Wer Mises liest, dem klingeln fortwährend die Ohren

14.11.2014 – Was bedeutet klassischer Liberalismus?

von Helmut Krebs.

Helmut Krebs

Der klassische Liberalismus entstand als eine politische und ideologische Strömung in England als ein Zweig der Aufklärung. Diese wiederum entwickelte sich aus dem neuzeitlichen Rationalismus (Galilei, Descartes, Erasmus) nach den Glaubenskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts. Angesichts der menschlichen, materiellen und geistigen Verheerungen der religiös motivierten Kriege, die das Europa nördlich der Alpen einschließlich der britischen Inseln in einen Zustand der Barbarei zurückgestoßen hatten – etwa ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland war umgekommen –, entwickelten die Philosophen eine Argumentation, die sich gegen die absolute politische Macht der Könige und die absolute geistige Macht der Kirche stellte.

Es ging nur vordergründig um die Frage, wer über die Religionszugehörigkeit der Bevölkerung zu entscheiden habe – der Herrscher für seine Untertanen oder jedes Individuum für sich. Die Bekenntnisfrage  war der Zündstein, aber die Beantwortung erforderte nichts weniger als eine Revolution der Denkweise. Und dafür war die Zeit reif. Angesichts der Folgen des religiösen Zwists war die Bereitschaft, über Glaubensfragen noch einmal nachzudenken, in breitem Maße vorhanden. Nachdem es der katholischen Kirche nicht gelungen war, die protestantischen Konfessionen zu beseitigen, stellte sich die Aufgabe, wie Katholiken, Lutheraner und Puritaner (Calvinisten) miteinander leben konnten, ohne sich gegenseitig umzubringen.

Die Aufklärer entwickelten aus dieser Aufgabenstellung eine Philosophie, die folgende Prinzipien verfocht:

(a) Meinungen und Glaubensüberzeugungen sind keine tragenden Gründe für die Prinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die geistigen Fundamente müssen rational sein, das heißt, die Ideologien müssen in sich logisch zusammenhängend sein und auf Grundannahmen gebaut sein, die offensichtlich wahr sind. Nur solche Positionen können von allen akzeptiert werden.

(b) Die Erhaltung der Zivilisation ist nur im Frieden möglich. Das Friedensprinzip ist das vorrangige  Kriterium für politische Entscheidungen.

(c) Die Politik der Herrscher legitimiert sich durch ihre positiven Auswirkungen auf das Gemeinwohl.

Sie zwangen mit diesen Postulaten die Theologen – die meisten Aufklärer waren selbst theologisch ausgebildet – dazu, Begründungen nicht allein aus den überlieferten Ansichten der Autoritäten und der kanonischen Schriften zu ziehen, sondern sie argumentativ schlüssig herzuleiten. Welches aber ist die Instanz, die über wahr und falsch entscheidet? Die Aufklärung sagt: Der menschliche Verstand, über den jeder Mensch verfügt. „Bediene dich deines eigenen Verstandes!“, fordert Kant.

Aus der Aufklärung entstand der Liberalismus als eine konsequente Fortsetzung durch die Untersuchung der Frage, welche gesellschaftlichen Verhältnisse am besten geeignet sind, Frieden und Wohlstand zu sichern. Dabei wurden zwei weitere Postulate ins Spiel gebracht, die mit dem der Rationalität zusammengingen:

(a) Die Annahme, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse um so besser sind, desto mehr sich die Menschen  den moralischen Geboten des guten Handelns unterwerfen, ist falsch. Wenn die Menschen nach ihrer Natur sich eigennützig verhalten, dann wirtschaften sie in einer Weise, dass ein allgemeiner Wohlstand entsteht. Wie von einer „unsichtbaren Hand“ gelenkt, fügt sich alles harmonisch zum Besseren, wenn ein jeder darauf aus ist, seinen eigenen Wohlstand zu mehren.

(b) Damit dies gelingt, muss eine Voraussetzung gegeben sein: Es muss ein rechtlicher Zustand herrschen, d.h. die Gewalt des Rechts muss an die Stelle des Rechts auf Gewalt treten. Recht besteht in zweierlei: in der Respektierung der Freiheit des Menschen und in der Respektierung seines Eigentums.

Freiheit des Menschen bedeutet das Recht zu leben, sich die lebensnotwendigen Dinge anzueignen und zu produzieren, wozu auch Grund und Boden gehört. Es bedeutet nach eigenem Willen handeln zu können, ohne sich dem Willen eines Diktators unterwerfen zu müssen. Es bedeutet, selbst denken zu können und zwischen wahr und falsch, gut und böse zu unterscheiden, seine Gedanken auszusprechen, sich zu informieren und mit anderen zu vereinigen. Es bedeutet geschützt zu sein vor Gewalt von seiten der anderen Menschen und dem Staat. Es bedeutet seinen Wohnsitz und auch sein Land frei wählen zu können.

