Ein Europa aus tausend Liechtensteins
8. November 2021 – Anstelle die „Vereinigten Staaten von Europa“ oder gar eine UN-Weltregierung herbeizusehnen, regt Titus Gebel an, einmal genau in die entgegengesetzte Richtung zu schauen.
von Titus Gebel
Anstelle die „Vereinigten Staaten von Europa“ oder gar eine UN-Weltregierung herbeizusehnen, rege ich an, einmal genau in die entgegengesetzte Richtung zu schauen. Denn je größer und anonymer eine Gesellschaft ist, desto eher wird sich ein Wasserkopf von Politikern, Beamten und Lobbyisten um die Zentrale bilden und desto eher besteht ein Anreiz, persönlich nicht bekannte Mitmenschen auszubeuten und weltfremde Entscheidungen zu treffen. Echte Subsidiarität bedeutet, dass die meisten Entscheidungen auf Gemeindeebene getroffen werden. Man kennt sich und, kann die Auswirkung seines Tuns direkt beobachten. Eine Sozialkontrolle findet statt. Leopold Kohr, der „Philosoph der Kleinheit“ drückt es so aus:
In einer Gesellschaft kleiner Staaten verschwinden weder Krieg noch Kriminalität; sie werden bloß auf tragbare Größen reduziert. Statt dass man hoffnungslos versucht, die begrenzten Talente des Menschen auf eine Größe aufzublasen, die mit ungeheurer Größe fertig werden kann, soll die ungeheure Größe auf eine Größe reduziert werden, mit der sogar die begrenzten Talente des Menschen umgehen können. En miniature verlieren Probleme ihre Schrecken und auch ihre Bedeutung; das ist das Maximum, nach dem eine Gesellschaft streben kann.
Von daher dürfte einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren der Schweiz die Selbstbestimmung der Gemeinden mit ihren weitreichenden Zuständigkeiten sein. Zusammen mit den untereinander im Wettbewerb stehenden Kantonen drängen sie zentralistische, flächendeckende Visionen der Politik zurück. Diese Selbstbestimmung auf lokaler und regionaler Ebene ist vermutlich eines der am meisten unterschätzten Erfolgsrezepte der Eidgenossenschaft.
Nur Großmächte verursachen Großkatastrophen
Der Schweizer Adolf Gasser hatte dies bereits kurz nach der letzten europäischen Großkatastrophe, dem Zweiten Weltkrieg erkannt. Er sah, dass Zentralismus immer wieder in solche Katastrophen führt und schlug zur Neuordnung des Kontinents vor, allen Gemeinden Europas ein umfassendes Recht zur Regelung eigener Angelegenheiten einzuräumen. Er schreibt:
Nur in einer übersichtlichen, lebensnahen Gemeinschaft vermag sich der Normalbürger das zu erwerben, was man als politisches Augenmaß, als Sinn für die menschlichen Proportionen zu bezeichnen pflegt. Nur hier lernt er im täglichen Gespräch die berechtigten Anliegen seiner anders gesinnten und anders interessierten Nachbarn einigermaßen begreifen und ihnen Rechnung zu tragen; nur hier entwickelt sich auf dem Boden der Freiheit jenes Minimum an Gemeinschaft, das den Hang zum Autoritarismus wie zur Anarchie wirksam einzudämmen vermag. In diesem Sinne sind und bleiben autonome Kleinräume unersetzliche Bürgerschulen, ohne die gerade der freiheitlich-demokratische Staat in seinen Wurzeln verdorren müsste.
Er fand im Nachkriegseuropa durchaus gewisse Beachtung, allerdings mehr in Sonntagsreden und in Symbolpolitik als in der praktischen Umsetzung. Das ist nicht weiter überraschend, weil sein Vorschlag der politischen Anreizstruktur widerspricht. Stellen Sie sich vor, Sie wären Politiker und müssten sich entscheiden zwischen System A, einem großen, mächtigen Gebilde mit einem riesigen Budget, dessen Führer weltweit bekannt und respektiert sind; selbst untergeordnete Positionen verfügen über erhebliche Macht, Einfluss und Anerkennung; Sie als Politiker haben die Chance, da einmal dazuzugehören. Oder System B: ein Flickenteppich von kleineren und mittleren Einheiten, allenfalls ein paar wenige Regenten sind überregional bekannt; verbunden in einer Art Staatenbund, regiert von einem turnusmäßig wechselnden Präsidenten, der nur eingeschränkte Kompetenzen hat; insgesamt gibt es nur wenige hochbezahlte und einflussreiche Stellen.
Die Wahl der Politik und der sie unterstützenden Meinungsmacher wird daher aus eigennützigen Motiven immer auf System A fallen, wobei wohlklingende Begründungen schnell bei der Hand sind: weil „große Aufgaben vor uns liegen“, die „Zukunft gestaltet werden muss“, nur große Einheiten „mit den Herausforderungen des Klimawandels fertig werden“, wir nur so „wirtschaftlich gegen China bestehen“ könnten usw. Deshalb sind auch in der Schweiz mutmaßlich die meisten höheren Regierungsbeamten – entgegen der Bevölkerungsmehrheit – für den Beitritt zur EU: dort winkt ein ganzes Universum von neuen, gut bezahlten und interessanten Posten, fernab der Kontrolle durch den Bürger.
