„So lernte ich Mises als einen der gebildetsten und bestinformierten Menschen kennen, denen ich je begegnet bin.“
11. Februar 2019 – von Murray N. Rothbard
Ludwig von Mises nahm seine unbezahlte Lehrtätigkeit an der Universität wieder auf, sobald er vom Kriegsdienst (im Ersten Weltkrieg) zurückgekehrt war, und schuf 1918 ein Ökonomieseminar. Mises schreibt, dass er nur deswegen weiter bei der Kammer tätig war, weil ihm ein bezahlter Universitätsposten verwehrt blieb. Obwohl „ich keine Position im Staatsdienst anstrebte“, und trotz seiner Lehrtätigkeit und dem Teil seiner Freizeit, den er der kreativen Wissenschaft widmete, erledigte Mises die zahlreichen Aufgaben als ökonomischer Beamter mit größter Gewissenhaftigkeit und Energie.[1] Nach dem Krieg war Mises neben seiner Tätigkeit bei der Handelskammer noch als Leiter einer vorübergehenden Behörde tätig, die sich mit den Vorkriegsschulden beschäftigte. Der junge Friedrich. A. Hayek lernte Mises als erstes als Untergebener in dieser Behörde kennen, obwohl er auch an dessen Seminar an der Universität teilnahm. Hayek schreibt:
Ich lernte ihn dort hauptsächlich als einen extrem effizienten Manager kennen – die Art von Mann, der stets einen freien Schreibtisch und Zeit zum Reden hat, weil er ein normales tägliches Arbeitspensum in zwei Stunden bewältigte, wie es auch über John Stuart Mill gesagt wurde. So lernte ich ihn als einen der gebildetsten und bestinformierten Menschen kennen, denen ich je begegnet bin. … [2]
Viele Jahre später berichtete Mises mir mit seinem typischen Charme und Esprit von einer Episode aus der Zeit, als er von der österreichischen Regierung zum Repräsentanten für Verhandlungen über den Handel mit dem kurzlebigen bolschewistischen Bela-Kun-Regime in Ungarn bestimmt war. Karl Polanyi, der später in den USA zu einem bekannten linken Wirtschaftshistoriker werden sollte, war der Repräsentant Kuns. „Polanyi und ich wussten beide, dass der Sturz Kuns kurz bevorstand,“ berichtete mir Mises mit einem Augenzwinkern, „also sorgten wir beide dafür, dass sich die ‚Verhandlungen‘ in die Länge zogen, damit Polanyi sicher in Wien bleiben konnte. Wir verbrachten viele angenehme Spaziergänge in Wien, bis die Regierung Kuns ihr unausweichliches Ende fand.“[3]
Ungarn war nicht die einzige Regierung, die in der tragischen und chaotischen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bolschewistisch wurde. In den Wirren der Niederlage sahen sich viele zentral- und osteuropäische Länder versucht, dem Beispiel der bolschewistischen Revolution in Russland zu folgen. Teile Deutschlands wurden kurzzeitig bolschewistisch, und Deutschland entging diesem Schicksal nur dank dem Rechtsruck der SPD, die sich zuvor der marxistischen Revolution verschrieben hatte. In dem neuen kleinen Land, das Rumpfösterreich nun war, und das immer noch unter den Folgen des alliierten Lebensmittelembargos des tragischen Winters von 1918 auf 1919 litt, stand es ebenfalls auf Messers Schneide. Die marxistische, sozialdemokratische Partei unter der Führung des brillanten „austro-marxistischen“ Theoretikers Otto Bauer war in Österreich an der Macht. In einem ganz wesentlichen Sinn hing das Schicksal Österreichs an Otto Bauer.