Respektierung des Eigentums bedeutet, dass der Einzelne die volle Entscheidungshoheit über seine Güter hat, dass er freiwillige Tauschverträge mit anderen eingehen kann, dass die Eigentumsübertragungen aus solchen Tauschhandlungen verbindlich und gültig sind, dass er verschenken und vererben kann, wie ihm beliebt und dass er die Früchte seiner Arbeit uneingeschränkt genießen kann. Dies sind die rechtlichen Grundlagen einer bürgerlichen Gesellschaft.

Aufklärung und Liberalismus fochten einen Machtkampf mit den herrschenden politischen und geistigen Mächten, gegen Adel und Klerus. Dies zog sich etwa zweihundert Jahre hin. Die Einrichtung einer konstitutionellen Monarchie in England nach der Glorious Revolution 1688/89, der siegreiche Unabhängigkeitskrieg der amerikanischen Kolonien mit der Unabhängigkeitserklärung 1776, der Sturz der absolutistischen Monarchie in Frankreich und die Erklärung der Menschenrechte 1789 waren die drei Ereignisse, die die Macht des Absolutismus erschütterten. Mit dem Erfolg des Liberalismus einher ging der Aufstieg der freien Marktwirtschaft, gemeinhin Industrielle Revolution genannt, die die Grundlage noch des heutigen Wohlstands der westlichen Länder bildet.  Mitte des 19. Jahrhunderts war der glänzende Sieg von Aufklärung und Liberalismus besiegelt.

Warum beschäftige ich mich mit diesen lange vergangenen Fragen? Warum sollen wir uns heute mit „Klassischem Liberalismus“ befassen. Darum: Die Mitte des 19. Jahrhunderts war nicht nur der Kulminationspunkt der Freiheitsbewegung (nichts anderes bedeutet Liberalismus), es war auch der Wendepunkt zu einem Rollback des absolutistischen Staates. Der Aufstieg des Sozialismus begann (Kommunistisches Manifest 1848) und leitete eine hundertjährige Epoche seiner Hegemonie ein. Bis zum Sturz der nationalsozialistischen und faschistischen Diktaturen 1945 und bis zur Implosion des roten Sozialismus 1989 stand die öffentliche Meinung unter der ideologischen Hegemonie des Sozialismus. Als sich 1938 in Paris die verbliebenen Intellektuellen des Liberalismus versammelten (Colloque Lipmann), kamen gerade einmal sechsundzwanzig Teilnehmer zusammen, von denen noch ein großer Teil nicht wirklich liberal waren. Hundert Jahre nach seinem Triumph war die Bewegung des Liberalismus vernichtend geschlagen worden.

Schon Ende des 19. Jahrhunderts mischten sich in die freiheitlichen Denkweisen führender Philosophen des Liberalismus sozialistische Ideen. John Stuart Mills letztes Wort war, er sei Sozialist. Liberale Parteiführer sprachen von einem „liberalen Sozialismus“ (Lord Beveridge). Es entstand aus der liberalen Bewegung eine neue, die sich als Erbe und Überwinder des Liberalismus verstand, und versuchte, einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu definieren (John Maynard Keynes). Der Neoliberalismus nahm diese Strömungen in sich auf. Die aus dem nazistischen Europa geflohenen liberalen Gelehrten befruchteten in den Vereinigten Staaten den Diskurs. Es entstand die libertäre Bewegung, die sich mit streng konservativen Auffassungen verband. Zwar konnte in Deutschland nach 1948 unter dem Etikett der „sozialen Marktwirtschaft“ eine entscheidende Schwächung der sozialistischen Verhältnisse durchgesetzt werden. Erhards Deregulierungen waren die Grundlage für das deutsche Wirtschaftswunder, von der wir noch heute zehren. Auch in den USA und Großbritannien wurden Befreiungsschläge durch die Regierungen Reagan und Thatcher unternommen, die aber nur temporäre oder Teilerfolge einbrachten. Die Tendenz der Entwicklung in den westlichen Ländern folgt im Großen und Ganzen dem Paradigma des dritten Weges, eines Semi-Sozialismus, der aber die Neigung hat, sich langsam aber unaufhaltsam zum Sozialismus zu wandeln.

Die angedeutete Entwicklung zu immer stärker ausgeprägten sozialistischen Verhältnissen ruft Widerspruch hervor. Die Unterstützung des politischen Mainstreams durch die öffentlichen Meinung erodiert. Auch die liberale Bewegung beginnt Anfang des 21. Jahrhunderts wieder lebendiger und attraktiver zu werden. Aber die Anfänge sind noch zart, und ihre geistigen Grundlagen heterogen. Typisch für junge Bewegungen sind die divergierenden Lager, die Zerklüftungen, die Durchmischung verschiedener, inkompatibler Ideologien.

