Die Kritik am Staat Israel – der neue deutsche Antisemitismus

27. März 2019 – von Andreas Tiedtke

Das Existenzrecht Israels – wieso wird darüber diskutiert?

Andreas Tiedtke

Der deutsche Publizist und Autor Henryk M. Broder meinte in einer Rede sinngemäß, dass er es für eine Selbstverständlichkeit hielte, das Existenzrecht Israels zu bejahen, es werde schließlich auch nicht über das Existenzrecht Belgiens diskutiert. Und in der Tat, warum ist das Existenzrecht Israels ständiges Thema und nicht das Existenzrecht Schwedens oder Pakistans? Was hat es auf sich mit der ständigen Kritik deutscher Medien und Politiker an der konkreten Staatlichkeit Israels? Warum verhalten sich deutsche Politiker im Grunde widersprüchlich, wenn sie einerseits die Existenz Israels quasi zur deutschen Staatsräson erheben, sich aber mit Staatsführern und Organisationen treffen, die ein Existenzrecht des Staates Israels ablehnen und deren erklärtes Ziel es offen oder in der Konsequenz ihrer Forderungen ist, die Juden aus Israel zu vertreiben? Geht es den Israel-Kritikern um sachliche Kritik, oder ist zu vermuten, dass sich dahinter ein neuer deutscher Antisemitismus verbirgt? Oder gar ein neuer europäischer Antisemitismus? So unterstützen die niederländischen Grünen die gegen Israel gerichtete BDS-Bewegung (BDS: Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen), der es darum geht, israelischen Unternehmern und allgemein den Israelis und dem Staat Israel zu schaden, und die Forderungen stellt, die in ihrer Konsequenz das Ende Israels als jüdischer Staat bedeuten würden.[1]

Grund genug, die Kritik an Israel unter Zuhilfenahme der a priori Handlungswissenschaft Ludwig von Mises (1881 – 1974), der übrigens selbst aus einer jüdischen Familie stammt, auf Stichhaltigkeit hin zu untersuchen. Viele Leser werden Ludwig von Mises als herausragenden Ökonomen der österreichischen Schule der Nationalökonomie kennen, aber seine Methodik, die a priori Handlungstheorie (von Mises nannte sie Praxeologie) ist nicht auf die Ökonomie beschränkt, sondern auf jegliches menschliches Handeln anwendbar, also auch auf politische oder persönliche Konflikte. In der Praxeologie (oder auch Handlungslogik) werden Schlussfolgerungen gezogen ausgehend von der Tatsache, dass der Mensch handelt, also unter mehreren möglichen Zuständen denjenigen wählt, den er am meisten präferiert, und Mittel aufwendet, um diesen Zustand zu erreichen. Diese Schlussfolgerungen sind a priori, weil sie von einem Axiom aus getroffen werden, nämlich dass der Mensch handelt, wie auch die Mathematik oder die Logik insofern A-priori-Wissenschaften sind. Die Naturwissenschaften sind demgegenüber a posteriori, weil in den Naturwissenschaften ausgehend von historischen Daten testbare Hypothesen aufgestellt werden.

Die Kritik des Staat-Seins oder der Herrschaft „an sich“

Handlungslogisch ist Herrschaft das Bedrohen oder Zwingen eines anderen, um ihn zu einer Handlung zu veranlassen, die er ohne die Drohung nicht vorgenommen hätte. Der Herrscher veranlasst den Beherrschten also zu einer Disposition über seinen Körper oder seinen Besitz, und er droht dem Beherrschten für den Fall des „Ungehorsams“ schweren Schaden an.

