Warum die Anhänger des freien Marktes die Sozialisten unterschätzen

2. Dezember 2020 – von Ludwig von Mises

Ludwig von Mises (1881-1973)

Die breite Masse der Menschen hängt keiner eigenen Idee an, weder einer guten, noch einer schlechten. Stattdessen suchen sie sich unter den vielen von intellektuellen Vordenkern erdachten Ideologien eine aus. Ihre Wahl aber ist verbindlich und bestimmt den Gang der Dinge. Wenn die Masse schlechte Grundsätze bevorzugt, ist das Unheil nicht mehr abzuwenden.

Die Sozialphilosophie der Aufklärung verkannte die Gefahr, die von der Vorherrschaft schlechter Ideen ausgeht. Die gewöhnlich angebrachten Einwände gegen den Vernunftglauben der klassischen Ökonomen und Utilitaristen sind nicht stichhaltig. Dennoch hat ihr Ansatz einen Mangel. Sie waren der Ansicht, dass sich das Vernünftige, einfach weil es vernünftig ist, durchsetzen wird. Ihnen wäre es niemals in den Sinn gekommen, dass sich in der öffentlichen Meinung eine falsche Ideenlehre durchsetzen kann, die in ihrer Umsetzung das Wohl und Wehe aller und die gesellschaftliche Zusammenarbeit zerfallen lässt.

Heutzutage ist es in Mode gekommen, jene Denker zu verunglimpfen, die den Glauben der liberalen Philosophen an den Durchschnittsbürger kritisieren. Aber Burke und Haller, Bonald und de Maistre haben sich mit grundlegenden Problemen beschäftigt, die von den Liberalen übergangen wurden. Ihre Einschätzung der Massen war realistischer als die ihrer Gegner.

Natürlich lag den konservativen Denkern die falsche Vorstellung zu Grunde, dass die alte Ordnung der bevormundenden Staatsführung und die Starrheit der wirtschaftlichen Institutionen erhalten werden können. Sie waren voll des Lobes für das alte System, das die Menschen wohlhabend gemacht hat und sogar den Krieg humanisiert hatte. Aber sie übersahen, dass es genau jene Errungenschaften waren, die die Bevölkerung anwachsen ließ und damit ein immer größer werdender Bevölkerungsanteil keinen Platz mehr im alten und starren Wirtschaftssystem fand. Sie haben die Augen verschlossen, gegenüber dem Anwachsen einer Klasse von Menschen, die außerhalb der erblassenden sozialen Ordnung standen, die sie versucht haben zu erhalten. Ihnen ist es nicht gelungen, Lösungen für das drängendste Problem zu finden, mit dem die Menschheit im Zeitalter der „industriellen Revolution“ konfrontiert war.

Der Kapitalismus gab der Welt, was sie brauchte, eine Steigerung des Lebensstandards für eine immer weiter anwachsende Zahl von Menschen. Aber die Liberalen, die Pioniere und Anhänger des Kapitalismus, übersahen einen wesentlichen Punkt. Ein Gesellschaftssystem, egal wie vorteilhaft es auch sein mag, kann ohne die Unterstützung der öffentlichen Meinung nicht bestehen. Die Liberalen rechneten nicht mit dem Erfolg der antikapitalistischen Propaganda. Nachdem es ihnen gelungen war, die Fabel von der göttlichen Mission des gesalbten Königs zu entkräften, verfielen die Liberalen einer nicht weniger illusorischen Lehre, der der unaufhaltsamen Macht der Vernunft, der Unfehlbarkeit des volonté générale und der himmlischen Eingebung der Mehrheit. Über kurz oder lang, so dachten sie, kann nichts die fortschreitende Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen aufhalten. Mit der Widerlegung uralter Irrglauben hat die Lehre der Aufklärung ein für alle Mal die Vormachtstellung der Vernunft festgeschrieben. Die Errungenschaften der Politik der Freiheit werden die Segnungen der neuen Weltanschauung so überwältigend verdeutlichen, dass kein intelligenter Mensch es wagen wird, sie in Frage zu stellen. Und so nahmen die Philosophen an, die große Mehrheit der Menschen ist intelligent und in der Lage, richtig zu denken.

