Wie Phönix aus der Asche: Mises in Manhattan wirkt bis heute
4. März 2020 – von Michael von Prollius
[Das Foto oben zeigt v.l.n.r. Henry Hazlitt, Ludwig von Mises, Philip Cortney und Lawrence Fertig.]
Ludwig von Mises (1881-1973) ist einer breiteren Öffentlichkeit zuletzt im Zuge der Finanzkrise wieder bekannt geworden. Die Wirtschaftswoche bezeichnete ihn als „unbeugsamen Visionär“. Das Wall Street Journal schrieb über „The Man Who Predicted the Depression“. Anders als Milton Friedman oder John Maynard Keynes, aber auch Paul Samuelson ist der „letzte Ritter des Liberalismus“ jedoch weitaus weniger populär und präsent. Es gibt keine misesanische Wirtschaftspolitik, keine Mises-Lehrstühle und kein etabliertes Lehrbuch, das Ökonomiestudenten an öffentlichen Hochschulen Österreichische Ökonomik oder gar Politische Ökonomie vermittelt. Allerdings haben in den letzten Jahren österreichische Studiengänge und Weiterbildungen einen Aufschwung genommen. Dafür gibt es nachvollziehbare Gründe: Mises‘ Bescheidenheit und ein anspruchsvolles, vielseitiges Werk andererseits gehören dazu. Mises‘ konsequenter Liberalismus fiel aus der Zeit. Staatsferne und unbequeme Ansichten, die Politiker nicht im herkömmlichen aktivistischen Glanz erstrahlen lassen, wirkten nicht gerade förderlich für einen Misesanismus. Schließlich spielte auch die Emigration im fortgeschrittenen Alter in ein vom Positivismus in der Ökonomie und Anti-Kapitalismus in der Politik geprägtes Land eine Rolle.
Gleichwohl hat uns Mises auch heute noch heute viel zu sagen – über Politische Ökonomie, das Kalkulationsproblem, Konjunkturzyklen, die Natur des Geldes, menschliches Handeln und vieles andere mehr. Über die Natur der Freiheit hat vielleicht niemand so konsequent nachgedacht wie Ludwig von Mises, der in seiner Freiheitsbegründung ohne Werte auskommt, über die sich bekanntlich leidenschaftlich streiten lässt. Auch als Sozialphilosoph ist er ein Klassiker, der uns über Wissenschaftstheorie, insbesondere Praxeologie, zudem Philosophie der Geschichte und klassischen Liberalismus viel zu sagen hat.
Folglich ist Mises, der manchem als würdiger Anwärter auf den (ersten) Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften galt, nicht einflusslos geblieben. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang Paul Samuelson, der eine fiktive Liste mit Nobelpreisträgern für die Jahre von 1901 bis 1930 zusammengestellt hat, wenn es die Auszeichnung damals schon gegeben hätte. Mises wäre nach Böhm-Bawerk und Menger ausgezeichnet worden mit Blick auf die Bedeutung seiner Arbeiten und deren Reputation. Der Einfluss des Wiener New Yorkers zeigt sich bereits darin, dass er mit seinem Buch „Die Gemeinwirtschaft“ seinen späteren Vorzeigeschüler und Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek und dessen gleichaltrigen Mitstreiter Wilhelm Röpke, der im Nachkriegsdeutschland ökonomisch und politisch erheblich Einfluss nahm, zum Liberalismus bekehrte. Zu Mises‘ Schülern und Teilnehmern des Privatseminars zählen auch Österreicher, die in den USA an renommierten Universitäten lehrten, darunter Fritz Machlup, Gottfried Haberler und Oskar Morgenstern sowie Gerhard Tintner. Sie vertraten zwar nicht die klassisch-österreichische Linie, erreichten aber auf Gebieten wie der Spieltheorie große Erfolge.