Der österreichische Philosoph und Ökonom Rahim Taghizadegan nennt diese Art des Handelns auch kratisches Handeln, abgeleitet von dem griechischen Wort kratein, das herrschen und beherrschen bedeutet. Das Wort kratein ist in Worten wie Aristokratie (Edlen-Herrschaft) oder Demokratie (Herrschaft des Dorfes) enthalten und bedeutungsverwandt mit dem Wort archein, was etwa bedeutet „der Erste sein, herrschen“, enthalten beispielsweise im Begriff der „Monarchie“, also der Fürsten- oder Alleinherrschaft. Kratisches Handeln ist aber auch das Handeln des Räubers, der unter vorgehaltener Waffe: „Geld oder Leben!“ fordert, oder des Schutzgelderpressers.

Prinzipiell unterscheidet sich kratisches Handeln von katallaktischem Handeln, worunter Ludwig von Mises den freiwilligen Austausch verstand. Das Wort kommt vom Griechischen katallage, das etwa tauschen bedeutet, aber auch aus einem Feind einen Freund machen. Hierunter fällt sowohl der streng-verknüpfte (synallagmatische) Austausch unter Fremden zweier genau bestimmter Grenzgüter, wie etwa wenn Sie beim Bäcker eine Semmel gegen 40 Cent tauschen. Hierunter fallen aber auch lose auf Gegenseitigkeit angelegte Tauschverhältnisse (reziproke), wie z. B. Geschenke, Wünsche und Bitten äußern und erfüllen.

Gemeinsam ist diesen Formen des Handelns, dass es dabei um zwischenmenschliches Handeln geht. Der andere soll aus der Sicht des ersten Akteurs auch handeln, wobei im Falle des kratischen Handelns ein Schaden in Aussicht gestellt wird, falls dieser nicht gemäß dem Willen des Drohenden handelt. Im Falle des katallaktischen Handelns kann der andere das Angebot schadensfrei ablehnen. Nach dem italienischen Ökonomen Vilfredo Pareto (1849 – 1923) können wir kratisches Handeln im Folgenden als pareto-inferior (antisozial) bezeichnen, weil es a priori bedeutet, dass der eine seine Präferenzen (Vorlieben, Werte) auf Kosten des anderen durchsetzt. Das Ergebnis ist von vornherein win – lose, auch aus der Sicht des Drohenden, sonst würde er die Drohung nicht verwenden. Der eine verbessert seine Situation zu Lasten des anderen.

Katallaktisches Handeln ist hingegen von vornherein pareto-optimal (prosozial), das heißt win – win[2], beide gewinnen aus ihrer subjektiven Sicht. Der Mensch handelt, um seine Unzufriedenheit zu vermindern – oder an Zufriedenheit zu gewinnen, das Leben annehmbarer zu gestalten, was dasselbe ist. Wenn zwei Menschen freiwillig eine Übereinkunft treffen, sich also freiwillig austauschen, schätzen sie das, was der andere hingibt oder anbietet höher ein, als was sie dafür hingeben oder anbieten, ansonsten würden sie nicht tauschen. Wenn ich jemandem anbiete, mit ihm ins Kino zu gehen, und der andere nimmt an, dann macht das unser beider Leben annehmbarer, vermindert unsere Unzufriedenheit, macht uns also zufriedener.

Staaten zeichnen sich dadurch aus, dass es eine Gruppe von Herrschern und eine Gruppe von Beherrschten gibt. Insofern Israel vorgeworfen wird, dass es ein Staat an sich sei, ist dies widersprüchlich: Wieso nicht auch das kratische Handeln anderer Staaten kritisieren, warum nur das Israels? Dass Herrschaft allgemein bedeutet, dass die eine Gruppe, die Herrscher-Koalition, ihren Willen auf Kosten der Beherrschten durchsetzt, ist keine Besonderheit des Staates Israel, sondern ist das Wesen von Herrschaft an sich und daher jedem politischen oder staatlichen Handeln von vornherein immanent. Praxeologisch ist das Herbeiführen pareto-inferiorer Situationen unter Einsatz von Drohung, Zwang und letztlich Gewalt ein Definitionsmerkmal der Herrschaft schlechthin.

