Wer soll die Ausbildung unserer Kinder bestimmen – Eltern oder Staat?

7.8.2017 – von Murray N. Rothbard.

Murray N. Rothbard (1926 – 1995)

Die grundsätzliche Frage in der gesamten Diskussion ist einfach: Sollen die Eltern oder der Staat die Aufsicht über das Kind haben?

Ein wesentliches Merkmal des menschlichen Lebens ist es, dass ein Kind viele Jahre lang relativ hilflos ist und seine Möglichkeiten, sich selbst zu versorgen, erst spät reifen. Bis diese Fähigkeiten voll entwickelt sind, kann es nicht als selbstverantwortliches Individuum für sich handeln. Es muss bevormundet werden. Diese Vormundschaft ist eine komplexe und schwierige Aufgabe. Von einer Kindheit in völliger Abhängigkeit von und Unterwerfung unter Erwachsene muss das Kind allmählich in den Zustand eines selbstständigen Erwachsenen hineinwachsen. Die Frage ist, unter welcher Führung und faktischem „Besitz“  das Kind sein sollte: dem seiner Eltern oder dem des Staates? In dieser Angelegenheit gibt es keine dritten oder mittleren Wege. Jemand muss die Kontrolle haben und niemand plädiert dafür, einem Dritten die Befugnis zu übertragen, das Kind an sich zu nehmen und es aufzuziehen.

Es ist offensichtlich, dass natürlicherweise die Eltern für das Kind verantwortlich sind. Die Eltern sind die faktischen „Produzenten“ des Kindes und das Kind steht in der nur denkbar intimsten Beziehung zu ihnen. Die Eltern haben eine familiäre Zuneigung dem Kind gegenüber. Sie interessieren sich für das Kind als Individuum und sind am ehesten interessiert an und vertraut mit seinen Bedürfnissen und seiner Persönlichkeit. Wenn man auch nur ein Stück weit an eine freie Gesellschaft glaubt, in der jeder sich selbst und seine eigenen Erzeugnisse besitzt, dann ist jeder ganz offensichtlich für sein eigenes Kind verantwortlich. Es ist schließlich eines der kostbarsten Produkte überhaupt.

Die einzige logische Alternative zum elterlichen „Kindsbesitz“ ist für den Staat, das Kind den Eltern wegzunehmen und es vollkommen alleine aufzuziehen. Für jeden freiheitsliebenden Menschen ist dies eine absolut grauenvolle Vorstellung. Zum einen werden die Rechte der Eltern rücksichtslos verletzt, denn ihr eigenes Produkt der Liebe wird ihnen weggenommen, um dem Willen Fremder unterworfen zu werden. Zweitens werden die Rechte des Kindes verletzt, denn es wächst in Unterwerfung unter der kalten Hand des Staates auf, der wenig Rücksicht auf seine individuelle Persönlichkeit nimmt. Darüber hinaus – und das ist ein ungemein wichtiger Aspekt –, damit eine Person sich bilden und seine Fähigkeiten in Gänze entwickeln kann, braucht sie Freiheit für diese Entwicklung. Weiter oben wurde beschrieben, wie fundamental Gewaltfreiheit für die Entwicklung von Vernunft und Persönlichkeit eines Menschen ist. Was für eine Ironie!

Der Staat beruht in seinem Kern auf Gewalt und Zwang. Die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Staat und anderen Individuen und Gruppen ist nun einmal der Umstand, dass der Staat die einzige (legale) Macht hat, Gewalt auszuüben. Im Gegensatz zu allen anderen Personen und Organisationen, erlässt der Staat Dekrete, die befolgt werden müssen und die bei Nichtbefolgung das Gefängnis oder den elektrischen Stuhl nach sich ziehen. Das Kind würde unter den Flügeln einer Institution aufgewachsen, die auf Gewalt und Einschränkung beruht. Welche Form friedlicher Entwicklung kann unter solchen Vorzeichen entstehen?

Darüber hinaus ist es unvermeidlich, dass der Staat auf Gleichförmigkeit in der Pflichtenlehre bestehen würde. Nicht nur entspricht Gleichförmigkeit dem bürokratischen Wesen eher und ist leichter durchzusetzen, es ist auch fast unvermeidlich, dort wo der Kollektivismus den Individualismus verdrängt hat. Mit dem kollektiven Staatsbesitz an den Kindern, der das individuelle Eigentum und das Recht ersetzt hat, ist es klar, dass das Kollektivprinzip auch im Unterricht durchgesetzt würde. Über allem würde die Lehre vom Gehorsam gegenüber dem Staat gelehrt werden. Da Tyrannei nicht wirklich mit dem menschlichen Geist übereinstimmt, der nach der Freiheit für seine volle Entwicklung verlangt, würden notwendigerweise Techniken der Indoktrination von Ehrfurcht vor dem Despotismus und andere Formen von „Gedankenkontrolle“ entstehen. Statt Spontaneität, Vielfalt und unabhängigen Menschen, würde eine Rasse von passiven, schafartigen Staatsanhängern entstehen. Da sie sich nicht vollständig entwickeln könnten, wären sie nur halb lebendig.