Mises lebte nach seiner Emigration ab 1941 in Manhattan, in 777 West End Avenue. Die Upper West Side ist keine schlechte Gegend. Ganz im Gegenteil, bürgerlich, nahe am Central Park gelegen, nur rund 5 Blocks entfernt. Nach Westen ist es ein Katzensprung bis zum Hudson. Es gibt dort viele Möglichkeiten zum Spazierengehen. Seine Drei-Zimmer-Wohnung war zwar eine bescheidene Unterkunft für einen namhaften Ökonomen und seine Frau, lag aber in einem Zentrum der westlichen Welt, nur eine knappe Stunde zu Fuß entfernt vom Times Square. Außerdem dürfte es in dem massiven Gebäude ruhig genug gewesen sein – zum Denken und Schreiben. In einer aktuellen Immobilienanzeige heißt es: „Wonderful, pre-war building on a beautiful block! Located on West End Avenue between 97th and 98th, you will always come home to peace and serenity in this beautiful residential neighborhood. … This building features a full-time doorman, elevator, and laundry in the basement. The apartments have beautiful, high ceilings, hardwood floors, arched doorways, and that fabulous feeling of pre-war charm.“
Mises wurde 1941 bereits 60 Jahre und musste sich in einer völlig neuen Umgebung, in einer anderen Kultur und statt in seiner Muttersprache in Englisch etablieren. Er bekam kein Angebot von einer namhaften Universität, trotz intensiver Bemühungen, darunter Vorträgen an bedeutenden Institutionen. Allerdings hatte er auch zuvor keinen Lehrstuhl inne gehabt. Seine Werke waren bis dahin nur teilweise übersetzt worden. Methodisch und thematisch fiel Mises aus der Zeit. Die USA hatten sich seit dem New Deal weit von freier Marktwirtschaft und beschränkter Regierung entfernt. Etatismus und Dirigismus waren en vogue. Seine Karriere war 1940/41 an einem Tiefpunkt angelangt. Mises lebte von seinen letzten verfügbaren Ersparnissen. Zugespitzt hätte ihm, in Anlehnung an Ayn Rand, das Schicksal gedroht als einer der herausragenden Ökonomen Burger flippen zu müssen. Umso bemerkenswerter ist sein langfristiger Einfluss, gerade auch in den USA, zu dem nachfolgend einige Bemerkungen angebracht scheinen.
Ludwig von Mises arbeitete sich aus dem Tief heraus. Sein Aufstieg kann treffend mit der Redewendung „wie Phönix aus der Asche“ bezeichnet werden: ein Neuanfang nach einer großen Niederlage, Auferstehung und sogar Unsterblichkeit, nämlich seiner Ideen und Erkenntnisse. Mises hatte in Wien nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten und seiner abenteuerlichen Flucht aus der Schweiz alles verloren, auch seine Bibliothek. Freiheit, Wahrheit und Kraft werden mit dem Phönix aus der Asche in Verbindung gebracht. Dieser Dreiklang könnte als Motto von Mises gelten, der seinen Ruf und sein Ansehen zurückbekommen sollte. Wie wurde das möglich?
1. Mises erarbeitete sich durch zahlreiche Publikationen und Vorträge wieder ein herausragendes Renommee. So produktiv wie in New York in den 1940er und 1950er Jahren war er nie zuvor und danach. Sein Magnus opus „Human Action“ wurde mit über 900 Seiten zu einem in diesem Ausmaß nicht erwarteten Erfolg und machte ihn zu einer herausragenden liberalen Persönlichkeit in den USA. Zuvor hatten bereits „Bureaucracy“ und „Omnipotent Government“ mehr als nur Akzente gegen den Zeitgeist gesetzt. Artikel in Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen sowie Vorträge häuften sich. Als wahrer Freund und Unterstützer erwies sich Henry Hazlitt, der Starkolumnist des Kapitalismus, der letztlich hingebungsvoll Mises‘ Ideen verbreitete. Hazlitt hatte Mises schon vor dessen Ankunft durch Besprechungen auf der ersten Seite der New York Times bekannt gemacht und bot nun Mises die Möglichkeit, selbst Artikel zu publizieren. Erwähnt seien auch Vereinigungen wie die Austrian-American League und das Austrian National Committee, ferner die National Association of Manufacturers und die Christian Freedom Foundation, die Mises in zeitweiser intensiver Zusammenarbeit ein Publikum boten. Mises schrieb in New York Artikel, die in anderen Teilen der Welt publiziert wurden, etwa für die Monatszeitung „Freiheitliche Wirtschaftspolitik“, die Volkmar Muthesius in Frankfurt herausgab und die Mises sehr schätzte.
