Der Wohlfahrtsstaat – fortschreitend sich selbst zerstörend

Wie es mit ihm begann, wie es mit ihm enden wird – Aber (noch) nicht enden will die Illusion von ihm.

23.10.2013 – von Klaus Peter Krause.

Klaus Peter Krause

Wenn der Staat und seine Politiker die Bürger bei Laune und bei der Stange halten wollen, müssen sie vor allem für deren wirtschaftliches Wohl und Wohlergehen sorgen, jedenfalls in der heutigen Demokratie. Geschieht das durch Umverteilung von Wohlhabenderen zu Ärmeren und Bedürftigen, aber nicht allein durch eine nachhaltige Wirtschafts- und Finanzpolitik von Maß und Mitte, heißt das Wohlfahrts- oder Sozialstaat. Es ist ein Euphemismus, eine begriffliche Beschönigung für Subventions- und Freiheitsbeschränkungsstaat.

Wie es mit dem Wohlfahrtsstaat begann

Der große, nachhaltige Einstieg in einen solchen Wohlfahrtsstaat hat am Ende des neunzehnten Jahrhunderts begonnen: in Deutschland durch Bismarck, in Großbritannien durch Gladstone und Disraeli, später in den Vereinigten Staaten durch Roosevelt. Maßnahmen von besonderem Gewicht sind die gesetzlichen Absicherungen für das Alter, für Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit gewesen – und sind es noch. Familienbeihilfen und Einkommenszuschüsse für bestimmte Bevölkerungsgruppen gehörten ebenfalls schon dazu.[1] In der wirtschaftlichen Rolle des Staates war das der historische Wendepunkt zu einem neuen politischen Prinzip: Der Staat übernahm die Verantwortung für des Volkes Wohlergehen und nistete sich über die folgenden Jahrzehnte immer mehr in sie ein. Man kann auch sagen: Er riss sie an sich und gibt sie partout nicht mehr aus der Hand.

Das Volk genießt und schweigt

Aber „dem Volk“ gefällt das. Die Ausuferungen des Wohlfahrtsstaates von heute scheint es geradezu zu genießen und schweigt. Dabei nehmen die schon lange überhand. Jedenfalls lehnt sich „das Volk“ gegen sie nicht auf. Die kritischen Denker im Land – darunter Ökonomen, Politik- und Sozialwissenschaftler, Philosophen, andere nachdenkliche Geister – tun das sehr wohl. Zu ihnen gehört Gerd Habermann mit seinem Buch „Der  Wohlfahrtsstaat – Ende einer Illusion“.[2]  Habermann ist Wirtschaftswissenschaftler, Honorarprofessor (Universität Potsdam), Wirtschaftsphilosoph und Publizist. Mit dem Entstehen des deutschen Sozialstaates hat er sich schon in seiner Dissertation 1972 beschäftigt.[3]

Die „Fortschritte“

Ironisch konstatiert Habermann, der Wohlfahrtsstaat in Deutschland habe „weitere bedeutende Fortschritte“ gemacht. Als Beispiele nennt er den flächendeckenden Ausbau von staatlich finanzierten Familienersatzeinrichtungen (Kindergrippen mit Rechtsanspruch auf sie, Ganztagsschulen), eine freiheitsfeindliche sogenannte Gleichbehandlungsgesetzgebung („die auf erstaunlich wenig Widerstand traf“), der Ausbau vieler einzelnen Sozialleistungen (Beispiel Betreuungsgeld), das fortgesetzte politische Vorgehen gegen die Selbständigkeit (so in der gesetzlichen Alterssicherung), das Vorantreiben einer europäischen „Transferunion“ mit schlimmen Konsequenzen gerade für Deutschland. Enorm gewachsen seien „die Schatten dieser Fehlentwicklungen“. Die Staatsschulden hätten bedrohliche Ausmaße erreicht, und demographisch sehe es ebenfalls anhaltend schlecht aus, „nun schon seit über vier Jahrzehnten“.

Eine Chance zu einer Renaissance freiheitlicher Ideale?

Sicher scheint ihm, „dass sich der Standard der Staatsversorgung nicht halten lassen wird und eine bedeutende Inflation heraufzieht“. Doch meint er darin auch eine Chance zu einer Renaissance freiheitlicher Ideale im Sinne von Ludwig Erhard zu sehen. Denn die Alternativen seien sonst fortschreitende Verarmung, Staatsbankrott, gesteigerter Druck von Fiskalismus und Egalitarismus und die damit einhergehenden politischen und sozialen Unruhen sowie am Ende neue autoritäre ‚Lösungen’. Ob die Chance wirklich ergriffen wird, ist freilich sehr zweifelhaft. Hinauslaufen wird es, so ist zu befürchten, auf die „autoritären Lösungen“  mit noch mehr Unfreiheit für die Bürger.

