Liberalismus 2.0 – Wie neue Technologien der Freiheit Auftrieb verleihen

5. November 2021 – von Olivier Kessler

[Dieser Beitrag ist ein Auszug aus der Einführung zum Buch „Liberalismus 2.0 – Wie neue Technologien der Freiheit Auftrieb verleihen“, Edition Liberales Institut Oktober 2021, herausgegeben von Olivier Kessler. Leser aus der Schweiz und Liechtenstein können das Buch hier bestellen, Leser außerhalb der Schweiz und Liechtenstein hier.]

Unangebrachter Techno-Pessimismus: Warum wir optimistisch in die Zukunft blicken dürfen

Olivier Kessler

Derzeit kommt es auch in der sogenannten «freien Welt» zu einer Beschleunigung jener Entwicklungen, die aus liberaler Warte Skepsis hervorrufen: Die Umwandlung wesentlicher Grundrechte wie die Bewegungs-, Wirtschafts- und Versammlungsfreiheit in Privilegien, eine Ausweitung der staatlichen Macht, Überwachung und Kontrolle, die damit einhergehende Verletzung der Privatsphäre und des persönlichen Eigentums, eine explodierende Regulierung und Verschuldung sowie eine ultralockere Geldpolitik, welche die Ersparnisse der Bürger bedroht. Höchste Zeit also, sich Gedanken darüber zu machen, wie wir vom «Weg zur Knechtschaft» (Friedrich August von Hayek) abkommen und verhindern können, dass Freiheit für künftige Generationen zu einem Fremdwort verkommt.

Die Standardstrategie, die von den meisten Freiheitsaktivisten und liberalen Politikern verfolgt wird, ist das Schaffen von Mehrheiten für vernünftige Reformen. Mittels öffentlicher Bildungs- und Aufklärungsarbeit, der Teilnahme an Vernehmlassungsverfahren, liberalen Polit-Kampagnen und weiteren Instrumenten wird versucht, die Entscheidungsträger – seien es Parlamentarier oder Stimmbürger – für ein spezifisches Anliegen zu gewinnen, indem die Vorzüge und Erfolge liberaler Ansätze aufgezeigt werden.

Die grosse Herausforderung hierbei sind die Eigeninteressen von Politikern und Verwaltungsfunktionären sowie der mächtigen Lobbys, die jene vertreten, die vom Staat weiterhin grosszügig subventioniert und gesetzlich privilegiert werden wollen. Anstatt eine gemeinwohlorientierte Ordnung anzustreben, die allen dient, werden die gesetzlichen Pfründen von wenigen sehr effektiv verteidigt. Es ist daher wenig verwunderlich, dass liberale Reformen oftmals an Sonderinteressen-Koalitionen scheitern. So zeigt die generelle Entwicklung in Industrieländern ausnahmslos in Richtung Staatswachstum, höhere Steuern und detailversessene Überregulierung – wenn auch mit seltenen Unterbrüchen und vereinzelten Erfolgen, die
meist aber nur temporären Charakter aufweisen.

Wenig Beachtung findet bislang ein alternativer Ansatz, mit welchem die bedrohten und teilweise bereits verloren gegangenen Freiheiten verteidigt oder zurückerobert werden könnten. Diese Strategie hat den grossen Vorteil, dass man gegenüber politischen Entscheidungsträgern nicht in eine Bittstellerposition gerät: Die Umsetzung steht und fällt nämlich nicht mit der Zustimmung der Politik. Denn es handelt sich um einen unpolitischen Weg, der ohne Mehrheiten auskommt.

Dieser unternehmerische Ansatz macht sich einer Kombination von Technologien wie etwa Blockchain, Kryptografie und künstliche Intelligenz zunutze, um die Privatautonomie auszuweiten, die individuelle Freiheit zu stärken, persönliche Daten und die Privatsphäre besser zu schützen sowie das Eigentum vor unberechtigtem Zugriff zu sichern. Wie das genau geht, zeigen die Autoren in diesem Buch.