Auch das „Demokratie-Spiel“, wie es der ungarische Ökonom Anthony des Jasay bezeichnet (1925 – 2019), stellt keine Ausnahme zu der Schlussfolgerung dar, dass Herrschaft von vornherein antisoziale Zustände (auf Kosten der Beherrschten) herbeiführt. Wenn vier Menschen einen fünften berauben, spielt es für die Einordnung des Handelns keine Rolle, dass 80 Prozent für den Raub sind. Das Handeln bleibt pareto-inferior für den fünften, vier gewinnen auf seine Kosten. Das Demokratie-Spiel bedeute nach de Jasay eine Nutzen-Maximierung für diejenigen, die mittels Drohung und letztlich Gewalt eine andere Besitzverteilung organisieren wollen, als sie sich bei freiwilligem Handeln ergeben hat oder ergeben würde. Und bei ungewichteter algebraischer Addition sei die Gruppe der Verlierer-Koalition, die abgeben muss zu Gunsten der Gewinner-Koalition, am Größten und damit die Ausbeute am ergiebigsten bei genau bei 50 Prozent plus einer Stimme, also der des Median-Wählers.[3]

Bemängelt jemand also, dass der Staat Israel ein Staat ist, der kratisch handelt, also seine Akteure Herrschaft ausüben, so müsste man jeden Staat hierfür kritisieren. Alleine den Staat Israel herauszugreifen, lässt darauf schließen, dass es um etwas anderes geht als um Herrschaft einer Gruppe über eine andere.

Es gibt freundlichere und weniger freundliche Staaten

In einer quantitativen Welt spielen Quantitäten eine Rolle. Das Prinzip Herrschaft ist zwar universell definiert und es bringt a priori pareto-inferiore (win – lose) Situationen hervor, aber es spielt eine Rolle, in welchem Ausmaß die Freiheiten der Menschen, entsprechend ihren Prioritäten zu wählen, eingeschränkt sind. Es ist für den Einzelnen nicht unwichtig, ob er in der Sowjet-Union Josef Stalins oder in Texas oder Liechtenstein oder der Schweiz lebt im Hinblick darauf, inwieweit es ihm möglich ist, sein Leben entsprechend seinen eigenen Präferenzen zu führen.

Und schneidet Israel im Hinblick auf persönliche Freiheiten besonders schlecht ab, insbesondere verglichen mit den Nachbarländern? Die Freiheiten zu wirtschaftlicher Betätigung sind in Israel vergleichsweise größer. Als Resultat konnten die Bürger Israels ihren Wohlstand in den letzten Jahrzehnten vermehren. Ihre Versorgung mit materiellen und immateriellen Gütern, wie Gesundheitsvorsorge und Bildung, hat sich quantitativ verbessert im Vergleich zu den Bürgern seiner Nachbarstaaten. Wert und Wohlstand sind natürlich subjektiv[4], deshalb können sie nicht gemessen werden, weil es keinen allgemeinen Standard gibt zu dem Wert und Wohlstand ins Verhältnis gesetzt werden könnten, und Kennziffern wie das Brutto-Inlandsprodukt verdunkeln mehr als sie erhellen. Gehen wir aber davon aus, dass die meisten Menschen eine reichlichere Versorgung mit Gütern gegenüber einer spärlicheren ceteris paribus (unter sonst gleichen Umständen) vorziehen, hat sich die Situation der israelischen Bürger seit der Staatsgründung 1948 stärker verbessert als die der Bürger der Nachbarländer. Und hiervon profitieren nicht nur die jüdischen und arabischen Israelis, sondern auch diejenigen Araber, die ohne Staatsbürgerschaft in Israel leben oder die mit israelischen Bürgern zusammenarbeiten oder Handel treiben und in der Westbank oder einem sonstigen benachbarten Staat oder Gebiet leben und somit einen Vorteil von der vertieften Arbeitsteilung und dem größeren Kapitalstock haben.