2. Mises galt als bemerkenswert guter Lehrer, der mit seinem Seminar an der New York University und regelmäßigen Vorträgen und Seminaren für die Foundation for Economic Education fachlich zu überzeugen verstand und sich auf seine Zuhörer gut einstellen konnte, ohne ein brillanter Redner sein zu müssen. Durch seine Gastprofessur an der NYU, die Mises für 20 Jahre privat finanziert inne hatte, organisiert vom Werbefachmann und Journalisten Lawrence Fertig, gelang ihm eine Neuauflage seines legendären Privatseminars in Wien mit anderem Publikum: Studenten, auch anderer Universitäten, Journalisten, Geschäftsleute und Schriftsteller kamen in sein Seminar, das sich zum Zentrum des klassischen Liberalismus an der Ostküste entwickelte. Mises unterrichtete bis ins hohe Alter von fast 90 Jahren und war der dienstälteste Professor in den USA.
Zum 50. Jahrestag von Mises‘ Doktortitel im Jahr 1956 dokumentiert eine beeindruckende internationale Liste von Beitragenden zur Festschrift, dass Ludwig von Mises auf dem Höhepunkt seines Schaffens und Ansehens war. Allerdings handelte es sich um Weggefährten und nicht um Mitglieder anderer, führender akademischer Zirkel seiner Zeit.
3. Mises schuf mit der tatkräftigen Hilfe von Freunden und Unterstützern ein großes Netzwerk, das sich auch akademisch in weite Teile der Welt erstreckte, darunter Lateinamerika und Japan. Erwähnt sei auch die von Hayek gegründete Mont Pèlerin Society, in der Mises mit internationalen Akademikern zusammenkam. Mises hat indes selbst keine eigene Schule aufgebaut und nur vier Dissertationen in New York betreut: Hans F. Sennholz, dessen Student Peter Boettke heute als Professor an der George Mason University zur Unsterblichkeit von Mises beiträgt, außerdem Israel Kirzner, ferner Louis M. Spadaro und George G. Reisman. Alle Doktoranden wurden erfolgreiche Professoren. Das gilt auch für Murray N. Rothbard, der auf Mises aufbauend und über ihn hinausgehend den Anarcho-Kapitalismus begründete, sowie Ralph Raico, den unlängst verstorbenen Geschichtsprofessor der Austrians. Sie alle und viele weitere wie etwa Richard Ebeling haben Mises‘ Ideen bis in die heutige Zeit getragen und ihre eigenen Beiträge zu einer Philosophie und Ökonomie der Freiheit geleistet. Mises pflegte außerdem Kontakte zur Chicago School mit Frank Knight und Milton Friedman sowie Henry C. Simons. Gleichwohl blieb er akademisch ein Außenseiter.
Für die Erwachsenenbildung mit dem langfristigen Ziel eines Meinungsumschwungs schuf Leonard Reed 1946 in enger Zusammenarbeit mit Mises den ersten konsequent liberalen Think Tank, die Foundation for Economic Education. Mises wurde dort faktisch als Mitarbeiter tätig. Broschüren und Sendungen an zehntausende Haushalte sowie die Zeitschrift „The Freeman“ wirkten im freiheitlichen Sinne und boten Mises zusammen mit den Veranstaltungen ein Forum. Letztlich dauerte die Wiederauferstehung des klassischen Liberalismus in Amerika bis zum Beginn der 1960er Jahre – Mises spielte dabei eine, wenn nicht die führende intellektuelle Rolle.
4. Friedrich A. von Hayek hat zum Erhalt des Werks von Mises beigetragen, trotz mancher Unterschiede. Sein Nobelpreis 1974, den er nicht zuletzt für die miseanische Konjunkturtheorie und deren Weiterentwicklung erhielt, trug dazu bei, auch durch die Aufmerksamkeit, die auf klassisch Liberale gelenkt wurde. Mises und Hayek sind nicht nur über die Konjunkturtheorie eng mit einander verbunden und daher bei Finanzkrisen immer wieder präsent, sondern arbeiteten im Zuge der „Mises-Hayek-Revolution“ der 1930er und 1940er Jahre, wie es Israel Kirzner nennt, die Alleinstellungsmerkmale der Österreichischen Schule heraus. Für die USA sollte überdies Murray N. Rothbard prominent angeführt werden und die Gründung des einflussreichen Mises Instituts in Auburn, Alabama im Jahr 1982, an dem bis heute viele namhafte Gelehrte wirken.
