Die Wissenschaft und das Leben

18.1.2017 – von Ludwig von Mises.

Ludwig von Mises (1881 – 1973)

Man hat die Wissenschaft vom menschlichen Handeln ob ihrer Wertfreiheit getadelt. Das Leben, meint man, brauche Antwort auf die Frage, was zu tun sei. Wenn die Wissenschaft diese Frage nicht beantworten wolle oder könne, sei sie unfruchtbar und nutzlos. Doch der Einwand ist unhaltbar. Die Wissenschaft beantwortet alle Fragen, die das Leben stellt; sie schweigt nur, wenn die Frage aufgeworfen wird, ob das Leben wert ist, gelebt zu werden.

Auch diese Frage ist aufgeworfen worden und wird immer von Neuem aufgeworfen. Seit Menschen denken und handeln, haben sie auch immer wieder die Frage gestellt: Was soll das alles? Wozu? Was ist der Sinn dieses Treibens und Schaffens, wenn am Ende doch für jeden unentrinnbar der Tod, die Auflösung in Nichts steht? Ist nicht alles eitel und vergebens? Kein Mensch, und sei er noch so erfüllt von der Lust zu wirken und das Leben zu genießen, entgeht den Stunden des Unmuts, in denen der Gedanke an die Vergänglichkeit seines Daseins ihn an dem Wert seines Schaffens zweifeln macht, und jeder Mensch, der lange genug gelebt hat, ermattet endlich und ersehnt den Tod als Bringer von Ruhe und Frieden. Alles menschliche Handeln wird vom Tode beschattet. Alles Leben schreitet dem Tode entgegen. Der Mensch baut, doch er muss die Bauten, die er aufgerichtet hat, verlassen; jeder Augenblick kann sein letzter werden. Vor jedem liegt eine unbekannte Zukunft, von der nur eines sicher ist, dass sie nämlich früher oder später, doch jedenfalls unvermeidlich in das Nichts führt.

Und dieses menschliche Handeln selbst, ist es nicht eitel? Nie kann es uns zu voller Befriedigung führen, nie kann es uns mehr bieten als einen kurzen Augenblick teilweiser Genugtuung. Hinter jedem gestillten Begehren tauchen neue Bedürfnisse auf, die nach Befriedigung verlangen. Die Kultur, meint man, mache uns ärmer, indem sie unsere Wünsche vervielfacht und Begehren entzündet, nicht beruhigt. Das geschäftige Getriebe der arbeitenden und schaffenden Menschen, ihr Hasten, Drängen und Jagen sei sinnlos, denn es könne weder Glück noch Frieden bringen. Nicht durch Handeln und Wirken könne man zur inneren Befriedigung und Befriedung gelangen, sondern allein durch Verzicht und Entsagung. Der Weise müsse erkennen, dass es für die Armseligkeit des Menschen kein würdigeres Verhalten geben könne als die Flucht in die Beschaulichkeit eines nur leidenden Daseins.

Doch über alle solche Gedanken und Anwandlungen schreitet das Leben siegreich hinweg. Zu Leben und dann zu Sterben ist nun einmal unsere Natur. Doch zunächst leben wir, und das Leben, nicht der Tod zwingt uns heute in seinen Bann. Mag auch später kommen, was will, wir können uns hier und heute dem Leben und seinen Forderungen nicht entziehen; wir müssen, solange wir leben, dem Drange folgen, der uns treibt. Es ist uns eingeboren, dass wir nicht leiden wollen, dass wir unbefriedigt sind und nach Behebung des Unbefriedigtsein streben, dass wir das Glück suchen. In jedem Menschen wirkt ein geheimnisvolles, nicht weiter analysierbares Es, das ihn im Leben leitet und das Wesen des Lebendigen ausmacht. Ob wir dieses Es den Willen oder den Urtrieb nennen, tut nichts zur Sache. Es ist der Trieb der Triebe, der das Lebendige ins Leben und zum Leben treibt, der Glückseligkeitstrieb. Man kann ihn aus dem Leben nicht entfernen und vom Leben nicht trennen; er erlischt, wenn das Leben endet, doch nicht früher.

Im Dienste des Lebenstriebes steht auch die menschliche Vernunft. Das Leben zu fördern und zu erhalten, den Untergang des Lebens so weit es geht hinauszuschieben, ist ihre biologische Funktion. Denken und Handeln sind nicht wider die Natur, sie sind vielmehr die Natur des Menschen. Es ist das Geschick des Menschen, unbefriedigt zu sein und nach Befriedigung zu streben.

Kein Mensch will leiden. Leidfrei zu werden, zumindest Leid soweit zu bekämpfen, als es die Verhältnisse gestatten, ist ein Ziel, das sich jedermann setzt, weil es die menschliche Natur so will. Und diese unsere menschliche Natur findet in der menschlichen Vernunft ihren Kräftemittelpunkt. Vernunft im Kampfe gegen die Unbill des Daseins, das ist der Mensch.

