Wie Eugen von Böhm-Bawerk die marxistische Ausbeutungstheorie entzauberte

2. September 2019 – von Karl-Friedrich Israel

Karl Friedrich Israel

Karl Marx starb bevor sein Hauptwerk Das Kapital in Gänze der Öffentlichkeit zugänglich wurde. Der zweite und dritte Band wurden erst 1883 bzw. 1894 postum unter der Leitung seines Kompagnons Friedrich Engels veröffentlicht. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass die Grundlage der marxistischen Wirtschaftstheorie, nämlich die objektive Arbeitswertlehre, wie sie im ersten Band von 1867 vorgestellt wurde, bis dahin schon völlig überholt war. Der Ausgangspunkt der marxistischen Lehre war obsolet, noch bevor sie zu ihrem Abschluss kam.

Dies hat den enormen Erfolg des Marxismus im politischen und kulturellen Bereich nicht im Geringsten beeinträchtigt. Die Lehre von der Ausbeutung der Lohnarbeiter durch die Kapitalisten ist bis heute in aller Munde, trotz eines über die lange Frist wachsenden materiellen Lebensstandards und immer neuen technologischen Annehmlichkeiten, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar waren, und die insbesondere auch dem normalen Arbeiter zugutekommen.

Marx hatte natürlich eingeräumt, dass der Kapitalismus den Lebensstandard der überwiegenden Mehrheit der Menschen verbessert. Gerade deshalb musste die Idee, dass ein Arbeitnehmer immer gerade am Subsistenzminimum entlohnt wird, durch eine Umdeutung des Wortes „Subsistenzminimum“ vor dem Untergang gerettet werden. Es ging dabei fortan nicht mehr nur um das bloße Überleben, sondern auch darum, ein gutes und erfülltes Leben zu führen. Was das genau bedeute, hänge wiederum von der Phase der wirtschaftlichen Entwicklung ab. Ist eine Wirtschaft weit entwickelt, sei auch das „Subsistenzminimum“ höher. Einige kritische Kommentatoren haben behauptet, dass es schon ausreiche, nur auf diese Umdeutung hinzuweisen, um die marxistische Ausbeutungstheorie zu entkräften. Aber genau genommen reicht das nicht aus. Die bloße Tatsache, dass der materielle Lebensstandard der Arbeiter im Kapitalismus zunimmt, bedeutet keineswegs, dass die Arbeiter nicht ausgebeutet werden. Es könnte durchaus sein, dass sie auch heute noch keinen gerechten Lohn erhalten.

Soweit Ausbeutung jedoch in der Gesellschaft existiert, kann selbst die marxistische Theorie sie nicht widerspruchsfrei auf inhärente Merkmale der Beziehung zwischen Kapital und Arbeit in einer marktwirtschaftlichen Ordnung zurückführen. Das hat der große österreichische Ökonom Eugen von Böhm-Bawerk schon früh in seiner meisterhaften Kritik Zum Abschluß des Marxschen Systems (1896) gezeigt.

Auch mehr als 120 Jahre später lohnt es sich, Böhm-Bawerks Kritik aufmerksam zu lesen, nicht nur, weil er ein paar sehr interessante Beispiele geliefert hat, für die der Ausgangspunkt der Arbeitswertlehre offensichtlich nicht zu gelten scheint. Solche Beispiele sind vielleicht ja nur die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Es lohnt sich insbesondere deshalb seine Analyse zu lesen, weil Böhm-Bawerk einen inneren Widerspruch aufgedeckt hat, der die gesamte marxistische Ausbeutungstheorie zum Einsturz bringt. Zur Schande aller selbsternannten modernen Marxisten hat bis heute noch niemand eine brauchbare Lösung vorgelegt. Im Folgenden wollen wir diesen Widerspruch Schritt für Schritt erläutern.