Dabei dürfte klar werden: Freiheit kann man sich nicht nur erkämpfen, sondern auch aufbauen. Der Krypto-Unternehmer Joseph Lubin formulierte es so: «Statt wie andere Zeit darauf zu verschwenden, mit Transparenten auf die Strasse zu gehen, konnten wir uns zusammentun, um an den neuen Lösungen für die gescheiterte Wirtschaft und Gesellschaft zu arbeiten.»[1]

Technologie: Weder gut noch böse

Der Techno-Pessimismus hat in der heutigen Null-Risiko-Gesellschaft enormen Auftrieb erhalten. Beeinflusst von düsteren Hollywood-Dystopien wie etwa iRobot, in welchem Roboter die Weltherrschaft an sich reissen, sieht man in neuen Technologien nicht primär den Nutzen, sondern die Gefahren. Dass diese unausweichlich den Weltuntergang und das Ende der Menschheit einläuten werden, steht für viele ausser Frage.

Technologien sind jedoch wertneutral und an sich weder gut noch böse. Es ist wie bei jedem Werkzeug: Man kann sie sowohl für das Gute als auch das Schlechte einsetzen. Das Internet und die sozialen Medien etwa können einerseits von Diktatoren gekapert und überwacht werden, um die eigenen Bürger auszuspionieren, oder aber – wie der Arabische Frühling gezeigt hat – von der Bevölkerung dazu benutzt werden, Widerstand gegen die Willkür der politischen Klasse zu organisieren. Auch konnte die zur Korrumpierung neigende Macht der massenmedialen Gatekeeper zunehmend ausgehebelt werden, indem neu jeder selbst Publikationskanäle aufbauen und sich damit unmittelbar an die Öffentlichkeit wenden kann.

Oder nehmen wir als weiteres Beispiel die künstliche Intelligenz (KI): Diese kann einerseits von politischen Machthabern dafür eingesetzt werden, mögliche Oppositionelle anhand von einschlägigen Frühindikatoren auszumachen und unschädlich zu machen, bevor diese an kritischem Einfluss gewinnen. Auch können Kommentare im Internet mit regierungskritischem Inhalt mittels KI-Tools automatisch identifiziert und blockiert werden, was die Meinungsäusserungsfreiheit untergräbt. Andererseits vermag dieselbe Technologie beispielsweise durch sogenannte «Deepfakes» die Privatsphäre von ungewollt gefilmten Passanten schützen, indem sie die aufgenommenen Gesichter automatisch durch andere ersetzt.[2]

Ähnlich verhält es sich mit der Nukleartechnologie, der Robotik, der Gentechnologie oder anderen «gefürchteten» Technologien: Es wäre vermessen, sie in gut oder böse einzuteilen.

Dass Technologien sowohl für das Gute wie auch das Schlechte eingesetzt werden, ist kein Novum, sondern war schon immer so. Man denke hier nur einmal an die Erfindung der Druckerpresse, die einerseits die weitflächige Streuung von gedrucktem Wissen ermöglichte sowie zur Aufklärung der Bürger und zu einem enormen Fortschritt in der Wissenschaft beitrug. Andererseits konnten sich auch in Büchern niedergeschriebene, fehlerhafte Ideen – wie z. B. die verschiedenen Spielarten realitätsfremder sozialistischer Träumereien – rascher verbreiten und grossen Schaden anrichten.

Unternehmerische Innovation statt Regulierung

Viele Technologien brachten nebst ihren Missbrauchsgefahren auch derart elementare Verbesserungen des menschlichen Lebens mit sich, dass man es sich nicht leisten konnte, sie zu ignorieren oder zu bekämpfen. Ein Beispiel dafür ist das Feuer: Als die Menschen gelernt hatten, wie man ein Feuer macht, errangen sie einen wichtigen Vorteil gegenüber anderen Primaten. Das Feuer bot ihnen Schutz vor Kälte und vor Raubtieren. Doch man musste den nicht ungefährlichen Umgang mit Feuer zunächst erlernen. Bestimmt gab es zu dieser Zeit auch eine starke Bewegung von Feuergegnern. Die Vorteile der Feuernutzung waren jedoch derart überwiegend, dass sie sich letztlich durchgesetzt hat, während die Feuergegner ausgestorben sind.[3]

Techno-Pessimisten können heute – im Gegensatz zum Zeitalter, als das Feuer vom Menschen als Tool entdeckt wurde – auf einen mächtigen Verbündeten zählen: den Staat und seinen Zwangsapparat. Wenn neue Technologien entwickelt werden, sind Appelle der Bedenkenträger an die Adresse der Politik so sicher wie das Amen in der Kirche. Diese solle das Unbekannte entweder mit einem Moratorium belegen oder es am besten gleich ganz verbieten. Eine zunehmend beliebte Variante der Technologie-Behinderung sind auch Regulierungen: So sollen Staaten etwa Social-Media-Algorithmen überwachen, Datenschutzverordnungen erlassen und grössere Tech-Konzerne aufsplitten.