Größenvorteile schlagen irgendwann um
In der realen Welt dagegen haben es kleine Länder wie Singapur, Island oder Liechtenstein geschafft, nicht nur in Frieden zu leben, sondern weit höhere Pro-Kopf-Einkommen als die großen Staaten zu erzielen. Und das bei stabilen Staatsfinanzen und geringer Kriminalität. Ein weiterer Aspekt sollte zu denken geben. Es gibt weltweit nur eine Handvoll Unternehmen, die mehr als eine Million Mitarbeiter haben und nur ein einziges, das mehr als zwei Millionen Mitarbeiter hat (Walmart). Da dies Ergebnisse einer ungeplanten und sozusagen natürlichen Entwicklung sind, spricht einiges dafür, dass ab einem gewissen Umfang Größenvorteile automatisch in Nachteile umschlagen.
Diese Beobachtung widerspricht auch der These, dass es in einem freien Markt aufgrund von inhärenten Monopolisierungstendenzen am Ende nur noch ein einziges Unternehmen gäbe. Zu große Gebilde sind irgendwann nicht mehr steuerbar und Gewinne erodieren im Organisationsgetriebe, selbst bei Monopolisten. Auch Staaten sind, bei aller Verschiedenheit zu gewinnorientierten Unternehmen, große Organisationen mit einer Art Geschäftsbetrieb, daher dürfte diese Beobachtung im Grundsatz auch für sie gelten. Die seinerzeitige Teilung des Römischen Reiches und das Subsidiaritätsprinzip, wonach die untergeordneten Einheiten über alles selbst entscheiden sollen, was sie selbst bewältigen können, dürften ebenso aus dieser Erkenntnis abgeleitet sein, wie die regelmäßige Aufspaltung mennonitischer Siedlungen nach Erreichen einer Größe von mehr als 150 Einwohnern.
Die wichtigsten Vorteile großer Staaten können autonome Gemeinden trotzdem mitnehmen. Sie können sich für eine gemeinsame Verteidigung, für ein gemeinsames Rechts- oder Zollgebiet zu Staatsverbänden zusammenschließen. Und nicht jede Einheit muss ein vollständig unabhängiger Staat sein. Auch souveräne Kleinstaaten können sich auf bestimmten Feldern an größere Gemeinwesen anhängen, so wie etwa Monaco mit Frankreich eine Zollunion hat oder Liechtenstein Mitglied im Europäischen Wirtschaftsraum ist. Kleinstaaterei bedeutet nicht automatisch Abschottung oder Provinzdenken, aber in jedem Fall Selbstverwaltung und Subsidiarität. Und das eröffnet Möglichkeiten, die woanders fehlen.
Um das Jahr 1400 hatte China die besten, größten und seetüchtigsten Schiffe der Welt. Riesige Flotten segelten nach Indonesien, Indien, Arabien und bis zur Ostküste Afrikas. Die Chinesen standen kurz davor, das Kap der Guten Hoffnung zu umrunden, die Westküste Afrikas hinauf zu fahren und schließlich den Seeweg nach Europa zu entdecken. Dann geschah etwas Folgenschweres: Der 1432 an die Macht gekommene chinesische Kaiser sah die Seefahrt als Geldverschwendung an. Er verbot bei Strafe die Herstellung seetüchtiger Schiffe und gab den Befehl, die entsprechenden Werften abzureißen. Selbst die Aufzeichnungen der früheren Übersee-Expeditionen wurden vernichtet. Chinas Tradition der Seefahrt ging aufgrund der Entscheidung eines Einzelnen verloren und dabei blieb es.
Europas Erfolgsrezept: Vielfalt und Wettbewerb
Im Gegensatz dazu war Europa zu jener Zeit in etwa zweitausend Herrschaftsgebiete aufgeteilt. So klapperte der Genuese Kolumbus ab 1484 ein europäisches Herrscherhaus nach dem anderen ab, um eine Flotte zu erhalten, mit der er als erster über den Atlantik segeln konnte. Er versuchte es in Italien, Frankreich, Portugal und Spanien und erst beim zweiten Versuch willigte 1492 das spanische Königshaus ein und stattete ihn mit drei kleinen Schiffen aus. Es gab schlicht nie die Situation, dass ein einzelner Trottel (bzw. eine Trottel*in) über ganz Europa herrschte und eine gesamte Technologie abschaffen konnte.
Wir sollten daher darüber nachdenken, ob eine Welt aus tausend Liechtensteins nicht eine bessere Welt wäre. Die meisten Entscheidungen würden auf lokaler Ebene und dezentral getroffen, gravierende Fehlentscheidung hätten begrenzte Auswirkungen, es gäbe zahlreiche Anschauungsbeispiele welche Dinge funktionieren und welche nicht. Selbst Ursulas und Angelas verlieren ihren Schrecken und ihr Zerstörungspotenzial, wenn sie jeweils nur über ein kleines Territorium herrschen.
