Warum libertär sein?

6.12.2013 – von Murray N. Rothbard.

Murray N. Rothbard

Warum sollte man überhaupt libertär sein? Was steckt hinter dem Ganzen? Wie kommt man dazu, sich ein Leben lang für das Prinzip und das Ziel individueller Freiheit einzusetzen? Bedeutet so ein Einsatz, in unserer weitestgehend unfreien Welt, nicht notwendigerweise radikalen Widerspruch zur und Entfremdung von der herrschenden Meinung – eine Entfremdung, die ebenso notwendigerweise Opfer materieller und ideeller Art erfordert? Wenn das Leben kurz ist, und der Sieg in weiter Ferne, warum tut man sich das alles an?

Erstaunlicherweise findet man unter der wachsenden Zahl Libertärer in diesem Land viele Menschen, die aus einer sehr begrenzeten und persönlichen Sichtweise heraus zu einer libertären Haltung gelangt sind. Viele von Ihnen erliegen der Freiheit als einem intellektuellen Gedankenkonstrukt, oder einem ästhetischen Zweck. Sie bleibt dabei jedoch eine rein intellektuelle Spielwiese, völlig losgelöst vom alltäglichen, „wirklichen“ Leben. Andere machen sich die libertäre Haltung einzig aus persönlichem Profitstreben zu Eigen. Weil sie erkennen, dass ein freier Markt fähigen und unabhängigen Individuen größere und vielfältigere unternehmerische Gewinnchancen einräumt. Sie werden und bleiben libertär, lediglich um ihre persönlichen Profitmöglichkeiten zu erweitern. Obwohl es stimmt, dass die Profitmöglichkeiten auf freien Märkten und in einer freien Gesellschaft sehr viel größer und vielfältiger sein würden, ist es doch absurd, diesen Aspekt als den entscheidenden Grund herauszustellen, eine libertäre Gesinnung anzunehmen. Denn auf dem oft steinigen und beschwerlichen Weg zur Freiheit sind die Gewinnchancen des Libertären sehr viel öfter eher schlecht als recht.

Die Konsequenz aus den engstirnigen und kurzsichtigen Beweggründen – sowohl des verspielten Intellektuellen als auch des Opportunisten – ist, dass keiner der beiden ein Interesse daran hegt, eine  libertäre Bewegung in Gang zu setzen. Aber nur durch eine solche libertäre Bewegung ist es möglich, das Ziel der Freiheit tatsächlich zu erreichen. Ideen, und besonders radikale Ideen, verbreiten sich nicht von allein, wie in einem Vakuum. Sie können nur durch Menschen vorangetragen werden, und deshalb ist die Formung und Förderung solcher Menschen – also das Schaffen einer „Bewegung“ – eine der wichtigsten Aufgaben eines Libertären – wenn er es ernst meint.

Abgesehen von der Engstirnigkeit mancher Libertärer, müssen wir außerdem erkennen, dass der Utilitarismus – der allgemeine Bezugspunkt marktwirtschaftlicher Ökonomen – keine geeignete Grundlage für eine erfolgreiche libertäre Bewegung darstellt. Es ist richtig und wichtig zu wissen, dass freie Märkte mehr Wohlstand und eine stabilere Wirtschaft für alle bedeuten, Arm und Reich gleichermaßen. Aber kann diese Erkenntnis allein genügend Menschen dazu bringen, ihr Leben der Freiheit zu verschreiben? Kurzum, wie viele Menschen werden tatsächlich auf die Barrikaden gehen und die zahlreichen Opfer auf sich nehmen, die eine konsequente Hingabe zur Freiheit erfordert, nur damit x Prozent der Menschen eine bessere Badewanne erhalten? Würde man sich nicht eher für das einfache und ruhige Leben entscheiden und die Badewannen vergessen? Letztendlich ist die utilitaristische Wirtschaftslehre, auch wenn sie unabdingbar in der ausgearbeiteten libertären Philosophie bleibt, ebenso ungeeignet, eine libertäre Bewegung auszulösen, wie kurzfristiges und opportunistisches Profitstreben.

