Alexander Solschenizyn: Die ökonomische Wahrheit des Gulag

5. April 2019 – von Joshua Hofford

Im Jahr 1929 verabschiedete das Politbüro der Kommunistischen Partei der Sowjetunion eine Resolution, die das wirtschaftliche Schicksal und den Zweck des nationalen Gefangenenlagersystems, des Gulag, besiegelte. Der Titel der Resolution lautete: „Über die Nutzung der Arbeit von Strafgefangenen“, und befähigte den Sowjetstaat, die Arbeit aller Gefangenen auf der Solowezki-Insel auszubeuten. Die Insel wurde damit praktisch zu einer Anlage und ihre Gefangenen wurden von ihrer eigenen Regierung zu Sklaven gemacht. Mehr als 50.000 Gefangene sollten auf die Insel geschickt werden und viele von ihnen nicht zurückkehren.

Durch die Öffnung sowjetischer Archive und die Freigabe von CIA-Berichten ist inzwischen die vollständige Einbeziehung von Gulag-Häftlingen in die russische Wirtschaft bekannt. Die Schwerindustrie, die Bergbau- und die Bauindustrie, sind nur einige Bereiche der russischen Wirtschaft, die sich auf die Sklavenarbeit der Gulag-Häftlinge stützten. Obwohl die Motivation für den Gulag ebenso ideologisch wie wirtschaftlich war – im Glauben, der Mensch könne durch Arbeit vervollkommnet werden -, sind die wirtschaftlichen Folgen des Systems unbestreitbar.

Verhaftet nach Quotenvorgaben und nicht nach Beweisurteilen, wurden die Gefangenen oft vom NKVD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) aus ihren Häusern, Geschäftsräumen oder direkt von der Straße geholt. Viele Geschichten über Verhaftungen, Verhöre, Folterungen und Transporte ins Lager wären vielleicht für alle Zeiten in Vergessenheit geraten, wäre Alexander Solschenizyn nicht gewesen.

Der Gulag als wirtschaftliche Ressource

Von Anfang an hatte der Gulag einen wesentlichen Einfluss auf die sowjetische Wirtschaft. Das stalinistische Gulag-Gefängnissystem der 1930er Jahre half beim Bau des vom Unglück verfolgten Weißmeerkanals, der zu eng und zu flach für den See- oder Handelsverkehr war. Begonnen in der zweiten Hälfte des Jahres 1930, wurde der Kanal in zwei Jahren gebaut und „verschlang“ – so Schätzungen – 100.000 Gulag-Häftlinge. Unter der Kontrolle des NKVD war der Bau des Kanals überstürzt erfolgt und sowohl Planung als auch der Bau selbst erfolgten unter dem Einsatz nur weniger Technik.

Ein integraler Bestandteil der Fünfjahrespläne Stalins betraf die Schwerindustrie sowie den Abbau von Mineralien und Rohstoffen. Politische Gefangene mit langen Haftstrafen wurden in die Kolyma-Goldminen im äußersten Osten der UdSSR oder in die Kohlebergwerke des Karagandabeckens verbracht. In den meisten Fällen wurden die Lager so schlecht betrieben, dass die Betriebe rote Zahlen schrieben.

Die Opportunitätskosten, die sowjetische Bevölkerung so zahlreicher Ingenieure und Wissenschaftler zu berauben, sie als Klassenfeinde zu beschuldigen und sie in den Lagern arbeiten zu lassen, waren enorm und brachten das Wachstum der sowjetischen Industrie ins Wanken. Diese Methode wurde bei der Entkulakisierung der Nation durch Stalin angewendet, was einer sorgfältig geplanten Wirtschaft völlig entgegenstand. Anne Applebaum hat die Theorie aufgestellt, dass dies einer der Hauptgründe dafür war, dass die Sowjetunion sich abmühte, den Anschluss an den Westen zu finden.

Das Ausmaß des Gulag-Archipels

Von seinen Ursprüngen auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer bis zu den berüchtigten Kolyma-Goldminen im äußersten Osten des Sowjetreichs erstreckte sich der Gulag von einem Ende der Nation zum anderen. Die sowjetische Geheimpolizei und die Terrorpolitik waren ein „integraler Bestandteil des sowjetischen Systems“, ein metabolischer Teil der staatlichen DNA, den Lenin selbst implementiert hatte. Gleich einer Förderbandvorrichtung, die sich tief in die sowjetischen Städte grub, wurden unschuldige Menschen wie Erz gefördert und in Mahllager eingebracht und so ein System von Lagern gespeist, das in jeder größeren Stadt Russlands mit seinen zwölf Zeitzonen existierte.

Viele westliche Historiker beharren nach wie vor darauf, die Arbeitslager der russischen Sozialisten hätten ihren Ursprung in zaristischen Zeiten, seien keine Erfindung von Lenin und Stalin – diese hätten sie zum bestehenden System nur hinzugefügt. Im Vergleich zu den tatsächlichen Zahlen der Lagergefangenen und den Gefangenentypen unter dem russischen Zaren im Jahr 1917 (nur 28.600, meist Kriminelle) rücken jedoch die Millionen in den Lagern der Lenin- und Stalinzeit als der Ausbruch der DNA des Systems in den Fokus.