Auch in Bezug auf die Freiheiten der Frauen ist Israel weniger kratisch gegenüber seinen Bürgerinnen. Die Freiheit der Frauen ist in Israel prinzipiell dieselbe wie die der Männer, und der israelische Staat privilegiert sie gleichermaßen wie Männer, wenn es um den Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit oder ihres Besitzes geht. Ebenso im Hinblick auf die sexuellen Präferenzen der Bürger sind die Freiheiten, die Israel seinen Bürgern lässt, weniger eingeschränkt als in den Nachbarländern.

Ich behaupte an dieser Stelle nicht, dass Israel ein besserer Staat ist als andere Staaten oder die Nachbarstaaten; das wäre ein persönliches Werturteil, und Werturteile sind inter-subjektiv nicht zwingend, also keine überprüfbaren Schlussfolgerungen oder Tatsachen. Wer jedoch Israel kritisiert wegen des Staatseins, der müsste nicht nur sehen, dass alle Staaten ihrem Wesen nach auf dem Prinzip der Herrschaft beruhen, sondern auch, dass Israel in mancherlei Hinsicht seinen Bürgern mehr Freiheiten gestattet als andere Staaten. Und für eine Frau ist es zum Beispiel ein Vorteil, wenn sie bei Handlungen entsprechend ihren Präferenzen nicht mit schwerem Schaden bedroht wird, wie auch wenn sie beim Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit und ihres Besitzes unterstützt wird.

Besitz – eine Freiheit und kein Recht

Eine der zentralen Fragen in der Israel-Debatte ist: Wem gehört das Land? Wer hat das Recht zum Besitz? Hierzu möchte ich zunächst den Unterschied zwischen Freiheiten, Rechten und Pflichten sowie Privilegien und Drohungen klären.

Eine Freiheit ist eine Tatsache des Universums, nämlich wählen zu können. Niemand braucht ein Recht oder eine Erlaubnis, um wählen zu können. Der Handelnde wählt, indem er einen Zustand A in der Zukunft einem Zustand B vorzieht und Mittel ergreift, um den bevorzugten Zustand zu erreichen. Auch der Bedrohte wählt die Kooperation, wenn auch nicht freiwillig, aber er zieht sie dem Schaden vor, den der andere angedroht hat. Letztlich wählt sogar der Sklave. Es mag die Wahl sein zwischen Sklaverei und Tod, aber es ist eine Wahl. Freiheiten, also das Wählen und Werten von Menschen, können konkurrieren, das heißt zu Konflikten führen, es gibt nichts in ihrer logischen Struktur, was eine Konkurrenz a priori ausschließt.

Rechte und Pflichten sind Folgen katallaktischen Handelns, also stets win – win, und sie können nicht konkurrieren. Wenn Sie sich verpflichten, dem Autohändler 10.000 Euro zu geben und er sich im Gegenzug verpflichtet, ihnen ein Auto zu liefern, gewinnt jeder aus seiner Sicht, weil ihm das Recht, das er im Gegenzug, sozusagen als Reflex der Pflicht des anderen erhält, mehr wert ist, als die Verpflichtung, die er dem anderen gegenüber eingeht, sonst würde er dies nicht tun. Sie haben das Recht, vom Autohändler die Lieferung eines Autos zu fordern, er hat das Recht, von Ihnen die Bezahlung des Kaufpreises zu verlangen. Rechte und Pflichten können also nicht konkurrieren, und wenn sie konkurrieren, ist das – wenn es bewusst geschieht – eine Folge pseudomatischen Handelns, von griechisch pseudo, also Lüge oder Täuschung. Wenn Sie als Autohändler denselben Gebrauchtwagen an zwei verschiedene Menschen verkaufen, und Sie wissen von Anfang an, dass Ihnen das nicht möglich ist, dann handeln Sie nicht katallaktisch, sondern Sie betrügen; eine weitere Form pareto-inferioren Handelns, das zu einer Win–loseSituation führt, sofern der Plan des pseudomatisch Handelnden aufgeht.