Unserer Meinung nach, kann eine erfolgreiche libertäre Bewegung – eine konsequente Hingabe zur individuellen Freiheit – nur in einer Leidenschaft für Gerechtigkeit wurzeln. In ihr liegt die Triebfeder unseres Bestrebens. Sie kann uns in schwierigen Zeiten stützen. Die Jagd nach dem schnellen Geld, intellektuelle Spielereien, oder die kühle Berechnung allgemeiner ökonomischer Gewinne vermögen dies nicht. Um aber eine Leidenschaft für Gerechtigkeit zu entwickeln, braucht es eine Theorie darüber, was Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sind – also, eine Reihe ethischer Prinzipien der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, die durch die utilitaristische Wirtschaftstheorie nicht bereitgestellt werden können. Weil wir eine Welt sehen, die übersät ist von Ungerechtigkeiten, dass es zum Himmel schreit, streben wir eine Welt an, in der diese Ungerechtigkeiten ausgelöscht werden. Andere traditionelle und radikale Ideen, wie etwa die „Beseitigung der Armut“, sind, im Gegensatz zu dieser Idee, tatsächlich utopisch, denn der Mensch kann die Armut nicht durch den bloßen Gebrauch seines Willens aus der Welt schaffen. Die Armut kann nur durch ein Zusammenspiel bestimmter ökonomischer Faktoren beseitigt werden – insbesondere durch Investition von Ersparnissen in Kapital. Diese ökonomischen Faktoren können nur auf lange Sicht ihre Wirkung entfalten. Der Wille des Menschen ist erschreckend ohnmächtig beim Spiel des Naturrechts – um diesen altmodischen aber immer noch treffenden Ausdruck zu verwenden. Ungerechtigkeiten dagegen sind Taten, die von einer Gruppe von Menschen an einer anderen Gruppe begangen werden. Sie sind menschliches Handeln und genau deswegen unterliegen sie unmittelbar dem menschlichen Willen.

Betrachten wir ein Beispiel: Die jahrhundertelange Besetzung und brutale Unterdrückung des irischen Volkes durch England. Im Jahre 1900 hätte der fatalen Situation Irlands und insbesondere der Armut des irischen Volkes, durch einen Abzug der Engländer und einer Aufhebung ihres Landmonopols, entgegen gewirkt werden können. Um die Armut jedoch ein für alle Mal zu beseitigen, hätte es, selbst unter den bestmöglichen Bedingungen, viel Zeit zur Entfaltung ökonomischer Kräfte bedurft. Das Ende der englischen Unterdrückung hingegen hätte allein durch menschlichen Willen und unverzüglich erfolgen können: Wenn die Engländer sich einfach zum Abzug entschieden hätten. Der Umstand, dass derlei Entscheidungen nicht von einem Moment auf den anderen getroffen werden, ist hierbei unbedeutend. Wichtig ist, zu erkennen, dass der Fehler eine begangene Ungerechtigkeit ist, zu der sich die Täter entschlossen haben – in diesem Fall die Englische Regierung. In der Sphäre der Gerechtigkeit ist der menschliche Wille alles. Hier kann der Mensch Berge versetzen, wenn er sich nur dazu entschließt. Eine Leidenschaft für unverzügliche Gerechtigkeit – also eine radikale Leidenschaft – ist demnach nicht utopisch, wie etwa der Wunsch die Armut augenblicklich aus der Welt zu schaffen oder die spontane Verwandlung jedes Menschen in einen Konzertpianisten. Denn Gerechtigkeit könnte unverzüglich herrschen, wenn nur genug Menschen sich zu ihr bekennen.

Eine wahrhafte Leidenschaft für Gerechtigkeit muss radikal sein – sie muss zumindest ihre Ziele radikal und unmittelbar erreichen wollen. Leonard E. Read, Gründungspräsident der Foundation for Economic Education (FEE), formulierte diese Erkenntnis in seinem Pamphlet I’d push the Button besonders treffend. Er stellte sich die Frage, was mit dem Netz aus bürokratisch oktroyierten Lohn- und Preiskontrollen geschehen solle? Die meisten liberalen Ökonomen würden scheu, oder „realistischer Weise“ eine graduelle und gestaffelte Deregulierung befürworten, aber für Read bleibt es unmissverständlich eine radikale Prinzipienfrage: „Wenn es auf diesem Podium einen Schalter gäbe“, so begann er seine Rede, „dessen Auslösung alle Lohn- und Preiskontrollen unmittelbar verschwinden ließe – Ich würde meinen Finger auf ihn legen und drücken!“[1]  Der wahre Test für den radikalen Geist ist also der Schalter-Test: Wenn wir den Schalter drücken und damit alle bestehenden Freiheitsbeschränkungen unmittelbar aufheben könnten – würden wir es tun? Diejenigen, die es nicht täten, könnten sich nur schwerlich Libertäre nennen. Diejenigen, die es täten, können es nur, weil sie vor allem von einer Leidenschaft für Gerechtigkeit geleitet sind.