Niemand zieht dabei solche ungeheuerlichen Maßnahmen von vornherein in Betracht. Selbst die russischen Kommunisten gingen nicht so weit, einen „Kinderkommunismus“ durchzusetzen, obwohl sie fast alles andere unternahmen, um die Freiheit zu beseitigen. Wichtig zu verstehen ist aber, dass dies genau das zwangsläufige Ziel von Etatisten bei der Bildung und Erziehung ist. Die Frage, die sich sowohl in der Vergangenheit und in der Gegenwart stellt, ist: Soll es eine freie Gesellschaft mit elterlicher Kontrolle oder einen Despotismus mit staatlicher Kontrolle geben? In der Zukunft werden die unausweichlichen Folgen aus der Idee von staatlichen Eingriffen und Kontrollen immer offensichtlicher werden. Amerika zum Beispiel, begann zum größten Teil mit einem System von entweder ganz privaten oder philanthropischen Schulen. Im neunzehnten Jahrhundert dann änderte sich der Begriff der öffentlichen Erziehung und Bildung fast unmerklich, bis jeder dazu gedrängt wurde, öffentliche Schulen zu besuchen, und private Schulen beschuldigt wurden, spaltend zu wirken. Schließlich installierte der Staat die Schulpflicht für alle, indem er entweder Kinder dazu zwang, öffentliche Schulen zu besuchen oder willkürliche Standards für Privatschulen festlegte. Die elterliche Unterweisung war verpönt. So kam der Staat immer mehr mit den Eltern über die Kontrolle ihrer Kinder in Konflikt.

Nicht nur entwickelten sich die staatlichen Kontrollen immer weiter fort, der negative Effekt wurde zusätzlich verstärkt von dem Gebot der Gleichheit vor dem Gesetz, das im politischen Leben vorherrscht. Überhaupt wuchs die Leidenschaft für Gleichheit. Das Ergebnis war die Entwicklung in die Richtung, alle Kinder als gleichartig zu begreifen, jedes Kind gleich zu behandeln und eine vollständige Vereinheitlichung im Klassenzimmer zu etablieren. Früher orientierte man sich tendenziell am Klassendurchschnitt. Da dies aber frustrierend für die Schwächsten ist (die aber im Namen der Gleichheit und der Demokratie auf dem gleichen Level wie die anderen gehalten werden müssen), neigt die Lehre immer mehr dazu, am niedrigsten Niveau ausgerichtet zu werden.

Es wird sich im weiteren Verlauf noch zeigen, dass – seitdem der Staat begonnen hat, die Kontrolle über die Erziehung und Bildung zu übernehmen – der offensichtliche Trend dahingeht, mehr und mehr die Unterdrückung und Verhinderung von Erziehung und Bildung zu fördern, anstatt die wahre Entwicklung des Individuums zu fördern. Der Trend geht in Richtung Zwang, erzwungene Gleichheit auf der untersten Ebene, Aushöhlung der Unterrichtsfächer und sogar Aufgabe aller formalen Lehre, Geringschätzung von geistigen Themen, Einimpfen von Gehorsam gegenüber dem Staat und der „Gruppe“, alles, nur nicht eine Entwicklung in Richtung eines kritischen, eigenständigen Geistes. Und schließlich ist es der Machttrieb vom Staat und seinen Schergen, der das Glaubensbekenntnis von der „modernen Bildung“ über die „ganzheitliche Erziehung des Kindes“ lehrt und die Schule zu einem „Lebensabschnitt“ verklärt, wo der Einzelne spielt, sich der Gruppe anpasst etc.

Die Wirkung von dieser sowie aller anderen Maßnahmen ist, jede Tendenz zur Entwicklung von eigenständigem Denkvermögen und individueller Unabhängigkeit zu unterdrücken, unterschiedliche Arten „pädagogischer“ Funktionen (abgesehen von der formalen Unterweisung) von Familie und Freunden erlernen zu können, zu unterbinden und zu versuchen, das „ganze Kind“ in die gewünschte Schublade zu pressen. So hat die „moderne“ Erziehung und Bildung die schulische Funktion des formalen Unterrichts aufgegeben, mit dem Ziel eine Gesamtpersönlichkeit herauszubilden, und stattdessen die Gleichheit des Lernens auf dem Niveau des Schwererziehbarsten zu erzwingen und die allgemeine pädagogische Rolle des Elternhauses und anderer Einflüssen soweit wie möglich zu verdrängen. Da niemand die „Vergemeinschaftung“ von Kindern akzeptieren wird, muss die staatliche Kontrolle leiser und subtiler erreicht werden – im kommunistischen Russland war es nicht anders.

