können auch im Voraus geplant werden. Nicht nur können sie in dem Sinne vorbereitet werden, dass die Entscheidung zur Schenkung geplant wird, sondern auch in dem Sinne, dass das wirtschaftliche Gut, das verschenkt werden soll, genau zum Zwecke der Schenkung produziert worden ist.
Ist es vorstellbar, alle Produktionsprozesse auf eine Schenkung auszurichten? Jede Person würde ihre Produkte nicht länger verkaufen, sondern sie verschenken, und im Gegenzug wiederum von den Geschenken anderer Menschen profitieren. Könnte die gesamte Wirtschaft wie bei den Schlümpfen eine derartige Geschenke-Wirtschaft sein? Wie wir von der Analyse des idealtypischen Sozialismus bzw. Kommunismus wissen, könnte man dies versuchen, es wäre aber mit hohen Kosten verbunden. Eine reine Geschenke-Wirtschaft wäre per Definition eine Wirtschaft ohne Tausch und daher auch ohne Marktpreise. Marktpreise aber dienen als Orientierungshilfe, jenes Gut (mit höheren Erträgen) zu produzieren und nicht ein anderes Gut (mit niedrigeren Erträgen). Und Marktpreise halten auch dazu an, bestimmte Güter nicht zu verwenden, weil sie zu teuer sind.
In einer reinen Geschenke-Wirtschaft würde es aber eine solche Orientierungshilfe nicht mehr geben. Sie müsste ersetzt werden, durch einen starken Gerechtigkeitssinn und ein hohes Maß an Disziplin bei allen Mitgliedern der Gesellschaft. Solche Eigenschaften sind bekanntlich rar gesät und, was noch viel wichtiger ist, sie würden in einer reinen Geschenke-Wirtschaft nicht belohnt und daher unter solchen Bedingungen auch nicht kultiviert werden. Es ist ausgeschlossen, eine umfassende Arbeitsteilung ausschließlich durch den Gerechtigkeitssinn und die Disziplin zu organisieren, die von den wenigen von Natur aus tugendhaften Menschen aufgebracht werden könnte.
Die Produktion zukünftiger Geschenke ist aufwendig und schwierig
Selbst wenn nicht nur ein paar wenige Menschen tugendhaft wären, sondern viele, würde eine reine Geschenke-Wirtschaft unter erheblichen Unzulänglichkeiten leiden. Ludwig von Mises hat uns gelehrt, dass es ohne Tausch und ohne Marktpreise unmöglich wäre, die Arbeitsteilung innerhalb eines langkettigen und komplexen „umwegigen“ Produktionsprozesses zu organisieren. Ein gutes Urteilsvermögen mag ausreichen, um sich, auch ohne das Zwischenschalten von Preisen und Tauschgeschäften einen Plan für eine zufriedenstellende Zusammenarbeit zwischen ein paar Schuhmachern und Metzgern auszudenken. Aber ein gutes Urteilsvermögen reicht niemals aus, die relative (und häufig wechselnde) Dringlichkeit von Computerprogrammen, Bohrausrüstungen, Forschungen zur Prozessoptimierung und anderen Gütern, die fern unserer unmittelbaren Alltagserfahrungen liegen, zu bewerten.
Eine statische Wirtschaft, die nur wenige Menschen mit kurzen Wertschöpfungsketten ernähren muss, kann vielleicht als eine Geschenke-Wirtschaft aufgebaut sein, wenn die Produzenten durch brüderliche Liebe und gegenseitiges Vertrauen angetrieben werden. Sobald aber eine dieser Bedingungen fehlt, sobald es an Liebe und Vertrauen mangelt, sobald die Wirtschaft Tausend, Millionen oder Milliarden von Menschen umfasst, sobald die Wertschöpfungsketten tiefer und komplexer werden, sobald technologische oder andere Bedingungen sich schnell und häufig verändern, ist eine reine Geschenke-Wirtschaft keine Alternative mehr. Die Arbeitsproduktivität einer solchen Wirtschaft wäre äußerst gering im Vergleich zu jener, die wir aus entwickelten Marktwirtschaften kennen.
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Aus dem Englischen übersetzt von Arno Stöcker. Der Originalbeitrag mit dem Titel Charity Needs Markets ist am 13.6.2016 auf der website des Mises-Institute, Auburn, US Alabama erschienen.
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Jörg Guido Hülsmann ist Professor für Ökonomie an der Universität Angers in Frankreich und Senior Fellow des Ludwig von Mises Instituts in Auburn, Alabama. Er ist Mitglied der Europäischen Akademie für Wissenschaften und Künste sowie Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Ludwig von Mises Institut Deutschland. Zu seinen umfangreichen Interessen- und Forschungsgebieten zählen Geld-, Kapital- und Wachstumstheorie. Er ist Autor von «Ethik der Geldproduktion» (2007) und «Mises: The Last Knight of Liberalism» (2007). Zuletzt erschienen «Krise der Inflationskultur» (2013).
Seine Website ist guidohulsmann.com
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