Der aufrichtige Libertäre ist im wahrsten Sinne des Wortes ein „Abolitionist“. Er würde, wenn er könnte, unverzüglich alle Freiheitsbeschränkungen aufheben, sei es, im ursprünglichen Sinne des Wortes, die Sklaverei oder irgendeine andere der zahlreichen staatlichen Unterdrückungen. Er würde also, in den Worten eines anderen Libertären in ähnlichem Zusammenhang, „Diesen Schalter bis zur Blasenbildung drücken!“ Der Libertäre muss darum ein „Schalter-Drücker“ und „Abolitionist“ sein. Durch die Gerechtigkeit bestärkt, lässt er sich nicht durch amoralische utilitaristische Appelle verbiegen, dass etwa Gerechtigkeit erst dann erreicht werden könne, wenn die Kriminellen „kompensiert“ würden. Als im frühen 19. Jahrhundert die Bewegung des Abolitionismus ihren Anfang nahm, kamen sehr schnell die ersten moderaten Gegenstimmen auf, die behaupteten, dass eine Abschaffung der Sklaverei nur dann gerecht sei, wenn man die Sklavenhalter finanziell für den Verlust entschädige. Es hieß also in anderen Worten, dass den Sklavenhaltern, nach Jahrhunderten der Unterdrückung und Ausbeutung, noch eine angemessene Summe zustünde, die man den vielen unschuldigen Steuerzahlern gewaltsam entreißen müsse! Den treffendsten Kommentar zu diesem Vorschlag finden wir beim radikalen englischen Philosophen Benjamin Pearson, der bemerkte, dass „er eigentlich davon ausging, dass es die Sklaven seien, denen eine Entschädigung zustünde.“ Selbstverständlich hätte eine solche Entschädigung gerechterweise nur von den Sklavenhaltern selbst gezahlt werden können.[2]

Antilibertäre und Antiradikale im Allgemeinen behaupten üblicherweise, dass solch ein „Abolitionismus“ unrealistisch sei. Diese Behauptung zeigt, wie sehr sie das gewünschte Ziel mit einer strategischen Abschätzung des wahrscheinlichen Ergebnisses vermischen. Es ist wichtig, hier klar zu unterscheiden. Als erstes müssen Ziele formuliert werden. In diesem Fall würde es sich um die unmittelbare Abschaffung der Sklaverei handeln, oder jedweder anderer Form staatlicher Unterdrückung, die wir betrachten. Bei der Formulierung der Ziele darf die Wahrscheinlichkeit ihrer Umsetzung noch nicht mit einbezogen werden. Die libertären Ziele sind „realistisch“, in dem Sinne, dass sie erreicht werden könnten, wenn genügend Menschen sie für wünschenswert, und ihre Umsetzung als einen Schritt hin zu einer besseren Welt erachteten. Der „Realismus“ des Ziels kann nur durch eine Kritik des Ziels selbst in Frage gestellt werden, nicht aber durch Probleme in der Umsetzung. Erst nachdem das Ziel gesetzt ist, müssen wir uns mit den strategischen Fragen befassen. Wie erreichen wir unser Ziel so schnell wie möglich? Wie bauen wir eine Bewegung auf? Wie stärken wir sie, usw.? Darum war es keinesfalls „unrealistisch“, als William Lloyd Garrison in den 1830er Jahren die unverzügliche Gleichberechtigung von Sklaven forderte. Sein Ziel war das richtige, und sein strategischer Realismus äußerte sich darin, dass er nicht davon ausging, dass dieses Ziel sehr schnell erreicht werden könnte. Garrison selbst brachte es so zum Ausdruck:

“Unverzügliche Abolition zu verlangen, so aufrichtig wir es auch tun, wird, Ach!, doch nur in schrittweise Abolition münden. Wir haben niemals behauptet, dass die Sklaverei mit einem einzigen Streich ausgelöscht werden würde – dass sie es werden sollte, dafür stehen wir.”[3]