Die durch neuartige Technologien bedrohten individuellen Freiheiten wurden jedoch in der Geschichte selten mit Regulierungen zurückerobert. Entscheidend war oftmals vielmehr die unternehmerische Innovation, die auf die Kundenbedürfnisse – wie etwa die Wahrung der Privatsphäre – reagierte. So kam die einzige Antwort auf die Snowden-Enthüllungen im Jahr 2013 vom Privatsektor: verschlüsselte Messaging-Dienste und ein verschlüsselter Infofluss zwischen Browsern und Webseiten gehen auf private Initiativen zurück.[4]

Auch gut gemeinte staatliche Eingriffe zur Milderung der Folgen neuer Technologien für die Gesellschaft dürften keine Besserung bewirken. Im Gegenteil. Nehmen wir zur Veranschaulichung beispielsweise populäre Reaktionen auf das Aufkommen von Robotern, die angeblich bald für grosse Massenarbeitslosigkeit sorgen werden: Das Erlassen einer Robotersteuer oder die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Doch die steigende Steuerlast, die Voraussetzung für solche vermeintlichen Musterrezepte ist, führt bekanntlich zu einer Bestrafung der Produktiven, denen die Gesellschaft ihren Wohlstand zu verdanken hat. Diese negativen Anreize werden folglich die Lebensstandards für alle absenken und sind dem Gemeinwohl somit alles andere als zuträglich.

Die Lösung für anstehende Herausforderungen werden wohl ein weiteres Mal vom Privatsektor kommen: Das dürfte auch bei der befürchteten Arbeitslosigkeit aufgrund des vermehrten Einsatzes von Robotern nicht anders sein. Solange es keine unnötig behindernden Regulierungen wie einen Mindestlohn gibt, könnten betroffene Arbeiter sich neu in Jobs betätigen, in denen menschliche Arbeitskräfte weiterhin gebraucht werden. Einen liberalen Arbeitsmarkt vorausgesetzt, dürften alle Willigen zu einem Einkommen kommen, zumal die menschlichen Bedürfnisse potenziell unendlich sind und man sich immer irgendwie nützlich machen kann. Diese Umorientierung wird einige zweifellos vor Herausforderungen stellen, andererseits war es dank Smartphone mit Internetzugang und einer Unmenge an kostenlosen Inhalten und Kursen im Netz noch nie so einfach und kostengünstig, sich neue Fertigkeiten und Kenntnisse anzueignen. Eine prosperierende Gesellschaft geht nun mal nicht mit Statik, Starrheit und Stillstand zusammen. Wohlstand ist einzig und allein das Ergebnis ständigen Lernens und Anpassens und erlaubt es wiederum, sich auch solidarischer jenen gegenüber zu zeigen, die mit den nötigen Anpassungen grössere Schwierigkeiten haben.

Und was dabei oft vergessen wird: Auch jenen, die sich beruflich neu orientieren müssen, geht es im Endeffekt dank diesen durch Technologie und unternehmerische Innovation angestossenen Veränderungen besser. So nehmen Roboter Arbeitern gesundheitsschädigende und riskante Schwerst- oder Nachtarbeit, nervtötende Monotonie und andere lästige und anstrengende Arbeiten ab, die ihr Leben gefährdet und verkürzt hätten. Indem die zuvor durch sie befriedigten Bedürfnisse neu von Robotern abgedeckt werden und sie ihre frei werdende Zeit der Befriedigung anderer Bedürfnisse widmen können, wächst der gesellschaftliche Wohlstand. Davon profitieren alle.