Der Wohlfahrtsstaat in der Monarchie der Aufklärungszeit

Habermann schlägt einen großen Bogen. Er beginnt historisch mit dem Wohlfahrtsstaat der Könige in der Monarchie der Aufklärungszeit (Buch I) und den Kapiteln Politik als Beglückungslehre, Der regulierende Staat,  Ausschreitungen der Vernunft, Der Aufmarsch der Kritiker (Mirabeau, Möser, Herder, Goethe, Schiller, W. v. Humboldt, Kant)  und als Exkurs mit Bemerkungen zu romantischen Staatsauffassung. Es schließen sich an Die Ideale der offenen Gesellschaft (Buch II). Habermann schreibt hier über das Deregulierungsprogramm von Adam Smith und die moderne Ökonomie in Deutschland, über den Beamtenabsolutismus im Namen der ‚Freiheit’, zu den sozialen Idealen von 1848 und darüber, wie weit der deutsche Liberalismus ging (Gegen das Staatspatriarchat, Freiheit als Sozialprogramm, Die Liberalen und die Armut, Grenzen der Wirksamkeit des Staates in den Bereichen Transportdienst, Versicherungen, Berechtigungs- und Konzessionswesen, Unterricht, geistiges Eigentum, Staatsindustrie und Staatsvermögen sowie Steuern) und über Gedanken, die sich Jenseits von Angebot und Nachfrage (der Titel eines Buches von Wilhelm Röpke) bewegen.

Was den Wohlfahrtsstaat treibt, welche Mächte in ihm wirken

Aber „die Ideale der offenen Gesellschaft“ sind vor die Hunde gegangen, und so beschreibt Habermann im dritten Abschnitt  (Buch III) die „Wiederkehr der geschlossenen Gesellschaft“. Ihm vorangestellt ist ein Zitat Carl von Rottecks: „Der Staat ist keine Anstalt zur Menschenproduktion, sondern zur Menschenbeglückung.“ In den sieben Kapiteln geht es unter anderem um das Programm des neuen Interventionismus, Bismarcks neuen Wohlfahrtsstaat und darum, wie es beim Übergang vom „sozialen Königtum“ zur „sozialen Demokratie“ zum Triumph des Paternalismus gekommen ist. Hier liest man ferner, was den Wohlfahrtsstaat treibt und welche Mächte in ihm wirken: der Krieg, die Parteien im Wettbewerb, die Pressure Groups, die Herrschaft der Experten und das Bestreben, besondere Härtefälle („Grenzfälle“), die jede sozialgesetzliche Regelung schafft, zu beseitigen.

Seit Bismarck –  der Siegeszug der Sozialintervention schier unaufhaltsam

Für Habermann gibt es „kein erstaunlicheres Schauspiel in der jüngeren Sozialgeschichte als den erneuten und anscheinend unaufhaltsamen Siegeszug der Sozialintervention, seit Bismarck sich gegen die Liberalen und ihre Ordnungsvorstellungen durchsetzte“. Er zitiert Bertrand de Jouvenel: „Die Menschen geben dem Staat ihre individuellen Rechte zurück, um von ihm Sozialrechte zu empfangen … Es sieht so aus, als handle es sich um die Errichtung eines riesigen Patriarchats.“  Hier ist auch das von Adolph Wagner formulierte Gesetz der zunehmenden Staatstätigkeit im Spiel und längst verifiziert. Habermann schreibt: „Die Zunahme der Staatsquote am Bruttosozialprodukt in allen Ländern der westlichen Zivilisation ist verblüffend.“

Die Opposition gegen den neuen Wohlfahrtsstaat

Der deutsche Marsch in den Wohlfahrtsstaat seit der Niederlage der Liberalen gegen Bismarck mit ihrer so großen Tragweite blieb nicht ohne intellektuelle Opposition. Um die Geschichte dieses Widerspruchs gegen den neuen Wohlfahrtsstaat geht es im vierten Abschnitt (Buch IV). Habermann beleuchtet einige seiner Stationen und Argumente. Erst dann werde jene Tragweite der Entwicklung seit 1878 voll erkennbar. Unter der Überschrift Liberalismus – ‚Sache für Tröpfe’? wird der Leser mitgenommen auf eine Tour d’Horizon liberaler Parteiprogramme. In einem Exkurs geht Habermann auf Drei Außenseiter vor dem Wohlfahrtsstaat ein, denen er „in der Geschichte der freiheitlichen Ideen und Beurteilung der deutschen Entwicklung seit 1870 bzw. 1878“ eine Sonderstellung zumisst: Friedrich Nietzsche, Friedrich Naumann und Max Weber.

