BIP-Wachstum ist nicht gleich Wirtschaftswachstum
23. August 2019 – von Frank Shostak
Die meisten Finanzexperten und Kommentatoren stützen sich auf eine Statistik namens Bruttoinlandsprodukt (BIP), um einen Einblick in den Zustand einer Volkswirtschaft zu erhalten. Das Konzept BIP betrachtet den Wert der Endprodukte und Dienstleistungen, die in einem bestimmten Zeitraum, normalerweise einem Vierteljahr oder einem Jahr, hergestellt werden.
Diese Statistik basiert auf der Ansicht, dass eine Volkswirtschaft nicht von der Wohlstandserzeugung vorangetrieben wird sondern vom Konsum. Somit ist für das BIP die Nachfrage nach Endprodukten und Dienstleistungen der entscheidende Faktor. Da die Verbraucherausgaben den größten Teil der Gesamtnachfrage ausmachen, wird allgemein angenommen, dass die Verbrauchernachfrage der Haupttreiber des Wirtschaftswachstums ist.
Aus dieser Sicht kommt es nur auf die Güternachfrage an, die ihrerseits fast unmittelbar zu deren Angebot führt. Da die Warenerzeugung für gegeben gehalten wird, wird in diesem Konstrukt die gesamte Frage nach den verschiedenen Produktionsstufen, die der Entstehung des Endprodukts vorausgehen, ignoriert.
Um aber ein Auto herzustellen, besteht ein Bedarf an Kohle für die Stahlherstellung, der wiederum zur Herstellung einer Reihe von anderen Werkzeugen führt. Diese wiederum werden verwendet, um andere Werkzeuge und Maschinen usw. herzustellen, bis die letzte Stufe der Produktion eines Autos erreicht ist. Das ineinander greifende Zusammenspiel der verschiedenen Produktionsstufen führt zum Endprodukt.
Im BIP-Konzept tritt der Aspekt der Finanzierung der Wirtschaftstätigkeit nie auf. In diesem Konstrukt entstehen Güter aufgrund der Wünsche der Menschen. In der realen Welt reicht es nicht aus, dass es eine Nachfrage nach Waren gibt – es müssen auch die Mittel vorhanden sein, um den Wünschen der Menschen gerecht zu werden. Die Mittel sind verschiedene Endprodukte, die benötigt werden, um die involvierten Individuen in den verschiedenen Produktionsstufen versorgen zu können.
Der Ursprung für den Lebensunterhalt sind die realen Ersparnisse des Einzelnen. Zum Beispiel backt Johannes der Bäcker zehn Brote, verzehrt aber nur zwei Brote. Die acht nicht konsumierten Brote sind echte Ersparnisse. Bäcker Johannes kann die gesparten acht Brote gegen die Dienste eines Technikers eintauschen, um seinen Ofen, d.h. seine Infrastruktur, auszubauen. Mit Hilfe einer verbesserten Infrastruktur kann Johannes mehr Brote herstellen und so das Wirtschaftswachstum steigern. Wichtig ist, dass die acht gesparten Brote das Leben und das Wohlbefinden des Technikers sicherstellen, während dieser daran arbeitet, den Ofen zu verbessern.
Die tatsächlichen Ersparnisse sind also der entscheidende Faktor für das künftige Wirtschaftswachstum. Wenn für einen Ausbau des Wirtschaftswachstums eine bestimmte Infrastruktur erforderlich ist, für eine solche Infrastruktur jedoch nicht genügend echte Ersparnisse vorhanden sind, ist der gewünschte Ausbau des Wirtschaftswachstums nicht möglich.
Im Konstrukt BIP werden Ersparnisse kritisch gesehen, da in dieser Wirkungskette mehr Ersparnisse den Verbrauch und damit den sogenannten keynesianischen Multiplikator schwächen. Das Konstrukt BIP erweckt den Eindruck, dass es nicht die Tätigkeiten von Einzelpersonen sind, die Güter und Dienstleistungen produzieren, sondern etwas anderes außerhalb dieser Tätigkeiten, das als „Wirtschaft“ bezeichnet wird. Die sogenannte „Wirtschaft“ hat jedoch zu keinem Zeitpunkt ein von Individuen unabhängiges Eigenleben. Die sogenannte Wirtschaft ist eine Metapher – sie existiert nicht.
