Warum Intellektuelle sozialistische Ideen weiterhin verehren

17. April 2019 – Sozialistische Intellektuelle haben die Konsequenzen ihrer Realitätsverweigerung nicht selber zu tragen. In der freien Welt komfortabel eingerichtet, genießen sie ihre intellektuelle Freiheit.

von Olivier Kessler

Olivier Kessler

Trotz unzähligen fehlgeschlagenen Experimenten: Sozialistische Ideen erfreuen sich auch heute noch enormer Popularität. Insbesondere unter Intellektuellen. Daran hat auch Venezuela nichts geändert, obwohl dort die Ergebnisse dieselben sind wie eh und je: Kollaps der Wirtschaft, Massenarmut, Massenflucht.

Wie schaffen es die Advokaten des Sozialismus, ihre Augen derart vor der Realität zu verschliessen? Mit diesem Phänomen befasst sich ein neues Buch des Ökonomen Kristian Niemietz. Der Autor verweist unter anderem auf die Forschung des Psychologieprofessors Jonathan Haidt über die Entwicklung unserer Urteilskraft. Bei einem nicht unbedeutenden Teil unserer politischen und moralischen Argumentationsweise handle es sich um «Post-hoc-Rationalisierungsversuche». Es gehe nicht primär darum, durch das Studium der Beweislage zu einer Schlussfolgerung zu gelangen. Vielmehr werde eine Schlussfolgerung verteidigt, zu der man bereits zuvor intuitiv und gefühlsmäßig gelangt sei. Jene Fakten werden aufgebauscht, welche die eigene Ansicht unterstützen («confirmation bias»). Beweise, die das Gegenteil belegen, werden hingegen ignoriert oder zurückgewiesen. Oder aber man wird versuchen, die entgegengesetzten Beweise zu zerpflücken, indem man beispielsweise unmöglich hohe Standards von entsprechenden Informationsquellen einfordert. Gleichzeitig wird man sehr lasche Standards bei bestätigenden Quellen anwenden («motivated reasoning»).

Hass auf den Kapitalismus

Auch Intellektuelle sind gegen solche Selbsttäuschungstricks nicht gefeit. Viele von ihnen kommen gefühlsmäßig zum Schluss, der Sozialismus sei besser als der Kapitalismus. Warum? Die Argumente für den Kapitalismus sind kontraintuitiv. Für die meisten Leute fühlt sich der Kapitalismus einfach falsch an, weil er mit Profitmaximierung, Egoismus und Gier assoziiert wird. Es bedarf einer intensiven und disziplinierten intellektuellen Auseinandersetzung mit der freien Marktwirtschaft, um diese zu verstehen und deren Vorzüge wertzuschätzen. Im Gegensatz dazu erscheint der Sozialismus intuitiv richtig zu sein. Der Sozialismus fühlt sich einfach besser an, weil er an das Soziale, das Zwischenmenschliche, das Miteinander, das Altruistische appelliert.

Dass die meisten Argumente gegen den Kapitalismus allerdings lediglich «Post-hoc-Rechtfertigungen» für zuvor intuitiv gefestigte Positionen sind, zeigt sich an der Tatsache, dass sich der Kapitalismus zwar schon seit je im Kreuzfeuer vieler Intellektueller befindet, jedoch nicht immer dieselben Argumente ins Feld geführt wurden. Während des Nachkriegsbooms nach dem Zweiten Weltkrieg, als im eher kapitalistischen Westen enorme Wohlstandsfortschritte für breite Massen gemacht wurden, verschob sich die Argumentationsweise rasch von der «Ausbeutung und Verarmung der Arbeiterklasse» hin zur Behauptung, der Kapitalismus führe zu einer «materialistischen Konsumgesellschaft».

Realitätsverweigerung aus Eigeninteresse

Wichtige Einsichten in die Denkweise vieler Intellektueller vermittelt auch die Forschung des Ökonomieprofessors Bryan Caplan zur «rationalen Irrationalität». Caplan zeigt, dass das Festhalten an falschen Ideologien durchaus rational sein kann, wenn diese die Quelle des eigenen emotionalen Komforts darstellen – oder wenn sie ein wichtiger Bestandteil der eigenen Identität sind. Gerade auf intellektuelle Meinungsmacher, die in der Öffentlichkeit für ein gewisses System einstehen, trifft Letzteres natürlich besonders zu. «Irrational» ist das Festhalten an falschen Ideen nur dann, wenn wir davon ausgehen, dass unser Glaubenssystem ausschließlich durch die Wahrheitssuche motiviert wird.

Stellen Sie sich einmal vor, ein Jean Ziegler, eine Naomi Klein oder ein Noam Chomsky würden einen Artikel veröffentlichen mit dem Titel «Seien wir ehrlich: Es war der Sozialismus, der Venezuela ruinierte». Sie würden eine riesige Fan-Basis enttäuschen und von dieser als «Verräter» gebrandmarkt werden. Ihre Intellektuellen-Karriere könnten sie sich an den Nagel hängen.

An falschen sozialistischen Idealen festzuhalten, kostet westliche Intellektuelle jedoch nichts. Sie müssen nicht in den menschenverachtenden Systemen leben, die sie selbst lauthals propagieren und aus denen viele Menschen flüchten. Sie brauchen keine Hungersnöte zu leiden und staatliche Repressalien zu fürchten. Die sozialistischen Intellektuellen haben die Konsequenzen ihrer Realitätsverweigerung nicht zu tragen. Sie posaunen ihre surrealen Forderungen nach einer Gleichheits-Utopie hinaus, während sie es sich in der freien Welt komfortabel eingerichtet haben und dort die intellektuelle Freiheit, die höhere Umweltqualität und den wirtschaftlichen Wohlstand der kapitalistischen Gesellschaften genießen. Ist das glaubwürdig?

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Dieser Beitrag ist als Gastkommentar am 10. April 2019 zuerst auf der Internetseite der „Neue Zürcher Zeitung“ erschienen.

Olivier Kessler ist Vizedirektor des Liberalen Instituts in Zürich.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

Foto: © pholidito – Fotolia.com

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