Die Wiedergeburt liberalen Denkens

Ein weiteres Kapitel befasst sich mit der Sozialpolitischen Diskussion nach Bismarck. Das dann folgende handelt von der Wiedergeburt des liberalen Gedankens, der in der Weimarer Republik seinen Tiefpunkt  erlebte und in der despotischen NS-Zeit nahezu seine Auslöschung. Hier kommen Ludwig von Mises und Walter Eucken zur Geltung, Friedrich A. von Hayek und Ludwig Erhard – Erhard als Kämpfer gegen den Wohlfahrtsstaat, Hayek als liberaler Utopist, Eucken als Vertreter des Ordo-Liberalismus (Sozialpolitik als Wirtschaftsordnungspolitik), Mises mit seiner rigorosen, schroffen Haltung des Entweder – oder!. Natürlich werden auch die Denker Wilhelm Röpke, Alexander von Rüstow und Franz Böhm erwähnt.

Rückkehr zu einem Wohlfahrtsdespotismus

Im Schlussteil des Buches liest man von der Wiederkehr des ‚Aufgeklärten Wohlfahrtsdespotismus’.  Habermann leitet ihn so ein: „Nur wenige wissen, dass unser moderner Wohlfahrtsstaat eine Erfindung aus Deutschland, speziell aus dem Preußen des 18. Jahrhunderts ist und dass wir heute zu einem Wohlfahrtsdespotismus zurückkehren, an dessen Spitze im 18. Jahrhundert ‚aufgeklärte’ Bürokraten und der König standen und heute ‚aufgeklärte Bürokraten’ (zum Teil auch in Brüssel) und ein demokratisch gewähltes Parlament stehen. Es sind praktisch nur die obersten Befehlstellen ausgetauscht worden, strukturell und ideologisch ergibt sich ein recht ähnliches Bild.“

Dem demokratischen Wohlfahrtsstaat heute fehlt, was der monarchische damals hatte: die freiheitliche Perspektive

Habermann vergleicht den älteren anfänglichen Wohlfahrtsstaat mit dem modernen ausufernden von heute anhand ihrer Ähnlichkeiten und Unterschiede in ihren Methoden. Seine Beispiele dafür sind Sozialversicherung, Arbeitsmarkt, Zunftwesen, Arbeitsrecht, Gesundheitswesen, Familienpolitik, Mieterschutzpolitik, staatlicher Wohnungsbau, Bauernschutz. Er konstatiert, der moderne Wohlfahrtsstaat gehe teils über die Interventionen und Maßnahmen des älteren hinaus, teils bleibe er hinter ihnen zurück. Was prinzipiell den älteren vom gegenwärtigen unterscheide, sei dessen freiheitliche Perspektive mit dem Ziel zum Gebrauch der eigenen Vernunft. In der Politik heute fehle sie. Er findet es erstaunlich, dass manche die gegenwärtige Gesellschaft als die „freieste der deutschen Geschichte“ bezeichnen und untersucht, wo es zutrifft und wo nicht. Einschneidende Verluste an Freiheitsrechten heute registriert er bei der ‚Leistungsverwaltung des Wohlfahrtsstaates’. Fortschritte könne sie immer nur auf Kosten des Eigentums, der Freiheit und der Eigenverantwortlichkeit der Bürger machen. Sozialer Schutz sei immer mit Herrschaft verbunden. Jede Leistung des Staates, habe Ludwig Erhard gesagt, beruhe auf einem Verzicht des Bürgers.

Des Wohlfahrtsstaates ‚natürlichen Feinde’

Habermanns Fazit aus seiner Arbeit lautet, „dass die Logik des Wohlfahrtsstaates dahin drängt, die offene Gesellschaft mit Marktwirtschaft, Vertragsfreiheit, Rechtsstaat und Parteienkonkurrenz wieder in eine geschlossene Gesellschaft mit dominierendem Staatseingriff zurückzubilden“. Die Demokratie als solche biete keine Garantie gegen ein neues Bevormundungssystem. Der Wohlfahrtsstaat konkurriere mit den Institutionen der freien Gesellschaft, mit Familie, Privateigentum, Marktwirtschaft, freien Initiativen und spontanen Selbstregulierungen verschiedener Art und mit dem individuellen Unabhängigkeitssinn; sie seien seine ‚natürlichen Feinde’. Der Wohlfahrtsstaat, liest man an einer späteren Stelle, wolle Familienersatz sein. Aber für Habermann befindet er sich in „der fortschreitenden Selbstzerstörung“. Der Buchtitel spricht vom „Ende einer Illusion“. Aber in der Politik und in der Bevölkerung, so sei angemerkt, besteht sie weiter, selbst wenn sich der eine oder fragt, ob das auf Dauer gut gehen kann.