Durch die Addition der Werte der Endprodukte und -dienstleistungen erschaffen die staatlichen Statistiker mit Hilfe der BIP-Statistik die Fiktion einer Wirtschaft. Mit dem BIP kann man jedoch keine Aussage darüber machen, ob Konsumgüter und Dienstleistungen, die in einem bestimmten Zeitraum hergestellt wurden, ein Spiegelbild eines Ausbaus des realen Wohlstands oder von Kapitalverzehr sind.
Wenn beispielsweise eine Regierung den Bau einer Pyramide beauftragt, die nichts zum Wohl des Einzelnen beiträgt, wird dies beim BIP als Faktor angesehen, der zum Wirtschaftswachstum beiträgt. In der Realität wird der Bau der Pyramide jedoch echte Ersparnisse von Handlungen zur Schaffung von Wohlstand abziehen und damit die Produktion von Wohlstand abwürgen.
Wie stehen BIP und Realwirtschaft zueinander in Beziehung?
Bei der Berechnung des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) bestehen gravierende Probleme. Um eine Summe zu berechnen, müssen mehrere Dinge miteinander addiert werden. Um Dinge zusammenzurechnen, müssen sie gleichartig sein. Es ist jedoch nicht möglich, Autos und Hemden mit Kühlschränken zusammenzurechnen, um die Gesamtmenge der Endprodukte zu erhalten. Da die gesamte tatsächliche erbrachte Wirtschaftsleistung nicht aussagekräftig bestimmt werden kann, kann sie offensichtlich auch nicht quantifiziert werden. Um dieses Problem zu lösen, zählen Wirtschaftswissenschaftler ausschließlich die Geldausgaben aller Waren zusammen und teilen sie durch den Durchschnittspreis dieser Waren. Hier besteht jedoch ein ernsthaftes Problem.
Angenommen, zwei Tauschgeschäfte wurden durchgeführt. Beim ersten Tausch wird ein Fernseher für 1.000 US-Dollar getauscht. Bei der zweiten Transaktion wird ein Hemd für 40 US-Dollar getauscht. Der Preis oder der Wechselkurs bei der ersten Transaktion beträgt 1.000 US-Dollar für ein Fernsehgerät. Der Preis in der zweiten Transaktion beträgt 40 US-Dollar für ein Hemd. Um den Durchschnittspreis zu berechnen, müssen wir diese beiden Verhältnisse zusammenrechnen und durch 2 teilen. 1.000 US-Dollar / 1 Fernseher kann jedoch nicht zu 40 US-Dollar / 1 Hemd hinzugefügt werden, was bedeutet, dass es nicht möglich ist, einen Durchschnittspreis zu ermitteln. Dazu schrieb Murray N. Rothbard (1926 – 1995) in Man, Economy, and State:
Jedes Konzept eines durchschnittlichen Preisniveaus beinhaltet daher das Hinzufügen oder Multiplizieren von Mengen völlig unterschiedlicher Wareneinheiten wie Butter, Hüte, Zucker usw. und ist daher komplett unbrauchbar.
Der Einsatz einer Vielzahl ausgeklügelter Methoden zur Berechnung des Durchschnittspreisniveaus kann nicht über das wesentliche Problem hinwegtäuschen, dass es nicht möglich ist, einen Durchschnittspreis für verschiedene Waren und Dienstleistungen zu bestimmen. Dementsprechend sind verschiedene Preisindizes, die von staatlichen Statistikern berechnet werden, einfach willkürliche Zahlen. Wenn Preisdeflatoren bedeutungslos sind, gilt dies auch für die reale BIP-Statistik.
