Ein großes geistiges Vermächtnis

11.10.2013 – von Jörg Guido Hülsmann.

Jörg Guido Hülsmann

Als er am 10. Oktober 1973 in seiner Wahlheimat New York City verschied, war Ludwig von Mises ein Außenseiter unter den Berufsökonomen und der breiteren Öffentlichkeit unbekannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er 24 Jahre lang eine „Gastprofessur“ an der New York University bekleidet. Das kleine Häuflein seiner Schüler erhielt Lehrstühle nur in zweit- und drittrangigen Universitäten, und die großen volkswirtschaftlichen Fachzeitschriften waren an ihrer Mitarbeit nicht interessiert.

Beim Tod des Vordenkers schien es, als ob nun auch seine „österreichischen“ Ideen bald das Zeitige segnen würden. So ergeht es schließlich fast allen Universitätslehrern. Zu Lebzeiten genießen sie das Prestige ihrer Position, die Aufmerksamkeit der Schüler und zuweilen auch das Interesse der Öffentlichkeit. Nach dem Ableben breitet sich der Schleier des Vergessens über ihr Wirken und ihre einstige Größe. Nicht so im Falle von Mises. Vierzig Jahre nach seinem Tod haben sich seine Lehren über den gesamten Erdball verbreitet. Es gibt mittlerweile etwa 15 „Mises Institute“ – darunter das Mises Institut Deutschland – und eine ständig wachsende Zahl vor allem junger Forscher, die seine Ideen aufnehmen, weiterentwickeln und korrigieren. Ludwig von Mises ist heute unter Fachleuten als einer der großen Ökonomen des 20. Jahrhunderts anerkannt, und in der Finanzpresse wurde er in den letzten Jahren zum Teil geradezu bejubelt.

Wie ist das zu erklären?

Im Mises’schen Schülerkreis fanden sich eine ganze Reihe vorzüglicher Ökonomen, die den österreichischen Denkansatz weiter entwickelten und verbreiteten. Dazu zählen insbesondere Hans Sennholz, Murray Rothbard und Israel Kirzner. Vor allem der vielseitige und umfassend gelehrte Rothbard kann mit Fug und Recht als einer der grössten Sozialwissenschaftler des 20. Jahrhunderts angesehen werden.

Außerdem inspirierten Mises‘ Schriften mit Lew Rockwell einen der größten politischen Unternehmer der Nachkriegszeit. 1982 gründete Rockwell das weltweit erste Mises Institut, welches seit 1995 in Auburn, Alabama ansässig ist. Es handelt sich dabei um eine rein private finanzierte Organisation zur Entwicklung und Verbreitung der Mises’schen Lehren. Tausende von Studenten kamen bei den dortigen Sommeruniversitäten, Seminaren und Tagungen zum ersten Mal mit den Ideen der Österreichischen Schule in Berührung. Hunderte von jungen Forschern fanden dort eine kongeniale Umgebung und auch finanzielle Förderung, um ihre eigenen Arbeiten voranzubringen.

Aber die Wirkung dieser zweifellos glücklichen Umstände war begrenzt.

Sennholz, Rothbard, Kirzner und alle ihnen nachfolgenden Ökonomen aus der Mises-Schule blieben bislang Außenseiter im Wissenschaftsbetrieb. Nur Kirzner erhielt einen Lehrstuhl an einer Top-Universität, aber eben dieser Kirzner vertrat die Mises’schen Ideen auch nur mit einiger Zurückhaltung. Für jüngere Sozialwissenschaftler ist es auch heute nicht unbedingt ratsam, die österreichische Flagge allzu hoch zu hissen.

Das Rockwell’sche Mises Institut wiederum leistete zwar verblüffend gute und effiziente Arbeit, blieb aber immer ein Familienunternehmen, das bis heute kaum mehr als zwanzig Angestellte zählt und mit einem jährlichen Budget in einstelliger Millionenhöhe klarkommen muss. Es ist ein Zwerg in der weltweiten Landschaft der Denkfabriken und Forschungsinstitute.