In dieser Zeit der Gährung scheint es zweckmäßig zu sein, sich auf die Grundgedanken und Ursprünge des Liberalismus zu besinnen. Meine Studie hat sich zum Ziel gesetzt, die klassisch-liberalen Wurzeln frei zu legen. Das Erbe einer zweihundertjährigen Auseinandersetzung ist ja nur verschüttet, nicht vergangen. Es ist nicht nötig, von vorne zu beginnen. Heute, wo sich die Konzepte des Neoliberalismus zunehmend als undurchführbar bzw. als kontraproduktiv erweisen, weil sie zu einer neuen absolutistischen Machtballung im Staat führen, ist es hilfreich, an den Punkt zurückzukehren, wo der Neoliberalismus sich von der Traditionslinie des klassischen Liberalismus abgezweigt hat. Und das lässt sich festmachen am Werk Ludwig von Mises, des letzten Vertreters einer konsequent individualistischen, anti-etatistischen Auffassung. Im Zentrum des Interesses der Debatten steht der Staat. Auf ihn läuft alles hinaus. Alle Reformen führen zu einer Stärkung seiner wirtschaftlichen Kompetenz und Anmaßung. In dieser Frage müssen sich die Richtungen entscheiden.

Die Studie setzt ein bei David Hume. Er setzte einen ersten Schlusspunkt unter die Debatten der vergangenen Jahrhunderte, indem er eine schlüssige und haltbare Staatstheorie entwickelt. Sie geht dann zurück auf seinen wichtigsten Vorgänger, John Locke, der hundert Jahre vor ihm die einschneidendsten Reformen konzipierte. Auf ihn bezieht sich Hume in seinen Analysen, seine Schwächen kann er überwinden. Kant, mit Humes Werk sich zeitlebens auseinander setzend, durchdachte dessen Philosophie tiefschürfend und begründete eine haltbare juridische Grundlage der liberalen Staatstheorie und damit ein Kriterium für die Entscheidung über die Legitimität staatlicher Tätigkeit. Wilhelm von Humboldt, mit Kant in allen Konsequenzen einig, steuerte eine anthropologische Begründung bei, die aus der Sicht des sich bildenden Individuums argumentiert. Die Lösung moralphilosophischer Fragen versuchte Bentham, übrigens ein konsequenter Vertreter des Laissez-faire und des Freihandels, musste aber noch weitgehend damit scheitern. Bastiat sah sich schon mit dem heraufziehenden Sozialismus konfrontiert. Ludwig von Mises, ein genialer Denker, verarbeitete all diese Einflüsse und führte sie zu einem konsistenten und haltbaren Denksystem zusammen. Mises ist der Schlussstein des klassischen Liberalismus und zieht dessen Summe.

Wer Mises liest und die Denker der Aufklärung kennt, bei dem klingeln fortwährend die Ohren. So erging es mir bei seiner Lektüre. Die vorliegende kleine Schrift ist das Ergebnis dieses Lesevergnügens. Wenn ihre Leser dadurch klar sehen, was unter klassischem Liberalismus zu verstehen ist, hat sie ihre Aufgabe erfüllt. Michael von Prollius schließt die Reihe der Einzelstudien mit einem Vortrag ab, der sich mit der Legitimität von Staatsausgaben heute befasst. Er knüpft an die Argumente Kants, Humboldts, Bastiats und Mises an und analysiert die Teilbereiche heutiger Staatshaushalte auf ihre Rechtlichkeit. Mit einem vernichtenden Resultat.

Vor wenigen Tagen erschienen:

Klassischer Liberalismus: Die Staatsfrage – gestern, heute, morgen

Helmut Krebs und Michael von Prollius (Hrsg.); Edition Freie Gesellschaft, Norderstedt (BoD), 2014,

7,99 Euro; 216 Seiten; ISBN: 9-783-7357-7957-1

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Helmut Krebs (Jahrgang 1950) ist Philosoph und Pädagoge. Nach seinem Studium an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und einer Lehrerausbildung war er als ausgebildeter Schriftsetzer über zehn Jahre in Handwerks- und Industriebetrieben tätig. Dem Studium der Pädagogik, Psychologie und Philosophie an der Universität Heidelberg folgte eine Tätigkeit als Lehrer an Grund- und Hauptschulen von 1990 bis 2013. Sein Ruhestand bietet ihm Freiräume für ein autodidaktisches Studium der Philosophie und die Übersetzung der englischsprachigen Werke von Ludwig von Mises. Hinzu kommt ein Engagement in sozialen Medien im Sinne des klassischen Liberalismus, u.a. als Gründer der Plattform „Liberale Debatte“ in Facebook. Als erste Übersetzung erscheint Ludwig von Mises‘: Theorie und Geschichte. Eine Interpretation sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung. Helmut Krebs ist verheiratet, hat drei Kinder und vier Enkelkinder.

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