Selbst die staatlich beauftragten Statistiker geben zu, dass das Ganze nicht funktioniert. Laut J. Steven Landefeld und Robert P. Parker vom Bureau of Economic Analysis [Amt für Wirtschaftsanalysen; Anm.d.Ü.]:
Insbesondere ist es wichtig zu verstehen, dass das reale BIP ein analytisches Konzept ist. Entgegen seinem Namen ist das reale BIP nicht „real“ in dem Sinne, dass es grundsätzlich nicht direkt beobachtet oder erhoben werden kann. Im gleiche Sinne wie das laufende BIP (in Dollar notiert) im Prinzip nicht als Summe der tatsächlichen Ausgaben für Konsumgüter und Dienstleistungen in einer Wirtschaft beobachtet oder erhoben werden kann. Es lassen sich zwar sowohl Äpfeln und Orangen sammeln, aber ihre Menge kann nicht addiert werden, um die Gesamtmenge der in der Wirtschaft produzierten „Früchte“ zu erhalten.[1]
Da es nicht möglich ist, die Gesamtheit der realen Güter und Dienstleistungen quantitativ zu bestimmen, sollten verschiedene Daten wie das reale BIP, das staatliche Statistiker berechnen, offensichtlich nicht zu ernst genommen werden.
Die ganze Idee des BIP erweckt den Eindruck, dass es so etwas wie eine nationale Gesamtwirtschaftsleistung gibt. In einer Marktwirtschaft wird Wohlstand jedoch von Einzelpersonen erzeugt und gehört nur ihnen alleine.
Waren und Dienstleistungen werden nicht gemeinschaftlich erzeugt und von einem obersten Führer überwacht. Das bedeutet wiederum, dass das gesamte Konzept des BIP in Bezug auf die Marktwirtschaft realitätsfern ist. Es ist ein leeres Konzept. In Human Action beschreibt Ludwig von Mises (1881-1973) die ganze Vorstellung, dass man den Wert der Erzeugnisse eines Landes oder das sogenannte Bruttoinlandsprodukt (BIP) bestimmen kann, als weit hergeholt:
Der Versuch, mit Geld den Reichtum einer Nation oder der gesamten Menschheit zu bestimmen, ist so kindisch wie die mystischen Bemühungen, die Rätsel des Universums zu lösen, indem man sich um die Dimension der Cheopspyramide sorgt.
Und weiter:
Wenn in einer geschäftlichen Kalkulation ein Kartoffelvorrat mit 100 US-Dollar veranschlagt wird, ist die Idee, dass es möglich ist, ihn zu diesem Betrag zu verkaufen oder zu ersetzen. Wenn eine ganze unternehmerische Anlage auf 1.000.000 US-Dollar geschätzt wird, bedeutet dies, dass man damit rechnet, sie für diesen Betrag zu verkaufen. Der Geschäftsmann kann sein Eigentum in Geld umwandeln, eine Nation jedoch nicht.
Was ist also von den regelmäßigen Verlautbarungen zu halten, wonach die Wirtschaft, wie sie durch das reale BIP dargestellt wird, um einen bestimmten Prozentsatz gewachsen ist? Das einzige was sich sagen lässt, ist, dass dieser Prozentsatz nichts mit realem Wirtschaftswachstum zu tun hat und höchstwahrscheinlich das Tempo der Geldmengenausweitung widerspiegelt. Da das BIP in US-Dollar ausgedrückt wird, ist es offensichtlich, dass seine Schwankungen durch die Schwankungen der in die Wirtschaft gepumpten US-Dollar bestimmt werden. Daraus lässt sich auch schließen, dass eine starke reale BIP-Wachstumsrate höchstwahrscheinlich eine Abschwächung bei der Bildung des realen Wohlstands darstellt.
Sobald sich herausstellt, dass das so genannte reale Wirtschaftswachstum, wie es sich aus dem realen BIP ergibt, Schwankungen der Geldmengenwachstumsrate widerspiegelt, wird deutlich, dass ein Wirtschaftsboom nichts mit realer wirtschaftlicher Expansion zu tun hat.
Im Gegenteil, bei einem solchen Boom entsteht ein realer wirtschaftlicher Rückgang, da es vom Vorrat für realen Reichtum – dem Grundpfeiler für echtes Wirtschaftswachstum – zehrt. (Ein Wirtschaftsboom wird durch die Ausweitung der Geldmengenwachstumsrate ausgelöst, die zu verschiedenen Blasenentwicklungen führt, die den Prozess der Vermögensbildung untergraben.)