Bauer war der Sohn eines wohlhabenden, nordböhmischen Fabrikanten und wurde von seinem Lehrer zum Marxismus bekehrt. Er widmete daraufhin sein Leben der Sache des radikalen Marxismus. Er war entschlossen, diese Sache niemals an irgendeine Art des Revisionismus oder Opportunismus aufzugeben, wie es so viele Marxisten in der Vergangenheit getan hatten (und in der Zukunft tun würden). Bauer schrieb sich in Böhm-Bawerks großem Seminar ein, entschlossen, sein dort erlangtes Wissen dazu zu verwenden, die ultimative marxistische Widerlegung von Böhms berühmter Widerlegung der Marx’schen Arbeitswerttheorie zu verfassen. Während des Seminars wurden Bauer und Mises gute Freunde. Bauer ließ schließlich von seinem Unterfangen ab und gab gegenüber Mises praktisch zu, dass die Arbeitswerttheorie tatsächlich unhaltbar ist.
Da Bauer nun plante, Österreich ins Lager der Bolschewisten zu führen, sprach Mises als ökonomischer Berater der Regierung und vor allem als Bürger seines Landes und Verteidiger der Freiheit Nacht um Nacht mit Bauer und dessen nicht weniger fanatisch marxistischen Frau Helene Gumplowicz. Mises wies darauf hin, dass ein bolschewistisches Regime in Wien unweigerlich durch die Alliierten von der Lebensmittelzufuhr abgeschnitten werden würde, und es bei der jetzt schon herrschenden Knappheit nicht länger als ein paar Wochen durchhalten würde. Die Bauers ließen sich schließlich von Mises‘ unumstößlichen Argumenten überzeugen, und taten, was sie geschworen hatten, nie zu tun: sie wandten sich nach rechts und betrogen die Sache des Bolschewismus.
Von nun an galten die Bauers unter radikalen Marxisten als Verräter, und sie wandten sich voller Wut gegen den Mann, den sie für ihre Handlungen verantwortlich machten: Ludwig von Mises. Bauer versuchte, Mises von seinem Universitätsposten entfernen zu lassen, und von da an redeten sie kein Wort mehr miteinander. Interessanterweise beansprucht Mises den Ruhm für sich, den Bolschewismus verhindert zu haben; er hatte dabei keine Hilfe von der katholischen Kirche oder Gruppen von Geschäftsleuten. Er erinnert sich voll Bitterkeit:
Jeder war von der Unausweichlichkeit des Bolschewismus so überzeugt, dass sie nur daran dachten, sich selbst eine vorteilhafte Position in der neuen Ordnung zu sichern. Die katholische Kirche und ihre Anhänger, die Christlich-soziale Partei, waren bereit, den Bolschewismus mit demselben Enthusiasmus willkommen zu heißen, mit dem Erzbischöfe und Bischöfe zwanzig Jahre später den Nationalsozialismus willkommen hießen. Bankdirektoren und Industrielle hofften, unter dem Bolschewismus als ‚Verwalter‘ ein gutes Auskommen zu finden.[4]
Falls Mises beim Aufhalten des Bolschewismus in Österreich erfolgreich war, so war er dies bei seiner zweiten großen Aufgabe als wirtschaftlicher Berater nur teilweise: Dem Kampf gegen die Kreditinflation nach dem Krieg. Mises war üblicherweise mit seinem großen Wissen über Geld und Bankwesen gut dafür gerüstet, sich gegen den Trend der Zeit zu mehr Inflation und billigem Geld zu stellen – einem Trend, dem mit der Abschaffung des Goldstandards durch alle kriegführenden europäischen Länder während des Ersten Weltkriegs voll nachgegeben wurde.
Bei der undankbaren Aufgabe, sich gegen billiges Geld und Inflation zu stellen und nach einem ausgeglichenen Haushalt und einem Ende der Geldmengenausweitung zu rufen, erhielt Mises Hilfe von seinem Freund Wilhelm Rosenberg, einem Anwalt und Finanzexperten und ehemaligen Schüler Carl Mengers. Es ist Mises und Rosenberg zu verdanken, dass Österreich nicht komplett der katastrophalen Inflation erlag, wie es in Deutschland 1923 der Fall war. Allerdings waren Mises und Rosenberg nur in der Lage, die Auswirkungen der Inflation zu verzögern, anstatt sie komplett zu vermeiden. Dank ihres heldenhaften Einsatzes war es möglich, die österreichische Krone 1922 bei einem enorm abgewerteten Tauschverhältnis von 14.400 Papierkronen zu einer Goldkrone zu stabilisieren. „Dieser Sieg kam zu spät“, schrieb Mises. Die zerstörerischen Auswirkungen der Inflation konnten sich weiter entfalten, Kapital wurde durch Inflation und Wohlfahrtsprogramme vernichtet, und der Zusammenbruch des Bankensektors, den Mises zehn Jahre hinauszögern konnte, fand schließlich 1931 statt.