Hätten sich jene Arbeitskräfte, die früher auf die Produktion von Schreibmaschinen spezialisiert waren, nicht umorientiert, damit beispielsweise an ihrer Stelle Computer, Tablets und Smartphones hergestellt werden konnten, so wäre das remote Arbeiten im «Home-Office», der Austausch via Zoom-Calls und das gemeinsame Arbeiten an in Clouds gespeicherten Dokumenten während einer Pandemie gar nicht denkbar gewesen.

Der Staat wird sich dem Wettbewerb stellen müssen

In diesem Buch wird die These aufgestellt, dass neue Technologien wie etwa die Blockchain, die Kryptografie und die künstliche Intelligenz einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der Privatautonomie leisten können. Sie stellen wichtige Tools dar, um das persönliche Eigentum vor der ausufernden kollektiven Anspruchshaltung und vor der zunehmend inflationären Geldpolitik in Sicherheit zu bringen. Sie tragen dazu bei, die Gesetzgebung besser vor dem Missbrauch durch Sonderinteressen zu schützen und sie in den Dienst des Allgemeinwohls zu stellen. Sie ermöglichen es, dass neuartige Formen von freiwilligen und privaten Organisationen mit dem Staat hinsichtlich vielerlei wünschenswerter Funktionen in den Wettbewerb treten. Wie das im Detail funktionieren könnte, zeigen die Autoren in ihren Beiträgen. Zur Illustration seien an dieser Stelle kurz einige Beispiele skizziert, die eine Vorahnung geben sollen, inwiefern neue Technologien der Freiheit Auftrieb verleihen könnten.

Das Geldsystem ist ein Bereich, der von neuen Technologien stark betroffen ist. Geld ist das Blut in den Adern des Wirtschaftskreislaufs. Genau wie ein menschlicher Körper gesunde Blutkörperchen benötigt, braucht auch die Wirtschaft gesundes Geld, um einwandfrei funktionieren zu können. Gesund ist das Geld jedoch nur dann, wenn es nicht andauernd an Kaufkraft verliert. Vor dem Hintergrund der sorgenlosen Geldentwertungspolitik der Notenbanken erblickten Kryptowährungen das Licht der Welt. Bitcoin und diverse andere «Crypto-Coins» verfügen lediglich über eine limitierte Geldmenge und entziehen sich der Manipulation sowie der kalten Enteignung durch eine zentrale Stelle. Damit entsteht ein Wettbewerb um die Gunst der Nutzer im Bereich des Geldes, wobei die sich entwertenden staatlichen Währungen hier auf Dauer den Kürzeren ziehen könnten.

Im Gegensatz zum staatlich organisierten und lizenzierten Bankensystem gibt es für korrupte Staaten bei kryptografisch geschützten Geldbeuteln (sogenannten «Wallets») keine Möglichkeit, Vermögen von unliebsamen Persönlichkeiten einzufrieren. Denn die Guthaben befinden sich dort unter der uneingeschränkten Kontrolle der Eigentümer. Die Privatsphären und Anonymitätsfunktionen von Privacy-Coins ermöglichen zudem beispielsweise auch die relativ anonyme Unterstützung einer Opposition oder einer Freiheitsbewegung gegen den Willen der aktuellen politischen Machthaber. Dies schützt die Geldgeber vor Vergeltungsrepressionen und schafft zusätzliche Anreize zur Stärkung der Freiheit.

Auf Blockchain basierende Smart Contracts ihrerseits ermöglichen es, viele Verträge ohne den Rückgriff auf das staatliche Rechtssystem durchzusetzen. Diverse Vertragsklauseln können damit teilweise oder vollständig automatisiert ausgeführt werden, sofern vorgängig einprogrammierte Bedingungen erfüllt werden. Dies verringert das Betrugspotenzial und könnte die entsprechenden Rechtsdurchsetzungsbehörden in einigen Bereichen überflüssig machen.

So wie die Industrielle Revolution eine mechanisierte Energie (Dampfmaschine) hervorbrachte, könnte aus der Blockchain-Revolution ein mechanisiertes Vertrauen entstehen. Es wird geschätzt, dass weltweit 29 Trillionen US-Dollar[5] pro Jahr dafür aufgewendet werden, Vertrauen zwischen Vertragspartnern herzustellen: Darunter fallen z. B. die Kosten für Anwälte, Gerichte, Gefängnisse und Revisionsstellen. Viele dieser Mittel könnten künftig produktiv zur Befriedigung anderer Bedürfnisse eingesetzt werden und damit einen enormen Wohlstandsschub auslösen.