Die Arbeitswertlehre

Im ersten Band des Kapitals stellte Marx sein Grundprinzip des Wertes vor. Es besteht in der Vorstellung, dass der Wert einer Ware durch die sozial notwendige Arbeitszeit für deren Herstellung bestimmt wird. Dies sei die Produktionszeit, die unter sozial normalen Bedingungen zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Herstellung erforderlich ist, mit dem sozial gängigen Maß an Qualifikation und Arbeitsintensität.

Die Arbeitskraft ist nach Marx somit die einzige Determinante des Wertes. Und mehr noch, die Tatsache, dass bestimmte Mengen verschiedener Waren auf dem Markt gegeneinander getauscht werden, bedeute, dass die gleiche Menge an sozial notwendiger Arbeitszeit in diesen Mengen gespeichert ist.

Genau wie jede andere Lehre vom Wert, muss auch die Arbeitswertlehre letztlich die Marktpreise von Gütern und Dienstleistungen erklären. Die Marktpreise müssen also letztlich in der marxistischen Theorie in strenger Proportion zur sozial notwendigen Arbeitszeit für ihre Herstellung stehen. Und dies gelte auch für den Marktpreis der Arbeit selbst. Die Löhne der Arbeiter müssen dem Wert eines Güterbündels entsprechen, das notwendig wäre, um die Arbeitskraft des Arbeiters aufrecht zu erhalten.

Der Mehrwert und die Ausbeutung der Arbeiter

Der marxistischen Theorie zufolge wird die Lohnarbeit daher zu einem Preis vergütet, der dem Wert eines Bündels von Waren und Dienstleistungen entspricht, die notwendig sind, um den Arbeiter am Leben und gesund zu halten, sodass dessen Arbeitskraft weiterhin eingesetzt werden kann. Dies erinnert stark an eine Subsistenzlohntheorie, aber, wie bereits erwähnt, geht man davon aus, dass das Subsistenzniveau mit der wirtschaftlichen Entwicklung steigt.

Eine Tatsache bleibt jedoch bestehen. Der Gesamtwert der produzierten Waren übersteigt die Summe der an die Arbeiter gezahlten Löhne. Das bedeutet, dass die Arbeit als einzige Wertquelle einen Mehrwert schafft, der über die eigene Vergütung hinausgeht. Dieser Mehrwert ist die Quelle der Ausbeutung der Arbeiterklasse. Mit anderen Worten, die Arbeitnehmer arbeiten länger, als notwendig wäre, um eine Warenmenge zu produzieren, die dem eigenen Lohn entspräche. Der Wert der während der zusätzlichen Arbeitszeit produzierten Waren wird vom kapitalistischen Unternehmer extrahiert. Diese angebliche Form der Ausbeutung ist in der kapitalistischen Produktionsweise natürlich allgegenwärtig.

Aus Sicht der modernen subjektiven Wertlehre, die in den 1870er Jahren, also kurz nach Erscheinen des ersten Bands des Kapitals, ihren Durchbruch erlangte, ist es eher überraschend, wie die Arbeitswertlehre, auf der die gesamte Ausbeutungstheorie basiert, jemals so einflussreich hatte werden können. Aber man muss wissen, dass es nicht erst mit Marx angefangen hatte. Der Keim der Ausbeutungstheorie findet sich bereits in den großen Schriften der klassischen Ökonomie von Adam Smith und David Ricardo. Marx dachte diese Idee lediglich konsequent zu Ende.

Die Nuancen in den klassischen Schriften

Es gibt Passagen in Adam Smiths Werk, die in die Richtung der marxistischen Ausbeutungstheorie weisen. Im Wohlstand der Nationen erklärte er zum Beispiel, dass in einer entwickelten Wirtschaft „nicht immer das ganze Produkt der Arbeit dem Arbeiter [gehöre]. Er muss es in den meisten Fällen mit dem Kapitalisten teilen, der ihn beschäftigt“ (Buch 1, Kapitel 9). In anderen Teilen des Buches legte Smith jedoch den Grundstein für die so genannten Produktivitätstheorien des Kapitalzinses und wies darauf hin, dass die Nutzung des Kapitals die Arbeit produktiver mache und in diesem Sinne wert- und umsatzsteigernd ist. Dies bedeutet, dass die Kapitalvergütung sich nicht unbedingt aus einer Lohnkürzung speisen muss.  Marx ignorierte diesen zweiten Gesichtspunkt völlig und übernahm nur den ersten von Smith.