Für jeden, der sich für die Würde des menschlichen Lebens interessiert, für die Fortentwicklung des Individuums in einer freien Gesellschaft, ist die Wahl zwischen elterlicher oder staatlicher Kontrolle über die Kinder klar.

Gibt es also keine staatliche Rechtfertigung, sich in die Beziehung zwischen Eltern und Kind einzumischen? Was, wenn die Eltern das Kind misshandeln? Kann man dies zu lassen? Wenn nein, wo ist die Linie zu ziehen? Die Linie kann einfach gezogen werden. Der Staat kann strikt auf die Funktion beschränkt werden, jeden vor der aggressiven Gewalt anderer zu schützen. Dies umfasst sowohl Kinder als auch Erwachsene, da Kinder potenzielle Erwachsene und zukünftige freie Menschen sind. Ein einfaches Versagen, zu „erziehen“ und zu „bilden“, oder vielmehr zu unterrichten, ist kein Grund für eine Einmischung. Der Unterschied zwischen diesen Fällen wurde prägnant von Herbert Spencer beschrieben:

„Kein Grund für einen solchen [staatlichen] Eingriff kann angeführt werden, bis die Rechte des Kindes verletzt worden sind. Ihre Rechte werden nicht verletzt, wenn ihrer Erziehung und Bildung [eigentlich Unterrichtung] vernachlässigt wird. Denn (…) das, was man Rechte nennt, sind nur willkürliche Unterteilungen der allgemeinen Freiheit, seinen Interessen nachgehen zu können. Das kann nur als eine Verletzung von Rechten bezeichnet werden, wenn es tatsächlich diese Freiheit verringert – also eine bisher bestehende Möglichkeit abschafft, seinen Interessen zu verfolgen. Eltern, die die Bildung und Erziehung ihres Kindes vernachlässigen, tun dies nicht. Die Freiheit, seine Interessen zu verfolgen, bleibt intakt. Die Abwesenheit von Unterweisung nimmt in keiner Weise dem Kind die Freiheit, zu tun, was es will, auf die Art und Weise, wie es beliebt. Diese Freiheit ist alles, was die Gerechtigkeit verlangt. Es sei daran erinnert, jede Aggression – jede Verletzung von Rechten – ist notwendigerweise aktiv. Während jede Vernachlässigung, Unachtsamkeit, Unterlassung, notwendigerweise passiv ist. Wie falsch die Nichterfüllung von elterlichen Pflicht auch immer sein mag, (…) sie ist nicht gleichzusetzen mit der Verletzung von universellen Freiheitsrechten durch den Staat und kann daher nicht vom Staat beansprucht werden.“[1]

[1] Herbert Spencer (1970): Social Statics. The Conditions Essential to Human Happiness Specified, and the First of Them Developed (New York: Robert Schalkenbach Foundation), S. 294. Oder wie es ein anderer Autor im Hinblick auf Eltern und andere Mitglieder der Gesellschaft ausdrückte: „Seine Mitmenschen dürfen ihn zwar nicht zwingen, sich um sein Kind zu kümmern, doch sie dürfen ihn mit Gewalt davon abhalten, Aggressionen gegenüber seinem Kind auszuüben. Sie dürfen zwar Handlungen verhindern, sie dürfen aber keine Handlung erzwingen.“ (Clara Dixon Davidson (1892): Relations Between Parents and Children; In: Liberty, 3. September 1892.)

Entnommen aus Education: Free and Compulsory

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Aus dem Englischen übersetzt von Arno Stöcker. Der Originalbeitrag mit dem Titel The Danger of „Public“ Education ist am 26.6.2017 auf der website des Mises-Institute, Auburn, US Alabama erschienen.

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Murray N. Rothbard wurde 1926 in New York geboren, wo er an der dortigen Universität Schüler von Ludwig von Mises wurde. Rothbard, der 1962 in seinem Werk Man, Economy, and State die Misesianische Theorie noch einmal grundlegend zusammenfasste, hat selbst diese letzte Aufgabe, die Mises dem Staat zubilligt, einer mehr als kritischen Überprüfung unterzogen.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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