Nur der einzelne handelt, nicht das Kollektiv
29.12.2014 – von Ludwig von Mises.
Der Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Betrachtung des menschlichen Handelns: das Handeln des Einzelnen
Unsere Untersuchungen setzen beim einzelnen Menschen und seinem Verhalten in einer bestimmten Lage ein. Unsere Wissenschaft befasst sich zunächst mit dem Einzelnen und seinem Handeln, und wenn sie dann, von diesem Ausgangspunkte weiterschreitend, dazu gelangt, alles Geschehen, an dem menschliches Handeln beteiligt ist, in ihr Begriffsgebäude einzubeziehen, so gibt sie doch die Bezugnahme auf das Handeln des Einzelnen niemals auf und bleibt sich auch in der Lehre von den gesellschaftlichen Gebilden der Grundlage ihrer Erkenntnisse, d.i. Begreifen des Handelns einzelner Menschen, bewusst. Das ist es, was man als ihren Nominalismus und Individualismus getadelt hat, und dem man die kollektivistische Methode, die man auch als Universalismus bezeichnet, entgegenstellen wollte.
Es wäre nun leicht, den Einwendungen, die von dieser Seite kommen, dadurch zu begegnen, dass man die Ergebnisse der ob ihres Individualismus getadelten Wissenschaft mit dem vergleicht, was man als Ergebnis der universalistisch verfahrenden Forschung vorzuweisen pflegt. Es wäre nicht minder leicht zu zeigen, dass die Kritik, die Universalismus und Kollektivismus am Verfahren der Wissenschaft vom menschlichen Handeln üben, auf groben Missverständnissen und Irrtümern beruht, und dass ihr eigenes Lehrgebäude nichts anderes darstellt als eine notdürftige und wenig geschickte Tarnung politischer Postulate, die mit willkürlichen Annahmen und mit argen Trugschlüssen arbeitet. Nichts wäre einfacher, als sich auf diesem Wege einen billigen Triumph zu verschaffen und sich dabei über die Unanfechtbarkeit und apodiktische Gewissheit der Grundlagen unseres Vorgehens zu beruhigen.
Doch wir dürfen und wollen uns nicht damit begnügen, unzulängliche Kritik unzulänglicher Kritiker zurückzuweisen. Wir müssen, ohne Rücksicht auf die Schwäche der vom Universalismus, Kollektivismus und Begriffsrealismus vorgebrachten Einwendungen, unsererseits selbst die Frage aufwerfen, ob der Punkt, von dem wir unsere Untersuchungen den Ausgang nehmen lassen, zum Ausgangspunkt überhaupt geeignet ist, und ob nicht ein anderer, besser entsprechender Ausgangspunkt gefunden werden könnte. Wir müssen prüfen, welche Voraussetzungen die Wahl dieses Ausgangspunktes bedingen und zu welchen Folgen sie führt. Wir müssen feststellen, ob wir tatsächlich auch immer so vorgehen, dass unsere Untersuchung in jedem Teile mit diesem Ausgangspunkt in Verbindung bleibt und alles das im Auge behält, wozu sie ihre Grundsätze verpflichten. Wir müssen die Problematik dessen, was man an unserem Verfahren als den methodologischen Individualismus bezeichnet, einsehen und uns mit ihr radikal auseinandersetzen.
Es fällt uns nicht ein, zu bestreiten, dass es gesellschaftliche Gebilde – eben die Kollektiva, die Gesamtheiten und Ganzheiten, von denen Universalismus, Kollektivismus und Begriffsrealismus sprechen – gibt; wir betrachten es vielmehr als eine unserer vornehmsten Aufgaben, zu deren Erkenntnis zu gelangen. Was wir bestreiten, ist nur das, dass wir unseren Ausgangspunkt von intuitiver Schau solcher Ganzheit nehmen dürfen.