Ebenso erkannte er nur jene Passagen in David Ricardos Schriften an, die seine eigenen Vorurteile bestätigten. Andere Teile blieben unberücksichtigt. Insbesondere im ersten Kapitel seiner Principles betonte Ricardo eine wichtige Ausnahme von der Arbeitswertlehre, die sich auf das Zeitelement bezieht. Diese Ausnahme wurde von Marx ignoriert wie Böhm-Bawerk in seiner Abhandlung über die Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien betonte. Er bemerkte mit Nachdruck, dass es einen guten Grund für Marx’ selektive Lektüre der Klassiker gibt, „denn daß ein hundertjähriger Eichenstamm einen höheren Wert besitzt, als der halben Minute Zeit entspricht, die die Aussaat seines Keimes fordert, ist zu bekannt, um mit Erfolg bestritten werden zu können“ (S. 390, Ausgabe von 1921).

In diesem anschaulichen Beispiel deutete Böhm-Bawerk indirekt an, was er für die wahre Quelle des Kapitaleinkommens hielt – nicht etwa die Ausbeutung der Arbeiter, sondern die Zeit, bzw. die Zeitpräferenz. Diese Idee wurde in seiner Positiven Theorie des Kapitalzinses weiterentwickelt und hat seither die Schriften nachfolgender Ökonomen der Österreichischen Schule, wie Mises und Rothbard, angeregt. Unabhängig davon, ob man sich dieser speziellen Theorie anschließt oder nicht, wurde jedoch deutlich, dass es in vielen Fällen eine andere Wertquelle geben muss. Es kann unmöglich die Arbeit allein sein.

Der Widerspruch im marxistischen Gedankengebäude

Der sprichwörtliche Nagel zum intellektuellen Sarg der marxistischen Ausbeutungstheorie befand sich im dritten Band des Kapitals, in dem Marx ausdrücklich versuchte zu beweisen, dass sein fundamentales Wertprinzip einem wichtigen und empirisch beobachtbaren Phänomen des Kapitalismus nicht widerspreche, nämlich der tendenziellen Angleichung der Kapitalgewinnraten in verschiedenen Wirtschaftssektoren. Und er hat versagt. Böhm-Bawerk hatte diesen Misserfolg zwar schon vor der Veröffentlichung des dritten Bandes vorhergesagt, aber erst danach wurde er unbestreitbar.

Marx nahm eine konzeptuelle Zweiteilung des Kapitals vor. Den ersten Teil nannte er das variable Kapital. Es ist jener Teil, der zur Entlohnung der Arbeitskraft verwendet wird, oder einfach die Summe an Geld, die in einem bestimmten Investitionsprojekt für Arbeitsdienstleistungen ausgegeben wird. Den anderen Teil nannte er konstantes Kapital. Dieser Teil wird sowohl für Kapitalgüter wie Maschinen als auch für Rohstoffe ausgegeben. Nun, nach seinem grundlegenden Wertgesetz kann es nur der variable Teil des Kapitals sein, der dem Kapitalisten einen Mehrwert und damit einen Gewinn einbringt.