Privilegien sind der Reflex einer Drohung. Wenn jemand Sie zu Gunsten seiner selbst oder eines anderen bedroht, erhält er oder der andere Begünstigte als Reflex hieraus ein Privileg, aber kein Recht. Mit kratischem Handeln können niemals Rechte und Pflichten erschaffen werden, sondern nur Privilegien auf Kosten anderer. In der Jurisprudenz wird nicht zwischen Rechten und Pflichten und Privilegien und Drohungen unterschieden, was zu einer großen Verwirrung führt, denn der Unterschied ist a priori und nach der subjektiven Wertung der beteiligten Personen nicht nur bedeutend, sondern sogar konträr. Privilegien und Drohungen sind immer pareto-inferior, weil der eine auf Kosten des anderen erhält.

Gibt der Erstbesitz ein Recht zum Besitz?

Diese Unterscheidung ist ganz grundsätzlich und immer so, hängt also nur von der Kategorie menschlichen Handelns ab. Und diese Unterscheidung ist wichtig, weil nach vielen Theorien von Homestading, also der Erst-Inbesitznahme von Land, zum Teil davon ausgegangen wird, dass der Erstbesitzer ein Recht zum Besitz gegenüber späteren Hinzukommenden hat. Ob dabei zur Besitzerlangung Arbeit aufgewendet wird (wie John Locke (1632 – 1704) das angenommen hat) oder nicht, ist letztlich gleichgültig, denn Besitz ist kein Recht, sondern eine Freiheit. Besitz ist das Haben und Behaltenwollen eines Gegenstandes als Mittel zum Handeln, und als solches eine Freiheit, die der Mensch wählt. Eigentum[5] als Besitzrecht spielt eine Rolle bei der Unterstützung des Besitzers bei der Verteidigung und Wiedererlangung des Besitzes, aber der Besitz einer Sache an sich ist eine Freiheit, die der Mensch wählen kann, und kein Rechtstitel.

Der Landerwerb Israels

Besitz kann grundsätzlich auf zwei Arten entstehen, entweder (1.) pareto-optimal durch Erstinbesitznahme (win – neutral, der eine erhält etwas, aber nicht auf Kosten eines anderen) oder katallaktisch durch Vereinbarung (win – win), oder (2.) pareto-inferior (win – lose) durch Täuschung, Drohung mit oder Einsatz von Zwang und Gewalt oder Wegnahme, also wenn der eine etwas auf Kosten eines anderen erlangt.

Im Hinblick auf Israel ist ein Erstbesitzer, der das Land in pareto-optimaler Weise erlangt hätte, historisch nicht mehr auszumachen. Der staatliche Vorbesitzer des strittigen Landes vor der israelischen Unabhängigkeit 1948 war der britische Staat, „Unterbesitzer“ waren arabische und auch jüdische Landbesitzer. Die Israelis konkurrierten also mit den Briten und den Arabern um das Land an der Küste der Levante. Keiner dieser drei Gruppen hatte indes der anderen Gruppe gegenüber ein Recht zum Besitz, denn dazu hätten sie entsprechende Verpflichtungen vereinbaren müssen.

Die jüdischen Immigranten kauften Land von den Arabern, verhandelten mit arabischen Organisationen, den Briten und der UNO und ihren Mitgliedsstaaten über einen Aufteilungsplan, handelten also auch katallaktisch, um Land für ihren Staat zu erwerben. Aber die jüdischen Milizen setzten auch Gewalt gegen Briten und Araber als Mittel ein, um den Staat Israel zu errichten. Ich halte es für historisch unstrittig, dass auch die Irgun[6] und die Hagana[7] nicht nur verteidigend gehandelt haben.