Um ihren Kampf gegen die Inflation weiterführen zu können, suchten Mises und Rosenberg nach politischen Verbündeten, und sicherten sich die widerwillige Unterstützung der Christlich-sozialen Partei, insbesondere ihres Vorsitzenden Pater Ignaz Seipel zu. Bevor Seipel 1922 einwilligte, die Krone zu stabilisieren, warnten ihn Mises und Rosenberg, dass ein Ende der Inflation zu einer „Stabilisierungsrezession“ führen würde, und er sich dem Zorn der Öffentlichkeit würde stellen müssen, wenn die unausweichliche Rezession einsetzen würde. Unglücklicherweise legte die Partei ihre Finanzangelegenheiten in die Hände des korrupten Anwalts Gottfried Kunwald, der befreundeten Politikern und Geschäftsleuten Regierungsverträge zu Vorzugsbedingungen verschaffte. Kundwald erkannte privat zwar, dass Mises Recht hatte und dass eine Weiterführung der inflationären Politik nach einer Stabilisierung zur Katastrophe führen würde, bestand aber darauf, dass sich Mises als Beamter zurückhielt, um die Öffentlichkeit oder fremde Märkte nicht wegen der Situation der Banken in Unruhe zu versetzen – und insbesondere, um den politischen Einfluss von Kunwald und seine Möglichkeit, seinen Freunden Genehmigungen und Staatsaufträge zukommen zu lassen, nicht zu gefährden. Mises befand sich inmitten einer belastenden Situation.
1926 gründete er das Österreichische Institut für Wirtschaftszyklusforschung. Vier Jahre später wurde Mises Mitglied der prestigeträchtigen, staatlichen Wirtschaftskommission zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten Österreichs. Als Mises vom Institut einen Bericht für die Kommission ausarbeiten ließ, wurde klar, dass die Banken kurz vor dem Zusammenbruch standen und dass in Österreich ein katastrophaler Kapitalverzehr stattfand. Die Banken wollten natürlich dafür sorgen, dass die Kommission und das Institut den Bericht nicht veröffentlichten und die eigene heikle Situation an die Öffentlichkeit brachten. Mises war hin- und hergerissen zwischen seiner Verpflichtung gegenüber der wissenschaftlichen Wahrheit und seiner Loyalität gegenüber dem System; also entschloss er sich zu einem Kompromiss: Weder die Kommission noch das Institut würden den Bericht veröffentlichen, sondern der verheerende Bericht sollte von Oskar Morgenstern, dem Direktor des Instituts, persönlich veröffentlicht werden.