Es kam den alten Liberalen nie in den Sinn, dass die Mehrheit die historische Erfahrung aus der Warte anderer Philosophien interpretieren könnte. Sie rechneten nicht mit der im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert erlangten Popularität jener Ideen, die sie selbst als reaktionär, abergläubisch und unvernünftig bezeichnet hätten. Sie waren so sehr von der Annahme beseelt, dass alle Menschen mit der Fähigkeit des richtigen Denkens ausgestattet sind, dass sie die Bedeutung der Vorzeichen völlig falsch deuteten. Aus ihrer Sicht waren all diese unangenehmen Vorkommnisse vorübergehende Rückfälle, zufällige Episoden, denen der Philosoph mit Blick auf die Geschichte der Menschheit sub specie aeternitatis [unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit; Anm. d. Ü.] keine Bedeutung beimessen musste. Was auch immer die Reaktionäre sagen mögen, es gab eine Tatsache, die sie nicht leugnen konnten, nämlich, dass der Kapitalismus einer rasch wachsenden Bevölkerung einen sich ständig steigenden Lebensstandard ermöglichte.

Genau diese Tatsache aber wurde von der überwiegenden Mehrheit bestritten. Der wesentliche Punkt in den Lehren aller sozialistischen Autoren, und besonders in den Lehren von Marx, ist die Doktrin, dass der Kapitalismus zu einer fortschreitenden Verarmung der arbeitenden Massen führt. Im Hinblick auf die kapitalistischen Länder kann der Trugschluss dieses Satzes kaum übersehen werden. In Bezug auf die rückständigen Länder, die nur oberflächlich vom Kapitalismus beeinflusst wurden, legt der beispiellose Anstieg der Bevölkerungszahlen nicht die Deutung nahe, dass die Massen immer weiter abrutschen. Diese Länder sind im Vergleich zu den fortgeschritteneren Ländern arm. Ihre Armut ist das Ergebnis des raschen Bevölkerungswachstums. Diese Völker haben es vorgezogen, mehr Nachkommen großzuziehen, anstatt den Lebensstandard auf ein höheres Niveau anzuheben. Das ist ihre eigene Sache. Aber Tatsache bleibt, dass sie über den Reichtum verfügten, um die durchschnittliche Lebenserwartung zu erhöhen. Es wäre für sie unmöglich gewesen, mehr Kinder aufzuziehen, wenn nicht die Mittel für den Lebensunterhalt erhöht worden wären.

Nichtsdestotrotz behaupten nicht nur die Anhänger Marx, sondern auch viele angeblich „bürgerliche“ Autoren, dass Marx’ Vorhersage der kapitalistischen Entwicklung im Großen und Ganzen durch die Geschichte der letzten hundert Jahre bestätigt wurde.

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Entnommen aus „Human Action“ (1949), Kapitel „The Illusion of the Old Liberals“. Aus dem Englischen übersetzt von Arno Stöcker.

Ludwig von Mises, geb. 1881 in Lemberg, war der wohl bedeutendste Ökonom und Sozialphilosoph des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer hat er die (wissenschafts)theoretische Begründung für das System der freien Märkte, die auf unbedingter Achtung des Privateigentums aufgebaut sind, und gegen jede Form staatlicher Einmischung in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben geliefert. Seine Werke sind Meilensteine der Politischen Ökonomie. Das 1922 erschienene “Die Gemeinwirtschaft” gilt als erster wissenschaftlicher und umfassender Beweis für die “Unmöglichkeit des Sozialismus”. Sein Werk “Human Action” (1949) hat bei amerikanischen Libertarians den Rang einer akademischen “Bibel”. Mises war Hochschullehrer an der Wiener Universität und Direktor der Österreichischen Handelskammer. Ab 1934 lehrte er am Institut des Hautes Etudes in Genf. 1940 Übersiedlung nach New York, wo er nach weiteren Jahrzehnten der Lehr- und Gelehrtentätigkeit 1973 im Alter von 92 Jahren starb.

 

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