Jedoch sind alle Staaten an einem gewissen Punkt in der Geschichte durch gewaltsame Inbesitznahme, durch Krieg und wieder Krieg, durch Unterdrückung anderer Gruppen und innerhalb der eigenen Gruppe in die Welt gekommen. Kein Staat ist entstanden durch einen „Gesellschaftsvertrag“ mit den Beherrschten. Einen solchen Gesellschaftsvertrag gibt es nur in der Fiktion. Zur Entstehung der Staaten schreibt der deutsche Ökonom Franz Oppenheimer (1864 – 1943), übrigens der Doktorvater Ludwig Erhards, den Erhard sehr verehrt hat: Der Staat „ist seiner Entstehung nach ganz und seinem Wesen nach … eine gesellschaftliche Einrichtung, die von einer siegreichen Menschengruppe einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen wurde mit dem einzigen Zwecke, die Herrschaft der ersten über die letzte zu regeln und gegen innere Aufstände und äußere Angriffe zu sichern. Und die Herrschaft hatte keinerlei andere Endabsicht als die ökonomische Ausbeutung der Besiegten durch die Sieger.“[8]

Blickt man auf die deutsche Staatswerdung, so haben sich Fürsten mit ihren Armeen ständig Land und Leute (denn auch diese galten ja als Besitztümer) mit Gewalt streitig gemacht. Und auch „Mehrheitsregeln“ ändern daran nichts. Eine Drohung mit Zwang kann nicht damit „gerechtfertigt“ werden, dass die Koalition der Aggressoren gegenüber den Beherrschten zahlenmäßig größer ist. Es ist ein argumentum ad baculum, der Verweis darauf, dass der Stärkere recht hat.

Wer also Israel wegen seiner Staatswerdung kritisiert, müsste andere Staaten umso mehr kritisieren, die nur auf Grund von Gewalt einer Gruppe gegen andere Gruppen entstanden sind, und die die anderen, katallaktischen Methoden, die bei der Staatsgründung Israels ebenso eine Rolle spielten, gar nicht probierten, nämlich Kauf von Land, Bebauen von bislang unbenutztem Land und Verhandeln um Aufteilung mit vielen Akteuren, um eine Vereinbarung zu erreichen. Dass gerade in Deutschland die Kritik an der jüdischen Staatsgründung so verbreitet ist, verwundert umso mehr, da hier die Geschichte der Nationalsozialisten und ihres grausamen Massenmordes an Bürgern jüdischer Herkunft sehr gut bekannt ist. Natürlich, es gibt keine Erbschuld, aber das Motiv der Israelis, sich nicht mehr auf den „Schutz“ eines anderen Staates verlassen zu wollen, sondern selbst einen „Staat“ zu haben, sollte insbesondere in Deutschland besonders gut verstanden werden können.

Besitzverteilung mit Drohung und Gewalt – Alltag der Umverteilungs-Demokratie

Wer sich als Deutscher gegen die Besitzerlangung Israels durch den jüdischen Staat verwehrt, etwa weil er der Auffassung ist, dass Drohung mit Zwang und Gewalt generell unzulässige Mittel der Besitzerlangung seien, verwickelt sich – vielleicht ohne es sonderlich zu merken – in einen Widerspruch, der gar nicht größer sein könnte.

Denn die meisten Menschen sind nicht generell gegen die Besitzerlangung durch Drohung, Zwang und Gewalt, sondern sie halten diesen pareto-inferioren Besitzerwerb dann für „zulässig“, wenn er von einer besonderen Gruppe von Menschen durchgeführt wird, nämlich dem Staat. Denn viele denken, dass Besitzerwerb generell ein Nullsummenspiel sei, dass also der eine immer irgendwie auf Kosten der anderen besitzt; aber das ist tatsächlich nicht der Fall, denn wie wir bereits gesehen haben, kann Besitz nicht nur pareto-inferior, also auf Kosten eines anderen, sondern auch pareto-optimal erlangt werden: Der katallaktische Austausch von Besitztümern in der Verkehrswirtschaft ist pareto-optimal, also win – win. Alle Beteiligten gewinnen, und es gewinnt gerade nicht einer auf Kosten des anderen.