Darum ist alles, was über den Vorrang irrationaler Elemente gesagt wird, leeres Gerede. In dem Kosmos, den unsere Vernunft nicht fassen kann, und den wir deswegen irrational zu nennen pflegen, lässt die Vernunft dem Menschen einen Spielraum, in dem er sein Unbefriedigtsein ein wenig zu mindern vermag. Das ist das Handeln des Menschen. Man mag vielleicht im Recht sein, wenn man davon spricht, dass dem Menschen eine Sehnsucht nach der Ruhe und Selbstbescheidung innewohnt, die wir im Dasein der Pflanze zu finden glauben. Wir können es nicht wissen, denn wir vermögen uns in das Innere der Pflanzen nicht hineinzudenken. Doch der Mensch kann den Willen zum Handeln in sich nicht auslöschen, um Pflanze zu werden. Wenn er «des Treibens müde» wird, wenn er aufhört zu handeln, wird er nicht Pflanze. Er stirbt.

Es ist das Menschlichste am Menschen, dass ihn die Sehnsucht erfüllt, sich über das bloß Zoologische seiner Natur und seiner animalischen Triebe empor zu erheben. Millionen und Hunderte von Millionen Menschen suchen das Glück freilich nur im Materiellen und kennen keine anderen Genüsse als die, die durch äußere Mittel beschafft werden können. Den wahren Menschen befriedigt der äußere Wohlstand nicht; er strebt nach mehr und nach Anderem. Er will über das hinaus, was wir mit allem Getier gemein haben, ein Höheres, ein wahrhaft Menschliches finden.

Es war und ist ein tragisches Verhängnis, dass man dieses echt menschliche Streben nach Zielen, die über das Wohlbefinden des Leibes hinausgehen, in einem Widerstreit zum Streben nach Befriedigung der animalischen Triebe sehen wollte. Der, dem gutes Essen, Trinken, Wohnen und dergleichen nicht das Um und Auf der Wunscherfüllung bedeutet, begann das Materielle zu verachten und zu hassen. Man will in der Bereicherung des äußeren Lebens ein Hindernis für die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit erblicken, und man will die Gesellschaftsordnung stürzen, um den Weg für ein Neues freizulegen, von dem man nur unklare und unzureichende Vorstellungen hat. Man spürt ein Unbehagen, das man durch Zertrümmerung der materiellen Kultur beheben will. Man verkennt dabei, dass dieses Sehnen nach Höherem und Besseren nur auftreten konnte, weil der Wohlstand die Muße gewährt, die es dem Geist gestattet, sich ihm hinzugeben. Das Materielle hindert nicht das Streben nach Ideellem; es schafft vielmehr die Bedingungen, unter denen dieses sich entfalten kann. Noch schwerer wiegt ein zweiter Irrtum. Man will die Menschen zwingen, ihre Zielsetzungen zu ändern, man will – welch ein Widerspruch – ihnen durch Organisation, d.i. durch Zwang, freiere Ausbildung der Persönlichkeit gewissermaßen aufdrängen. Man will sie gegen ihren Willen beglücken.

Wer sein Leben dem Ideal eines höheren Menschentums gemäß einrichten will, hat seine Ziele entsprechend zu wählen. Nichts hindert in der Marktgesellschaft den Einzelnen, sein Streben weniger auf das, was den Sinnen behagt, und mehr auf das, was das Gemüt erhebt, zu richten. Niemand darf die Gesellschaftsordnung dafür verantwortlich machen, dass er dem Animalischen seiner Natur mehr Recht einräumt als dem Menschlichen.

Es ist ein Wahn, zu glauben, dass man das, was man Materialismus nennt, anders überwinden könnte als dadurch, dass die Menschen lernen, ihre Ziele weniger materialistisch zu wählen.

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Entnommen aus Ludwig von Mises, „Nationalökonomie. Theorie des Handels und Wirtschaftens“, 1940, Editions Union Genf, Schlusswort S. 740-743.

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Ludwig von Mises, geb. 1881 in Lemberg, war der wohl bedeutendste Ökonom und Sozialphilosoph des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer hat er die (wissenschafts)theoretische Begründung für das System der freien Märkte, die auf unbedingter Achtung des Privateigentums aufgebaut sind, und gegen jede Form staatlicher Einmischung in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben geliefert. Seine Werke sind Meilensteine der Politischen Ökonomie. Das 1922 erschienene “Die Gemeinwirtschaft” gilt als erster wissenschaftlicher und umfassender Beweis für die “Unmöglichkeit des Sozialismus”. Sein Werk “Human Action” (1949) hat bei amerikanischen Libertarians den Rang einer akademischen “Bibel”. Mises war Hochschullehrer an der Wiener Universität und Direktor der Österreichischen Handelskammer. Ab 1934 lehrte er am Institut des Hautes Etudes in Genf. 1940 Übersiedlung nach New York, wo er nach weiteren Jahrzehnten der Lehr- und Gelehrtentätigkeit 1973 im Alter von 92 Jahren starb.

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