Das Ausmaß des Gulag ist nicht zu übersehen: In der Spitze waren 15 Prozent der gesamten sowjetischen Bevölkerung als „Klassenfeinde“ auf irgendeine Art und Weise in das Lagersystem involviert. Angeklagt und verurteilt durch Quoten- und nicht durch Beweise, wurden Kulaken – so genannt von Stalin und den Young Pioneers -, Kriegsgefangene (POWs) und jeder, der im Zusammenhang von Artikel 58 des Sowjetischen Strafgesetzbuches gefangen genommen wurde, in den Morast der Lager verbracht, zu Geständnissen und zum Wegwerfen Ihrer Leben gezwungen.

Das volle Ausmaß des Gulag und seiner sozialistischen Vorspiegelung staatlichen Schutzes und der menschlichen Perfektionierbarkeit wurden der Welt von Alexander Solschenizyn offengelegt. Noch während seiner Zeit als Lagerarbeiter begann Solschenizyn im Jahr 1956 mit dem Schreiben von One Day in The Life of Ivan Denisovich, ein fiktiver Bericht über einen Gulag-Häftling. Weitere Bücher über die sowjetische Unterdrückung sollten folgen, darunter sein Meisterwerk Der Archipel Gulag, eine Dokumentation der Geschichte und des Lebens im Gulag in drei Bänden.

Solschenizyn wurde von seiner sowjetischen Leserschaft wie eine Befreiung und mit Neugierde aufgenommen, insoweit der sowjetische Ministerpräsident Nikita Kruschev selbst die Veröffentlichung von One Day in The Life of Ivan Denisovich 1962 erlaubte. Kopien wurden von vielen Mitgliedern des Politbüros gelesen. Bald nach seiner Veröffentlichung wurde das Buch in der Sowjetunion nicht mehr gedruckt und aus Bibliotheken und Buchhandlungen entfernt, aber das spielte keine Rolle mehr. Die wirtschaftliche Bedeutung des Gulag und seine verheerenden Auswirkungen auf das russische Volk sollten in den kommenden Jahren weltweit voll zur Geltung kommen.

Reaktion auf Alexander Solschenizyn

Als Solschenizyn 1956 aus dem Gefängnis entlassen wurde, lebte er in einer Welt ohne Stalin. Sofort begann er zu schreiben, und die sowjetische Rezeption von A Day In The Life war so dramatisch und weitreichend, dass die meisten Menschen in der UdSSR dachten, die staatliche Zensur sei vorbei. Das Buch wurde sofort zu einem Bestseller sowohl in der Sowjetunion als auch auf internationaler Bühne.

Endlich hatte jemand hatte das Gemetzel des russischen, sozialistischen Systems aufgedeckt und andere sowjetische Dissidenten, wie den bekannten russischen Physiker Andrej Sacharow, motiviert, sich in den 1960er Jahren der russischen Dissidentenbewegung anzuschließen. Solschenizyn war zu einer solch galvanisierenden Gestalt geworden, dass er 1974 aus der Sowjetunion vertrieben wurde, nachdem er die Manuskripte des Gulag-Archipels geschrieben und zur internationalen Veröffentlichung ins Ausland geschickt hatte. Seine Bücher waren der Beginn eines langsamen Verglühens Russlands, das die Sowjetunion schließlich in den Aschehaufen der Geschichte schicken sollte.

Alexander Solschenizyn schrieb während seines Exils in Vermont immerfort und er träumte davon, eines Tages wieder in seine Heimat zurückkehren zu dürfen. Das Unmögliche wurde wahr, als Solschenizyn kurz nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 nach Russland zurückkehrte. Seine Schriften in seiner Abwesenheit hatte die öffentliche Meinung hinbewegt zur Wahrheit über die Verrottung des sozialistischen Systems, aber wenig getan, um die politische Struktur Russlands zu stabilisieren.

Der domino-ähnliche Fall aller Ostblocknationen in der Sowjetunion verlief schnell und endgültig, wobei kommunistische Diktatoren wie der rumänische Nicolae Ceausescu von seinem eigenen Volk gestürzt wurden. Der Archipel Gulag ist heute in Russland Pflichtlektüre am Gymnasium und in der ganzen Welt bekannt. Diejenigen, die Solschenizyns Werk gelesen haben, werden sowohl von der Geschichte gewarnt als auch mit einem Plan für nachdenklichen Widerstand gegen die Tyrannei beschenkt. Möge es nie wieder als solches verwendet werden müssen.

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Der Originalbeitrag mit dem Titel Solzhenitsyn and the Economic Lesson of Soviet Gulags ist am 27.3.2019 auf der website der Foundation of Economic Education erschienen.

Joshua Hofford ist Koordinator für Sozialstudien in einem Schulbezirk südlich von Fort Worth Texas, wo er mit seiner Frau und drei Kindern lebt.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

Foto: Foundation of Economic Education

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