Eine nachträgliche Änderung dieser Verteilung durch Zwangsandrohung oder Wegnahme ist immer eine Abweichung von diesem Optimum zu Lasten der Bedrohten und zu Gunsten der Drohenden und deren Günstlingen, völlig gleichgültig, unter welchem Namen die Gruppe der Drohenden auftritt. Denn entgegen der Behauptung der Umverteilungs-Befürworter ist freiwilliger Austausch gerade kein Nullsummenspiel, und es verbleibt auch kein fiktives, wie auch immer geartetes „Residuum“ gegenüber der „Gesellschaft“, für das noch einmal bezahlt werden müsste. Niemand ist verpflichtet, zweimal zu bezahlen. Die Verteilung der Besitztümer, wie sie sich bei katallaktischem Handeln ergeben hat, ist bereits pareto-optimal.

Im Falle einer Demokratie mit Zwangsabgaben und „Umverteilung“ handelt es sich praxeologisch um die Organisation einer Aggressionskoalition durch eine Gruppe von Menschen, die andere über die jeweiligen „Spitzenpositionen“ innerhalb der Aggressionskoalition abstimmen lassen. Aber die Handlungen, die sie ausführen, sind Besitzverteilung durch Zwang und Gewalt, also a priori pareto-inferior. Diejenigen, die sich im katallaktischen Austausch aus Sicht ihrer Mitmenschen am besten behaupten konnten und die von diesen daher mit entsprechenden Einnahmen „belohnt“ wurden, werden wieder um ihren Besitz gebracht, gegen ihren Willen, obwohl sie diesen Besitz ohne Zwang erhalten haben. Immer wieder bilden sich – national wie international – solche Aggressions-Koalitionen. Innerhalb eines Staates der Gewinnerkoalition gegen den Rest, international von Staatenbündnissen gegen andere Staaten und Staatenbündnisse im Hinblick auf Rohstoffe, Zölle, Einfuhrsteuern usw. Akzeptiert man Zwang und Gewalt als legitimes Mittel der Besitzverteilung, dann gibt es keinen logischen Cut-Off-Punkt, kein notwendiges Ende. Immer wieder lassen sich Koalitionen bilden, denen es besser gehen würde, wenn sie den Besitz anderer für sich hätten. Das Hauen und Stechen findet kein Ende.

Es ist daher auch widersprüchlich, die Besitzverteilung des Gebiets der Levante, das heute Israel, die Westbank, die Golan-Höhen und den Gaza-Streifen umfasst, zu kritisieren, wenn man prinzipiell mit der Besitzverteilung durch Aggression, Zwang und Gewalt einverstanden ist. Das ist ein wichtiger Punkt. Das ist sozusagen Rosinen-Picken: „Ich finde Besitzverteilung durch Aggression generell gut, habe kein Problem damit, dass überall auf der Welt die meisten Menschen, angestachelt durch aggressive Koalitionen, es für gut halten, Besitz durch Androhung von Zwang und Gewalt abweichend vom Pareto-Optimum zu verteilen, dass frühere Besitzer und Erst-Besitzer immer und immer wieder enteignet werden – aber im Falle Israels nicht, weil die arabischen Muslime vorher da waren.“

Besitzverteilung durch Aggression richtet sich logischerweise immer gegen den früheren Besitzer. Nicht-Besitzer sind hiervon nicht betroffen und spätere Besitzer sind im Falle kratischer Verteilung nur Besitzer, weil das Besitztum den früheren Besitzern weggenommen wurde. Dieser Widerspruch ist unhaltbar. Diese Kritiker sehen aus praxeologischer Sicht den Splitter im Auge Israels, aber nicht den Balken vor dem eigenen Auge.