5. Qualität setzt sich durch: Nach seinem Tod sind zahlreiche Institutionen entstanden, die seine Ideen aufbereiten, weiterentwickeln und befördern – Hochschulen und private Vereinigungen in der ganzen Welt. Das gilt für das eben genannte Mises Institut in Auburn, Alabama und seine gleichnamigen Kooperationspartner nicht zuletzt in Deutschland mit Thorsten Polleit und Andreas Marquart, die einem deutschsprachigen Publikum die Ideen von Ludwig von Mises durch eine Fülle von Aktivitäten näherbringen. Ein großes akademisches Programm in der Tradition von Mises und anderen Österreichern bietet die George Mason University mit dem Doyen der Österreichischen Schule in den USA, Peter Boettke. Dessen akademischer Blog weist mit seinem Namen auf die zentralen Arbeiten von Mises (und anderen Österreichern hin): das Koordinationsproblem. Dazu gehört auch das Forschungsinstitut Mercatus Center. Erwähnt sei statt anderer auch das Independent Institute mit seiner Vierteljahrschrift „Independent Review“, deren langjähriger Herausgeber Robert Higgs stark von Ludwig von Mises beeinflusst wurde. In Wien gibt es inzwischen wieder zwei Institute, die einen starken Bezug zu Mises haben: das Scholarium um Rahim Taghizadegan und das Austrian Institut um Martin Rhonheimer.
6. Zutreffende Prognosen haben den Ruf von Ludwig von Mises insbesondere nach seinem Tod gestützt. Im Zuge der letzte großen Weltfinanzkrise und der anschließenden großen Rezession wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass Mises und Hayek vor der Weltwirtschaftskrise 1929 gewarnt hatten. Den Zusammenbruch des Sozialismus hatte Mises bereits 1920 durch seine Arbeit zum Kalkulationsproblem als unausweichlich vorhergesagt. Weniger in Einzelereignissen, aber in vielen Problemen unserer Zeit spiegeln sich wichtige Erkenntnisse, die Mises in seinem reichen Forscherleben erarbeitet hat, darunter Interventionismus, Etatismus, Anti-Kapitalismus und Bürokratie. Und das sind nur die ökonomischen Aspekte. Mit seinen staatstheoretischen Arbeiten kann Mises als einer der Vorläufer der Public Choice Schule gesehen werden.
In den 1960er Jahren ließen Mises Kräfte nach. Er blieb weitgehend gesund, war aber nunmehr schon über 80 Jahre alt. Nach seinem Tod 1973 sah es nicht danach aus als hätten seine Werke und Schriften, die zunächst insbesondere durch seine Frau Margit in Sammelbänden, neuen Herausgaben und Biographien weiterverbreitet werden sollten, eine Zukunft. Die Österreichische Schule schien insgesamt in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Keynesianismus und Neoklassik bestimmten die Fachwelt und wirkten auf die Politik. Im Rückblick änderten das neben Hayeks Nobelpreis und einer wenige Monate zuvor in Vermont durchgeführten Konferenz, die die vorhandene Kraft der Österreichischen Ideen aufzeigte, nicht zuletzt zwei Politiker: Margret Thatcher und Ronald Reagan. Heute ist Ludwig von Mises als Klassiker der großen Ökonomen von Adam Smith an weitgehend anerkannt.
Dr. Michael von Prollius ist Publizist, Gründer von Forum Freie Gesellschaft (www.forum-freie-gesellschaft.de) und Blogger auf DieBucht.Rocks. Die Internetplattform widmet sich der Wiederbelebung und Weiterentwicklung von klassischem Liberalismus und Österreichischer Schule. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Geldsystem, zur Wirtschafts- und Ideengeschichte und zu wirtschaftspolitischen Themen. Seine Beiträge und Rezensionen erscheinen in wissenschaftlichen Zeitschriften, aber auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Fuldaer Zeitung, der Neuen Zürcher Zeitung und im Schweizer Monat. Michael von Prollius leitet den Wissenschaftskreis der Friedrich August von Hayek Gesellschaft und ist assoziierter Forscher beim Liberalen Institut (Schweiz).
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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.
Fotos: Michael von Prollius, fee.org, freecapitalist.org