Die wesentlichen Gründe, aus denen Mises sich vierzig Jahre nach seinem Tod wachsender Bekanntheit und Beliebtheit erfreut, müssen daher woanders zu finden sein. Der wichtigste ist schlicht und einfach seine herausragende Lebensleistung. Es sind Mises‘ Schriften, die nach wie vor ihre Leser in den Bann ziehen. Sie inspirieren weiterhin junge Denker, die allen beruflichen Nachteilen trotzen, um Sozialwissenschaft à la Mises zu betreiben.

Sein Werk besticht in der Tat durch große Breite, Fülle und Tiefe. Er wird häufig mit den grossen Sozialphilosophen der westlichen Geistesgeschichte in eine Reihe gestellt, mit Denkern wie Montesquieu, Tocqueville und Lord Acton. Mises hat praktisch alle grossen Bereiche der volkswirtschaftlichen Theorie bearbeitet: Werttheorie, Wirtschaftsrechnung, Geldtheorie und -politik, Konjunkturtheorie, internationale Beziehungen, Wirtschaftssysteme, Monopoltheorie, Kapitaltheorie, Wirtschaftspolitik, Methodenlehre und Epistemologie. Er legte auch die Grundlagen zu einer Ökonomie der Familie und zu einer Ökonomie der Sprachgemeinschaften. Er beeindruckt als Historiker (sein allererstes Betätigungsfeld) und als Zeitzeuge.

Für heutige Wissenschaftler und Praktiker finden sich in diesem Werk weiterhin zahlreiche Anknüpfungspunkte. Gerade seine Geld- und Konjunkturtheorie erlebte in den vergangenen Jahren eine Wiedergeburt. Sie wird regelmäßig von den Chefökonomen verschiedener Großbanken zitiert, von staatlichen Forschungsinstituten in der ganzen Welt und sogar von Parlamentariern.

Vor allem aber besticht Mises durch seine Fähigkeit zur Synthese. Er hat nicht nur eine große Vielfalt von Einzelfragen originell bearbeitet. Er hat vielmehr auch immer den allgemeinen Zusammenhang zwischen all diesen Elementen in den Mittelpunkt seines Denkens gestellt. Sein Hauptwerk Nationalökonomie (1940) bzw. Human Action (1949) ist eine glänzende Gesamtschau aller Teile und aller Ebenen der sozialwissenschaftlichen Theorie. Dieses Streben zur Entwicklung eines Gesamtbildes der Wissenschaften und der Künste beflügelte ihn bis zu seinem Lebensende. Hervorzuheben sind hier insbesondere seine Spätwerke Theory and History (1956) und Ultimate Foundation of Economic Science (1962).

Das Mises’sche Vermächtnis ist nicht nur groß, es hat auch nichts von seiner Relevanz eingebüsst. Das allerdings liegt nicht so sehr an Mises selbst. Es liegt daran, dass Wissenschaft und Praxis in den letzten hundert Jahren kaum etwas von diesem Vermächtnis angenommen haben. Sie sind vielmehr mit einiger Konsequenz in die Gegenrichtung marschiert, mit den bekannten Folgen der Verarmung, der Korruption und der ständigen Krisen. Das Mises’sche Denken bietet also weiterhin Anhalts- und Ausgangspunkte für die Gestaltung unserer Zukunft.

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Jörg Guido Hülsmann ist Professor für Ökonomie an der Universität Angers in Frankreich und Autor von «Ethik der Geldproduktion» (2007) und «Mises. The Last Knight of Liberalism» (2007). Zuletzt erschienen «Krise der Inflationskultur» (2013). Jörg Guido Hülsmann ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des “Ludwig von Mises Institut Deutschland”.

Seine Website ist guidohulsmann.com

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