Die grossen Tech-Firmen üben heute (meist auch auf Druck der Politik hin) vermehrt Zensur auf den von ihnen betriebenen Social-Media-Plattformen aus. Die Blockchain-Technologie ermöglicht nun jedoch den Aufbau zensurresistenter Publikationsplattformen, weil diese nicht mehr von einem zentralen Anbieter überwacht und zensiert werden können, sondern ein dezentrales Netzwerk die Kontrolle übernimmt. Entsprechend wird es für die Politik enorm schwierig, die Entscheidungsträger ausfindig zu machen und diesen ihren Willen aufzudrücken. Das sind hoffnungsvolle Aussichten für die Meinungsäusserungs- und die Medienfreiheit sowie den für freie Gesellschaften essenziellen offenen Diskurs.

Neue Technologien könnten ausserdem auch politische Systeme partizipativer, dynamischer und gerechter gestalten, sodass die Wahrscheinlichkeit von Amtsmissbrauch und Sonderinteressen-Politiken reduziert würde. Die Blockchain etwa ermöglicht fälschungssichere Abstimmungen, weil ihre Integrität durch ein dezentralisiertes Netzwerk sichergestellt wird. Manipulationen würden damit sofort auffliegen und für ungültig erklärt werden.

Auch das Recht an der eigenen Wahlstimme könnte besser geschützt werden: So können wir unsere Volksvertreter aktuell beispielsweise nur periodisch – meistens alle vier Jahre – wählen. Wir haben keine Möglichkeit für den Rückzug unserer Stimme, wenn Politiker ihre Wahlversprechen nicht einhalten. Über Sachgeschäfte können wir nur in wenigen spezifischen Einzelfällen abstimmen, während meistens andere
über unser Schicksal bestimmen. Wir haben zudem keine Option, unsere Stimme zu delegieren, wenn uns dies angebracht erschiene.

Das alles muss in Zukunft nicht mehr sein. In einer sogenannten Kryptodemokratie haben die Wähler das volle Eigentumsrecht an ihrer Stimme. Sie könnten diese bei Bedarf an jemanden delegieren und diese Delegation auch jederzeit wieder zurückziehen, wenn sich der «Agent» nicht mehr im Sinne des «Principals» verhält. Wir könnten mit unserer Stimme also je nach Sachgeschäft selbst abstimmen oder sie beispielsweise auch an ein themenspezifisches Kompetenzzentrum delegieren, dem wir vertrauen. Wir brauchen uns jedenfalls nicht mehr zu ärgern, dass uns die Hände gebunden sind, wenn unsere Volksvertreter wieder einmal nicht so abstimmen, wie uns das vor den Wahlen versprochen wurde.

Evolutionärer Fortschritt

Das in diesem Buch vorgestellte Konzept, sich die Freiheit auch ohne politische Mehrheiten zurückzuholen, mag auf den ersten Blick radikal erscheinen. Doch im Grunde genommen steht es gänzlich in der klassisch liberalen Tradition: Im Zentrum steht der Schutz individueller Freiheitsrechte. Es geht um einen friedlichen, evolutionären Wandel, nicht um eine blutige Revolution. Veränderungen werden nicht etwa «top down» verordnet, sondern von autonomen Individuen «bottom up» getragen, indem diese auf neuen Technologien basierende Produkte und Dienstleistungen nutzen. Dieser Prozess läuft auf der Basis freiwillig eingegangener Verträge ab. Es geht um Fortschritt durch unternehmerisches Wirken. Die damit verbundene Entstehung von Alternativen und die Ausweitung der Angebotspalette führt zu mehr Wahlmöglichkeiten, grösserem Wettbewerb und damit einer intensiveren Orientierung an Kundenbedürfnissen, zu denen auch der Wunsch nach Privatautonomie gehören kann.