Unter diesen bedrückenden Umständen war es kein Wunder, dass Wilhelm Rosenberg an der Situation verzweifelte und in den Tod getrieben wurde. Mises kämpfte jedoch mutig weiter. Es muss für ihn fast eine Erleichterung gewesen sein, als die österreichischen Banken 1931 ihr unausweichliches Schicksal ereilte.[5]
Mises‘ Worte treffen ebenso auf seinen Kampf gegen die Inflation zu, wie sie auf seinen langen, in einer Niederlage endenden Kampf gegen die nationalsozialistische Übernahme Österreichs zutreffen:
Sechzehn Jahre lang kämpfte ich in der Kammer, und erreichte nichts als eine Verzögerung der Katastrophe. Ich erbrachte schwere persönliche Opfer, obwohl ich stets voraussah, dass mir der Erfolg verwehrt bleiben würde. Aber ich bereue nicht, das Unmögliche versucht zu haben. Ich konnte nicht anders handeln. Ich kämpfte, weil ich nicht anders konnte.[6]
Mises wurde oft vorgeworfen, kompromisslos und uneinsichtig zu sein. In einem bewegenden Rückblick auf seine Karriere als Regierungsberater in seinen Memoiren wirft Mises sich das Gegenteil vor – zu kompromissbereit gewesen zu sein:
Von Zeit zu Zeit wurde mir vorgeworfen, meinen Standpunkt zu direkt und kompromisslos vorzutragen, und mir wurde gesagt, ich hätte mehr erreichen können, wenn ich mehr Kompromissbereitschaft gezeigt hätte. … Ich dachte, diese Kritik sei unberechtigt; Ich würde nur effektiv sein können, wenn ich die Situation so wahrheitsgemäß darstellen würde, wie ich sie sah. Wenn ich heute auf meine Tätigkeit für die Kammer zurückblicke, bereue ich nur meine Kompromissbereitschaft, nicht meine Kompromisslosigkeit. Ich war stets bereit, bei unwichtigen Angelegenheiten nachzugeben, wenn ich dadurch nur in anderen, wichtigeren Angelegenheiten Erfolg haben würde. Manchmal war ich sogar zu intellektuellen Kompromissen bereit, indem ich meine Unterschrift unter Berichte setzte, die Behauptungen enthielten, die nicht meiner Meinung entsprachen. Das war die einzige Möglichkeit, die Zustimmung der Kammer oder der Öffentlichkeit zu Dingen zu erhalten, die ich für wichtig hielt.[7]
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Aus dem Englischen übersetzt von Florian Senne. Der Originalbeitrag mit dem Titel The Interwar Years: Ludwig von Mises as Economic Adviser ist am 23.1.2019 auf der website des Mises-Institute, Auburn, US Alabama erschienen.
[1] Siehe Ludwig von Mises, Notes and Recollection (Grove City, Penn.: Libertarian Press, 1978), Seite 73.
[2] Hayek, in Mises, My Years, Seite 219–20.
[3] Mises hatte vor dem Krieg 3 Jahre lang im Zuge seiner Tätigkeit für die Kammer damit verbracht, die Handelsbeziehungen mit Ungarn zu untersuchen, und war deswegen für die Tätigkeit gut qualifiziert. Mises, Notes, Seite 75–76.
[4] Mises bemerkt, dass der Mann mit dem Ruf als bester Manager Österreichs und einer Stelle als Berater einer führenden Bank, der Bodenkreditanstalt, Otto Bauer in Mises` Gegenwart versicherte, er würde lieber “dem Volk” dienen, als den Anlegern. Mises, Notes,Seite 18, siehe auch Seite 16–19, 77. Der Zusammenbruch der Bodenkreditanstalt leitete 1931 die europäische Bankenkrise und die Große Depression ein.
[5] Mises, Notes, Seite 77–83. Mises schrieb, dass ihm dank seines Rufs in Geld- und Bankangelegenheiten etliche Banken Aufsichtsratsposten anboten. Er fügte hinzu, dass „ich dies bis 1921 stets abgelehnt habe, da sie nicht zusichern wollten, dass mein Rat auch befolgt würde: Nach 1921 lehnte ich ab, da ich alle Banken für insolvent und unrettbar verloren hielt. Die Ereignisse gaben mir Recht.” Ibid., Seite 73.
[6] Mises, Notes, Seite 91–92.
[7] Mises, Notes, Seite 74.
Murray N. Rothbard wurde 1926 in New York geboren, wo er an der dortigen Universität Schüler von Ludwig von Mises wurde. Rothbard, der 1962 in seinem Werk Man, Economy, and State die Misesianische Theorie noch einmal grundlegend zusammenfasste, hat selbst diese letzte Aufgabe, die Mises dem Staat zubilligt, einer mehr als kritischen Überprüfung unterzogen.
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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.