Das Verhältnis des Mehrwertes zum variablen Kapital wird als Mehrwertrate bezeichnet und ist Ausdruck des Ausbeutungsgrades. Für den kapitalistischen Unternehmer ist jedoch nicht der Grad der Ausbeutung an sich von Interesse, sondern vielmehr die Gesamtprofitrate, die sich wiederum aus dem Verhältnis des Mehrwertes zu den Gesamtinvestitionen ergibt, also der Gesamtsumme aus konstantem und variablem Kapital. Jedes gegebene produktive Unterfangen ist durch eine bestimmte Kombination aus variablem und konstantem Kapital gekennzeichnet, die Marx als die organische Zusammensetzung des Kapitals bezeichnete. Diese organische Zusammensetzung, wie er zugab, unterscheidet sich notwendigerweise sehr stark von einem Wirtschaftssektor zum anderen. Dies bedeutet aber, dass die Profitrate bei einem bestimmten Ausbeutungsgrad von Sektor zu Sektor unterschiedlich ist, je nach organischer Zusammensetzung des Kapitals.

Je höher der Anteil des konstanten Kapitals in einem bestimmten Produktionszweig, desto geringer ist die Profitrate. Wie könnte es dann also jemals zu einer tendenziellen Angleichung der Profitraten in der gesamten Wirtschaft kommen? Gar nicht, es sei denn, man ist bereit, die grundlegende Prämisse aufzugeben, dass sich die Warenpreise aus der sozial notwendigen Arbeitszeit ergeben.

Die Auflösung der marxistischen Theorie

Marx selbst sah das Problem klar und räumte ein: „Es scheint also, daß die Werttheorie hier unvereinbar ist mit der wirklichen Bewegung, unvereinbar mit den tatsächlichen Erscheinungen der Produktion, und daß daher überhaupt darauf verzichtet werden muß, die letzteren zu begreifen“ (Das Kapital, Band 3, Kapitel 3) In seinem Versuch, das Problem zu lösen, muss er also schließlich die Vorstellung aufgeben, dass der Wert und damit die Marktpreise von der Arbeitskraft bestimmt werden. Es kann einfach nicht sein, dass sich die Profitraten ausgleichen, wenn sich die Preise von Waren und Dienstleistungen im Verhältnis zu der bei ihrer Produktion eingesetzten Arbeitskraft bilden. Wie Marx selbst schrieb: „Nehmen wir zuerst an, daß alle Waren in den verschiednen Produktionssphären zu ihren wirklichen Werten verkauft würden. Was wäre dann der Fall? Es würden nach dem früher Entwickelten sehr verschiedne Profitraten in den verschiednen Produktionssphären herrschen“ (Das Kapital, Band 3, Kapitel 10).

Damit sich die Profitraten angleichen können, müssten sich diejenigen Güter, für deren Produktion ein größerer Anteil variablen Kapitals verwendet wird, systematisch unter „Wert“ verkaufen, und jene Güter, für die ein geringerer Anteil variablen Kapitals verwendet wird, systematisch über „Wert“. Aber das ist nichts anderes als ein Eingeständnis, dass die Arbeit nicht die einzige Determinante des Wertes und der Preise ist. Wenn das aber der Fall ist, zerbröckelt die Ausbeutungstheorie der Marxisten. Letztere beruht eben auf der Annahme, dass Arbeit die einzige Wertquelle sei. Deswegen sieht sich Marx selbst im dritten Band seines Hauptwerks gezwungen die im ersten dargelegte Prämisse abzulehnen. Wie Böhm-Bawerk schneidig zusammenfasste:

Ich glaube, bündiger und schärfer ist wohl noch niemals der Anfang eines Systems von seinem Ende Lügen gestraft worden!

Dr. Karl-Friedrich Israel hat Volkswirtschaftslehre, Angewandte Mathematik und Statistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, der ENSAE ParisTech und der Universität Oxford studiert. Er wurde 2017 an der Universität Angers in Frankreich bei Professor Dr. Jörg Guido Hülsmann promoviert. An der Fakultät für Recht und Volkswirtschaftslehre in Angers unterrichtete er von 2016 bis 2018 als Dozent. Seit Herbst 2018 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

Foto: © Tiberius Gracchus

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