Es ist denkbar, dass wir gerade ein neues Zeitalter betreten, in welchem das Individuum eine wesentlich grössere Auswahl haben wird, unter welchen Regeln es leben will. Die Tage des territorialen Gesetzes- und Gewaltmonopolisten könnten schon bald gezählt sein, während an ihrer Stelle ein wünschenswerter politischer Wettbewerb aufgrund einer rasant wachsenden Governance-Vielfalt entsteht. Unter diesen wird es auch diverse dezentrale Modelle geben, in welchen das Problem des Machtmissbrauchs weniger stark ausgeprägt sein wird als bei den heute tendenziell immer stärker zentralisierten politischen Systemen. Gleichzeitig könnten die Bürger ihre Autonomie zurückerlangen, indem sie z. B. selbst entscheiden, mit wem sie welche konkreten persönlichen Daten teilen wollen und mit wem nicht.

Die Freiheit wird für viele Menschen weltweit durch neue Technologien greifbar und ist nicht mehr an Reformen oder politische Wahlzyklen innerhalb von Landesgrenzen gebunden. Es handelt sich also um das grösste globale Entwicklungshilfeprogramm, das im Gegensatz zu den wirkungslosen oder sogar schädlichen Umverteilungsübungen der letzten Jahrzehnte seinen Namen auch tatsächlich verdient.

Es stehen also aufgrund des technologischen Fortschritts grosse Veränderungen an, die uns alle betreffen. In diesem Buch wollen wir aufzeigen, dass Furcht, Panik und Weltuntergangs-Dystopien fehl am Platz sind. Auch wenn die aktuellen politischen Umstände weltweit besorgniserregend sind, wollen wir unseren Blick auf die Zukunft richten und aufzeigen, wie es uns möglich werden könnte, viele verloren geglaubte Freiheiten wieder zurückzuerobern. Der vorliegende Sammelband will Hoffnung machen und auch dazu ermuntern, von den neuen Instrumenten der Freiheit Gebrauch zu machen.

[1] Zit. in: Don Tapscott und Alex Tapscott (2. Auflage, 2016). Die Blockchain-Revolution – Wie die Technologie hinter Bitcoin nicht nur das Finanzsystem, sondern die ganze Welt verändert. Kulmbach: Plassen. S. 124.
[2] Darcy W. E. Allen, Chris Berg & Sinclair Davidson (2020). The New Technologies of Freedom. Great Barrington: American Institute for Economic Research. S. 110−119.
[3] Simon Aegerter (2020). Über das Wachstum der Grenzen menschlicher Ressourcen. LI-Paper. Liberales Institut. Abrufbar auf: https://www.libinst.ch/?i=wachstum-der-grenzen-menschlicher-ressourcen
[4] Vgl. dazu Darcy W. E. Allen, Chris Berg & Sinclair Davidson (2020). The New Technologies of Freedom. Great Barrington: American Institute for Economic Research. S. 145−166.
[5] Sinclair Davidson, Mikayla Novak und Jason Potts (24. Juli 2018). The $29 Trillion Cost of Trust. Cryptoeconomics Australia.

Olivier Kessler ist Ökonom, Publizist und Direktor des Liberalen Instituts in Zürich. Zuvor war er für mehrere Public Affairs- und Medienunternehmen tätig. Kessler hat an der Universität St. Gallen International Affairs & Governance studiert. Er ist Mitglied der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft und der Jury zur Vergabe der Roland Baader Auszeichnung. Er leitete als Präsident des Vereins zur Abschaffung der Medienzwangsgebühren die Kampagne der liberalen No-Billag-Initiative in der Schweiz. Er veröffentlichte Beiträge unter anderem in der Neuen Zürcher ZeitungFinanz und WirtschaftWeltwocheBasler Zeitung, im TagesAnzeigerNebelspalter, in CH-Media-Publikationen, auf Finews und im Schweizer Monat.

Kessler ist Co-Autor des Buches 64 Klischees der Politik: Klarsicht ohne rosarote Brille (2020) sowie Autor und Mitherausgeber der Bücher Null-Risiko-Gesellschaft: Zwischen Sicherheitswahn und Kurzsichtigkeit (2021), Mutter Natur und Vater Staat: Freiheitliche Wege aus der Beziehungskrise (2020), Explosive Geldpolitik: Wie Zentralbanken wiederkehrende Krisen verursachen (2019), Zu teuer! Warum wir für unser Gesundheitswesen zu viel bezahlen (2019) und Staatliche Regulierung: Wie viel und überhaupt? (2018).

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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