Üblicherweise stellt die klare und radikale Prinzipientreue den schnellsten Weg dar, um radikale Ziele zu erreichen. Denn wenn das radikale Ziel niemals in den Vordergrund gestellt wird, so kann auch nie Schwung aufgenommen werden, um es zu erreichen. Die Sklaverei wäre niemals abgeschafft worden, hätten die Abolitionisten dies nicht bereits 30 Jahre vorher gefordert – und, wie es die Geschichte wollte, war die Abolition dann im Endeffekt doch eher ein einziger Streich, als ein gradueller Prozess.[4] Über der Anforderung nach strategischen Erwägungen jedoch steht die Gerechtigkeit. In seinem berühmten Leitartikel, mit dem er die Wochenzeitschrift The Liberator zu Beginn des Jahres 1831 eröffnete, bedauerte William Lloyd Garrison seine frühere Haltung zur schrittweisen Abolition:

“Ich möchte diese Gelegenheit für einen ausführlichen und unmissverständlichen Widerruf nutzen. Ich bitte öffentlich um Vergebung vor meinem Gott, meinem Land, und meinen Brüdern, den armen Sklaven, für die Verbreitung einer Haltung voller Feigheit, Ungerechtigkeit und Absurdität.

Auf die Kritik an der für ihn typisch scharfen und feurigen Sprache, entgegnete Garrison: „Ich muss in Flammen aufgehen, denn es gilt Berge von Eis um mich herum zu schmelzen.“ Es ist genau dieser Geist, der diejenigen erfüllt, die sich wahrhaftig für die Sache der Freiheit einsetzen.”[5]

 

Aus dem Englischen übersetzt von Karl-Friedrich Israel und Steffen Hering. Der Text ist der Aufsatzsammlung Egalitarianism as a Revolt Against Nature, and Other Essays aus dem Jahr 1974 entnommen.

[1] Leonard E. Read, I’d push the Button (New York: Joseph D. McGuire, 1946), p.3.

[2] William D. Grampp, The Manchester School of Economics (Stanford, Calif.: Stanford University Press, 1960), p. 59.

[3] Zitiert in William H. and Jane H. Pease, eds., The Antislavery Argument (Indianapolis: Robbs-Merrill, 1965), p. xxxv.

[4] In der Konklusion einer brillanten philosophischen Kritik über den Vorwurf des „Unrealistischen“ und die Verwirrungen um das Gute und das derzeit Wahrscheinliche erklärt Professor Philbrook: „Ein Ökonom, so wie jeder andere auch, kann Politiken nur auf eine Art und Weise ernsthaft verteidigen: Es muss gezeigt werden, dass die Politiken gut sind. Echter „Realismus“  ist genau das, was Menschen schon immer mit Weisheit gemeint haben: Entscheidungen für das Unmittelbare im Licht des höheren Ziels.“ Clarence Philbrook, „Realism‘ in Policy Espousal,“ American Economic Review (Dezember, 1953): 859.

[5] Für die Zitate von Garrison, siehe Louis Ruchames, ed., The Abolitionists (New York: Capricorn Books, 1964), p.31, und Fawn M. Brodie, “Who Defends the Abolitionist?” in Martin Duberman, ed., The Antislavery Vanguard (Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1965), p.67. Das Werk von Duberman ist eine Sammlung wertvoller Materialien, u.a. findet sich darin eine Gegenschrift zu den weiterverbreiteten Bemühungen jener, die am Status Quo festhalten, Verfechter radikaler Meinungen im Allgemeinen und Abolitionisten im Speziellen, durch Verrücktheitsanschuldigungen mundtot zu machen. Siehe besonders Martin Duberman, „The Nothern Response to SLavery,“ in ibid., pp. 406-13.

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Murray N. Rothbard wurde 1926 in New York geboren, wo er an der dortigen Universität Schüler von Ludwig von Mises wurde. Rothbard, der 1962 in seinem Werk Man, Economy, and State die Misesianische Theorie noch einmal grundlegend zusammenfasste, hat selbst diese letzte Aufgabe, die Mises dem Staat zubilligt, einer mehr als kritischen Überprüfung unterzogen.

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