Es ist also kein Wunder, dass die Zentralbank im BIP-Konzept ein reales Wirtschaftswachstum erzeugen kann, und die meisten Ökonomen, die diesem Konzept sklavisch anhängen, glauben, dass dies so ist. Vieles von der sogenannten Wirtschaftsforschung liefert „wissenschaftliche Unterstützung“ für die populäre Ansicht, dass die Zentralbank durch Geld-in-den-Markt-pumpen die Wirtschaft wachsen lassen kann. Bei all diesen Studien wird übersehen, dass keine andere Schlussfolgerung möglich ist, wenn man einmal feststellt, dass das BIP eng mit der Geldmenge zusammenhängt.
Was ist der Zweck von Wirtschaftsdaten?
Man ist versucht zu fragen, warum es überhaupt notwendig ist, das Wachstum der sogenannten „Wirtschaft“ zu kennen. Welchem Zweck kann diese Art von Information dienen? In einer freien, staatlich nicht beschnittenen Wirtschaft wären diese Informationen für Unternehmer von geringem Nutzen. Der einzige Indikator, auf den sich ein Unternehmer verlassen würde, ist sein Gewinn und Verlust. Wie kann die Information, dass die sogenannte „Wirtschaft“ in einem bestimmten Zeitraum um 4 Prozent gewachsen ist, einem Unternehmer helfen, Gewinnen zu erzielen?
Was ein Unternehmer benötigt, sind keine allgemeinen, sondern spezifische Informationen über die Nachfrage nach seinem oder seinen Produkten. Der Unternehmer muss selbst ein eigenes Informationsnetz für sein unternehmerisches Vorhaben aufbauen.
Ganz anders verhält es sich jedoch, wenn die Regierung und die Zentralbank in den Wirtschaftsablauf eingreifen. Unter diesen Umständen kann kein Geschäftsmann die BIP-Statistik ignorieren, da die Regierung und die Zentralbank fiskal- und geldpolitisch auf diese Statistik reagieren.
Die gesamte Armee von Ökonomen ist damit beschäftigt zu erraten, ob die Zentralbank die Zinssätze senken oder erhöhen wird.
Regierungs- und Zentralbankbeamte erwecken durch das Konzept BIP den Eindruck, als könnten sie die Wirtschaft steuern. Nach diesem Mythos wird erwartet, dass die „Wirtschaft“ einem Wachstumspfad folgt, der von allwissenden Beamten skizziert wird. Wenn also die Wachstumsrate unter den angegebenen Wachstumskurs fällt, wird von den Beamten erwartet, dass sie der „Wirtschaft“ einen geeigneten Schub geben. Wenn umgekehrt die „Wirtschaft“ zu schnell wächst, wird von den Beamten erwartet, dass sie einschreiten, um die Wachstumsrate der „Wirtschaft“ abzusenken.
Wenn die Wirkung dieser Maßnahmen nur auf die BIP-Statistik beschränkt wäre, wäre die gesamte Maßnahme harmlos. Diese Politik greift jedoch in die Handlungen von Menschen, die echten Wohlstand erzeugen, und untergräbt damit das Wohlergehen aller Menschen.
Ebenso trägt die amerikanische Zentralbank durch Gelderzeugung und Zinsmanipulation nicht dazu bei, mehr Wohlstand zu schaffen, sondern setzt ein „stärkeres BIP“ und die daraus resultierende Bedrohung des Boom-Bust-Zyklus in Gang, d.h. die wirtschaftliche Verarmung.
[1] J. Steven Landefeld und Robert P. Parker. Preview of the Comprehensive Revision of the National Income and Product Accounts: BEA’s New Featured Measures of Output and Prices in BEA Survey of current business July 1995.
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Aus dem Englischen übersetzt von Arno Stöcker. Der Originalbeitrag mit dem Titel GDP Growth Isn’t the Same Thing as Economic Growth ist am 12.8.2019 auf der website des Mises-Institute, Auburn, US Alabama erschienen.
Frank Shostak ist Adjunct Scholar am Mises-Institute, Auburn, veröffentlicht regelmäßig Beiträge auf mises.org und ist Inhaber von Applied Austrian School Economics Ltd.
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