Das Heimtückische schleichender Prozesse

Kann der Wohlfahrtsstaat, fragt Habermann, überleben – mit den geschilderten Idealen, den Zwängen, den derzeitigen Strukturen? Existenziell bedroht sei er vor allem von der Schuldenlast, „die wir bisher in diesem Umfang nur aus Kriegszeiten kannten“, und von der demographischen Entwicklung. Nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte liege das Heimtückische sogenannter schleichender Prozesse darin, dass die Normalbürger die Folgen erst in einem fortgeschrittenen Stadium wahrnähmen, und zitiert Hans Rentsch: „Es scheint lange gerade noch zu gehen, bis am Schluss nichts mehr geht.“ Dann, erst dann schlage die Stunde der Reform und der großen Reformer, erst dann würden sie politisch-psychologisch möglich. „Für unreformierbar gehaltene totalitäre Gesellschaften der Gegenwart sind unter dem Druck ihrer unlösbaren Probleme zusammengebrochen – und so wird es wohl auch einmal, vielleicht schon bald, dem Wohlfahrtsstaat ergehen.“

Wozu selbst eine Demokratie fähig ist – zum Beispiel Neuseeland

Anlass zum Fatalismus besteht für Habermann nicht. ‚Politisch möglich’ geworden seien doch immerhin Typen wie Ronald Reagan, Margaret Thatchers, Roger Douglas (Neuseeland) oder unter anderen politischen Umständen ein Ludwig Erhard, Michail Gorbatschow oder Teng Hsiao Ping allerdings auch ein Lenin, Stalin, Mussolini oder Hitler. Am eindrucksvollsten zeige Neuseeland, wozu auch eine Demokratie fähig sei. Zum Begriff Wohlfahrtsstaat befindet Habermann: „Es handelt sich bei diesem Begriff um einen Euphemismus“. Und als Leser fragt man sich unwillkürlich, warum man nicht schon selbst darauf kam, wie beschönigend er ist mit alldem, was hinter und in ihm steckt. Vieles in dem Buch ist dem einschlägig ohnehin gebildeten Leser bekannt, aber in dieser Zusammenschau und Verknüpfung auch für ihn lehrreich. Man liest das Buch mit informatorischem Gewinn und deshalb auch mit Gewinn an zusätzlichen Erkenntnissen oder deren Vertiefung.

[1] In Preußen hielt Sozialstaatliches schon 1794 Einzug, wenn auch bescheidenen, und zwar mit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht mit der Verpflichtung zur Versorgung von Armen durch den Staat bzw. den Gemeinden, zur Behandlung und Versorgung von erkrankten Gesellen unter bestimmten Voraussetzungen durch Handwerkskassen, zur Krankenhilfe und „Gnadenlohn“ im Bergbau durch Bergwerkseigentümer, zu langfristigen Geldleistungen (auch an Witwen) aus der Knappschaftskasse. Quelle: Dieter Döring. Sozialstaat. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2004. Seite 113. Die FAZ vom 20. September 2004 schrieb, dass in diesem Buch von Döring „alles Notwendige zu finden ist, um den überforderten deutschen Sozialstaat zu begreifen“.

[2] Gerd Habermann: Der Wohlfahrtsstaat – Ende einer Illusion. FinanzBuch Verlag, München 2013. 478 Seiten. 19,99 Euro. (ISBN 978-3-89879-800-6)

[3] Gerd Habermann: Über Junkertum und Bürokratie. Zur Genesis des deutschen Sozialstaates. Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Konstanz 1972. Veröffentlicht 1977.

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Über Klaus Peter Krause: Jahrgang 1936. Abitur 1957 in Lübeck. 1959 bis 1961 Kaufmännische Lehre. Dann Studium der Wirtschaftswissenschaften in Kiel und Marburg. Seit 1966  promovierter Diplom-Volkswirt. Von 1966 bis Ende 2001 Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, davon knapp elf Jahre (1991 bis Ende 2001) verantwortlich für die FAZ-Wirtschaftsberichterstattung. Daneben von 1994 bis Ende 2003 auch Geschäftsführer der Fazit-Stiftung gewesen, der die Mehrheit an der Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH und der Frankfurter Societäts-Druckerei gehört. Jetzt selbständiger Journalist und Publizist. Seine website ist www.kpkrause.de

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