Eretz Israel und der neue Antisemitismus

Ist also das Kritisieren des Staates Israels als Staat „an sich“, seiner Entstehung und seines jetzigen Vorhandenseins per se antisemitisch? Ich meine, es spricht einiges dafür, wenn Kritiker gerade den Staat Israel herauspicken, so meine Argumentation, und dann Dinge kritisieren, die

  • entweder per se alle Staaten betreffen,
  • in anderen Staaten – auch aus der Sicht der Kritiker – wesentlich mehr Anlass zur Kritik gäben oder
  • sie in anderen Lebensbereichen für völlig in Ordnung halten, nämlich die kratische Besitzverteilung von früheren an spätere Besitzer.

Ich gebe Henryk M. Broder recht, wenn er sagt, er diskutiert nicht über das Existenzrecht Israels, weil er ja auch nicht über das Existenzrechts Belgiens diskutiert. Es ist ein Messen mit zweierlei Maß.

Der neue Antisemitismus kommt als Nicht-Antisemitismus daher. Er ist nicht offen wie der alte Antisemitismus, sondern verdeckt. Niemand stellt sich mehr hin und sagt, „ich bin gegen Juden“. Aber es fällt auf, wenn Israel ständig für Dinge kritisiert wird, die Kritiker bei anderen Staaten oder bei ihrer eigenen politischen Partei für überhaupt nicht kritikwürdig halten. Ich würde noch nicht einmal behaupten wollen, dass allen diesen Antisemiten ihr Antisemitismus unbedingt bewusst ist, aber das macht es auch nicht besser.

[1] http://juedischerundschau.de/auch-hollands-gruene-fuer-boykott-gegen-israel-135911326/

[2] Auch wenn nur einer etwas gewinnt, aber nicht zu Lasten eines anderen, ist dies eine Pareto-Verbesserung und ein Pareto-Optimum, also sozusagen win – neutral anstatt win – win.

[3] Anthony de Jasay, Against Politics, Choosing Procedure, Choosing Substance (E-Book)

[4] Nach der subjektiven Wertlehre, die unter anderem auf den österreichischen Ökonom und Lehrer Ludwig von Mises‘, Carl Menger (1840 – 1921), zurückgeht, ist die Quelle, der Ursprung des Wertes, nicht in Dingen oder Diensten an sich zu finden, sondern sie findet sich im Bewertenden, im Menschen, der ein Mittel wählt, um ein Ziel zu erreichen.

[5] Eigentum kann als Privileg vom Staat gewährt werden, kann aber auch dadurch entstehen, dass sich Menschen einander verpflichten, sich bei der Erhaltung und Wiedererlangung ihres Besitzes zu unterstützen.

[6] „Zu den bekanntesten Operationen gehören der Bombenanschlag auf das King David Hotel 1946 mit über 90 Opfern und die Teilnahme am Massaker von Deir Yasin 1948 mit über 100 Opfern.“ „Das Massaker wurde offiziell von allen Seiten verurteilt, einschließlich der Hagana und der Jewish Agency.“ Quellen: https://de.wikipedia.org/wiki/Irgun_Zwai_Leumi und https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Deir_Yasin

[7] „Nach dem Krieg [Anm.: gemeint ist der 2. Weltkrieg] führte die Hagana anti-britische Operationen in Palästina aus, z. B. die Befreiung internierter Immigranten aus dem Atlit Camp, Bombenanschläge auf das Eisenbahnnetz sowie Sabotageakte auf Radarstationen und Polizeistationen der Briten.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Hagana#Arabischer_Aufstand

[8] https://www.misesde.org/?p=20572

Dr. Andreas Tiedtke ist Rechtsanwalt und Unternehmer.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

Foto: © viperagp – Fotolia.com

 

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