Europas Erfolgsrezept war immer die Vielfalt und der damit verbundene Wettbewerb. Es schult auch die Toleranz, dem Nachbarn zuzugestehen, dass er anders leben und denken darf als man selbst, etwa in Fragen von Corona, Klima oder Sozialstaat. Allein aufgrund der Vielzahl von Gemeinwesen würde ein fruchtbarer Wettbewerb um „Kunden“ herrschen anstelle eines Staatenkartells, das die Bürger einerseits möglichst weitgehend melken und andererseits von allen Entscheidungen ausschließen will. Das muss nicht Schwäche bedeuten. Selbst Stadtstaaten wie Venedig und Genua oder größenmäßig eher marginale Staaten wie Portugal und die Niederlande konnten zu ihren Hochzeiten große politische, militärische und wirtschaftliche Macht entfalten.
Die Schaffung übergeordneter Institutionen, wie eine gemeinsame Freihandels- oder Wirtschaftszone oder eine gemeinsame Verteidigung, ist immer möglich und insbesondere bei wesensverwandten Gemeinwesen auch naheliegend. Man denke etwa an den Städtebund der Hanse oder auch den Deutschen Bund, einem Bündnis von 39 souveränen Staaten, der gemeinsame politische und militärische Institutionen unterhielt. Je kleiner die Staaten sind, desto weniger droht zudem ein einzelner oder eine Gruppe von Staaten zu dominant zu werden. Kleinstaaten führen keine Weltkriege. Nur Großmächte verursachen Großkatastrophen.
Verglichen mit Deutschland ist etwa das kleine Liechtenstein ein Musterbeispiel für Systemrobustheit oder Antifragilität. Ein antifragiles System ist eines, das weniger Ausschläge aufweist, dafür über einen weit längeren Zeitraum stabil und letztlich erfolgreicher ist. Den Gegensatz dazu bilden fragile Systeme, die eine Zeit lang gut aussehen, dann aber in regelmäßigen Abständen katastrophal zusammenbrechen. Bis zum Jahr 1866 waren Liechtenstein und das heutige Deutschland im Deutschen Bund vereint. Ähnlich wie derzeit der intellektuelle Hauptstrom unter der Selbstbezeichnung „leidenschaftliche Europäer“, einen europäischen Bundesstaat anstrebt, war seinerzeit die Schaffung eines einheitlichen deutschen Staates das Maß aller Dinge. Der Deutsch-Nationalismus von damals ist sozusagen der Europa-Nationalismus von heute. Als nach der Schlacht von Königgrätz klar wurde, dass Preußen, welches den Fortbestand des Deutschen Bundes ablehnte, das Zentrum dieses neuen Staates sein würde, wurde von den Mitgliedsstaaten seine Auflösung beschlossen. Ein einziges Mitglied stimmte damals übrigens gegen die Aufhebung des Deutschen Bundes: Liechtenstein.
Was in der Folge mit Deutschland geschah, ist bekannt: Einigungskriege, Kolonialismus, Erster Weltkrieg, zwei Millionen eigene Kriegstote, Verlust eines Viertels des Staatsgebietes, Revolution, Hyperinflation, Währungsreform mit Verlust nahezu aller Ersparnisse, nationalsozialistische Diktatur, Zweiter Weltkrieg, Holocaust mit Auslöschung der jüdischen Mitbürger und ihrer Kultur, sechseinhalb Millionen eigene Kriegstote, Verlust eines weiteren Drittels des Staatsgebietes, fast alle Städte zerbombt, Vertreibung von zwölf Millionen Deutschen, Teilung des Landes in Besatzungszonen, erneute Währungsreform mit Verlust nahezu aller Ersparnisse, sozialistische Diktatur im Ostteil, dort Revolution und erneute Währungsreform. Insgesamt gab es sage und schreibe vier Systemzusammenbrüche seit 1870. Der fünfte leuchtet bereits am Horizont. Demgegenüber in Liechtenstein: null.
Heute verfügt das Fürstentum Liechtenstein über ein weit höheres Pro-Kopf-Einkommen als die Bundesrepublik Deutschland, ist ein stabiles Land ohne nennenswerte Kriminalität und ohne Staatsschulden. All dies wurde erreicht ohne einen einzigen Krieg, ohne eine einzige Revolution und ohne einen einzigen Anschluss an ein großes und mächtiges Gemeinwesen.
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Dieser Artikel erschien zuerst am 16. Oktober 2021 bei Tichys Einblick.
Titus Gebel ist Unternehmer und promovierter Jurist. Er gründete unter anderem die Deutsche Rohstoff AG. Er möchte mit Freien Privatstädten ein völlig neues Produkt auf dem „Markt des Zusammenlebens“ schaffen, das bei Erfolg Ausstrahlungswirkung haben wird. Zusammen mit Partnern arbeitet er derzeit daran, die erste Freie Privatstadt der Welt zu verwirklichen. Im April 2018 ist sein Buch „Freie Privatstädte – mehr Wettbewerb im wichtigsten Markt der Welt“ erschienen.
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