Der Streit, ob dem Ganzen oder den Teilen geschichtlich, logisch oder in irgend einer andern Hinsicht der Vorrang zukommt, ist freilich müßig. Er ist müßig als Aufgabe reiner Logik, weil Ganzes und Teile korrelative Begriffe sind, die logisch gleichen Rang haben. Er ist aber auch müßig als Problem der Wissenschaft vom menschlichen Handeln, weil gesellschaftliche Kollektivgebilde nur in Menschen und in menschlichem Handeln erscheinen und wirken. Dass es Kollektivgebilde, Gesamtheiten und Ganzheiten gibt, können wir nur im menschlichen Handeln erkennen. Wir müssen den Einzelnen und sein Handeln betrachten, um das Kollektivgebilde zu erkennen. Kein Kollektivgebilde ist und lebt außerhalb des Handelns einzelner Menschen. Um den Kollektivisten entgegenzukommen, wollen wir es zunächst dahingestellt sein lassen, ob es überhaupt ein Handeln Einzelner gibt, das außerhalb eines Kollektivgebildes gedacht werden kann. Doch unbestreitbar ist, dass alle Kollektivgebilde im Handeln Einzelner erscheinen müssen und dass die Kollektiva im Einzelnen leben und wirken, dass sie von den Einzelnen gelebt werden und dass ein anderes Sein als das in den Einzelnen ihnen nicht zugeschrieben werden kann. Wenn wir die Glieder betrachten, müssen wir auch ihre Gliedhaftigkeit entdecken und damit auch das Ganze, in dem sie als Glieder stehen und dienen. Nur über die Betrachtung des Einzelnen führt unser Weg zur Erkenntnis der Gesamtheit. Ob es möglich ist, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen, wie es die alte Redensart will, mag man bezweifeln; doch sicher ist, dass wer keine Bäume sieht, auch keinen Wald erblicken kann.
Dass es Völker, Staaten und Kirchen gibt, erkennen wir am Handeln Einzelner. Niemand hat noch ein Volk erkannt, der nicht zuerst Volksgenossen erkannt hat. Dass es Staaten gibt, erkennen wir im Handeln der Einzelnen, das aus dem Staatsgedanken seinen Antrieb empfängt. Wenn wir sagen, das gesellschaftliche Gebilde entsteht aus dem Handeln Einzelner, so bedeutet das keine Stellungnahme zu den Fragen, ob der Einzelne vor oder nach der Gesamtheit ist und ob die Gesamtheit die Summe der Einzelnen oder ein Gebilde sui generis ist. Wir wollen damit nur einfach sagen, dass gesellschaftliche Gebilde in den Einzelnen zum Ausdruck kommen und nur in den Einzelnen sein und wirken können.
Endlich müssen wir bedenken, dass der Einzelne verschiedenen Kollektivgebilden angehören kann und auch – abgesehen von den Hordenmenschen auf niedrigster Kulturstufe verharrender Völkerschaften – in der Regel angehört. Wir können die Probleme, die das Nebeneinander, Miteinander, Gegeneinander und Durcheinander der gesellschaftlichen Gebilde stellt, nie erfassen, wenn wir von den Gebilden ausgehen und nicht von den Einzelnen, in denen die Gebilde leben.
Man hüte sich davor, von anschaulicher Erfassung der Gestalt gesellschaftlicher Gebilde zu sprechen. Sie sind nie konkret wahrnehmbar, sie werden von uns im Denken erfasst, indem wir menschliches Handeln denkend in Bezug setzen zum Handeln anderer Menschen. Die Anschauung mag uns zeigen, dass viele Menschen – ein Haufen, eine Menge im arithmetischen Sinne – beisammen sind; dass sie als soziologische Masse oder als organischer Verband oder sonst als gesellschaftliche Gesamtheit handeln, sagt uns erst das Denken, das ihr Handeln erfasst. Und dieses Handeln ist immer ein Handeln Einzelner. Nicht Anschauung, sondern Überlegung führt uns zur Erkenntnis der gesellschaftlichen Gebilde, und diese Überlegung muss von dem ausgehen, was uns im Handeln Einzelner unmittelbar entgegentritt.
Ludwig von Mises (1940), Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens, Erster Teil, Das Handeln, S. 31 – 34.
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Ludwig von Mises, geb. 1881 in Lemberg, war der wohl bedeutendste Ökonom und Sozialphilosoph des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer hat er die (wissenschafts)theoretische Begründung für das System der freien Märkte, die auf unbedingter Achtung des Privateigentums aufgebaut sind, und gegen jede Form staatlicher Einmischung in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben geliefert. Seine Werke sind Meilensteine der Politischen Ökonomie. Das 1922 erschienene “Die Gemeinwirtschaft” gilt als erster wissenschaftlicher und umfassender Beweis für die “Unmöglichkeit des Sozialismus”. Sein Werk “Human Action” (1949) hat bei amerikanischen Libertarians den Rang einer akademischen “Bibel”. Mises war Hochschullehrer an der Wiener Universität und Direktor der Österreichischen Handelskammer. Ab 1934 lehrte er am Institut des Hautes Etudes in Genf. 1940 Übersiedlung nach New York, wo er nach weiteren Jahrzehnten der Lehr- und Gelehrtentätigkeit 1973 im Alter von 92 Jahren starb.