Rettet das Gesundheitssystem!

5. Juli 2019 – von Olivier Kessler

Olivier Kessler

Eine aktuelle Schätzung des Krankenkassenverbands Santésuisse rechnet in den Jahren 2019 und 2020 mit einem Anstieg der Gesundheitsausgaben um drei Prozent pro Jahr. Zu denselben Schlüssen kommt auch Comparis. Die Prämienzahler dürfen sich also einmal mehr darauf einstellen, den Gürtel enger zu schnallen.

Dass diese Tendenz der Kosten- und Prämienexplosion so nicht ewig weitergehen kann, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die Politik kann zwar versuchen, die negativen Folgen für die Bevölkerung für eine gewisse Zeit zu vertuschen – etwa mit Prämienverbilligungen und der Abwälzung der Kosten auf vermögendere Steuerzahler. Doch auch «die Reichen» lassen sich nicht wie Zitronen bis auf den letzten Tropfen auspressen. Vorher suchen sie das Weite und überlassen damit die Hauptlast der staatlichen Umverteilungsübung dem weniger mobilen Mittelstand. Wir kommen also nicht darum herum, die Ursachen des Kostenanstiegs aufzuspüren und das Problem bei der Wurzel zu packen.

Gibt es ein «Recht auf Gesundheit»?

Ein entscheidender Grund, der zum ruinösen Kostenwachstum führt, ist die Vorstellung, es gäbe so etwas wie ein «Recht auf Gesundheit». Demnach hätte jeder einen Anspruch an seine Mitmenschen, wonach diese finanziell für seine Gesundheit – ein äusserst subjektives Gut – aufzukommen hätten.

Um zu verstehen, welche ungewollten Nebeneffekte ein staatlich durchgesetztes «Recht auf Gesundheit» und eine entsprechende Kollektivierung des Gesundheitswesens hat, eignet sich eine Analogie. Mit den gleichen Argumenten könnte man auch ein «Recht auf Nahrung» einfordern, mit dem Ziel, die Konsumenten von den wahren Kosten der Nahrungsaufnahme abzuschirmen.

Stellen Sie sich einmal vor, sämtliche Kunden hätten plötzlich freien Zugang zu allen Lebensmitteln, weil der Staat die entsprechenden Kosten übernimmt. Was würde in der Folge passieren? Aus ökonomischen Angebots- und Nachfrage-Modellen wissen wir, dass in der Regel die Nachfrage nach einem Gut zunimmt, wenn der entsprechende Preis sinkt. Wenn nun jedermann zu tiefen Preisen auch in luxuriösen Gourmet-Restaurants speisen und sich dort die besten Weine und exzellentesten Mahlzeiten bestellen kann, wird die Nachfrage nach solchen Premium-Produkten zweifelsohne zunehmen.

Die Restaurant-Besitzer würden sich natürlich über diese zusätzliche Kundschaft und Nachfrage freuen und sich die wahren Kosten gerne vom Staat vergüten lassen. Weniger erfreut wären hingegen die Steuerzahler, die mit einer entsprechenden Kostenexplosion konfrontiert wären. Auch solche, die zuvor noch mit Rücksicht auf die restlichen Steuerzahler zurückhaltend und kostenbewusst gespeist und getrunken hatten, sähen sich in Anbetracht der steigenden Steuerlast genervt und würden ihr Konsumverhalten über kurz oder lang ebenfalls anpassen, um sich von den steigenden Zwangsausgaben für Lebensmittel etwas «zurückzuholen». «Weshalb sollte ich auch kostenbewusst essen und trinken, wenn andere sich auf meine Kosten die Bäuche vollschlagen?», würden sich viele sagen und sich in der Folge ebenfalls etwas gönnen.

So dreht sich diese Teufelsspirale aus Überkonsum und steigenden Kosten immer weiter, bis letztlich die Kosten ein derart dramatisches Niveau angenommen haben, dass sich der Staat zum Handeln gezwungen sieht. Politiker werden beispielsweise vorschlagen, den Restaurantbesitzern ab sofort nur noch die Kosten für eine durchschnittliche Mahlzeit ihrer Kunden zu erstatten. Was werden die Restaurant-Besitzer in der Folge tun? Sie werden die Premium-Angebote und die besten Weine umgehend aus ihrem Sortiment nehmen, weil diese zu einem Verlustgeschäft avancieren. Vielmehr werden sie vor allem noch billigen Junkfood und Fusel anbieten, weil sich qualitativ gute Nahrungsmittel im Angebot nicht mehr rechnen. Die Lebensmittel-Qualität und die Ernährungsgesundheit werden über die ganze Bevölkerung gesehen abnehmen, während die Unzufriedenheit der Bürger wächst.

Finanzielle Eigenverantwortung

Ein «Recht auf Nahrung» führt also bei abnehmender Versorgungsqualität zu explodierenden Kosten. Es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass die Verwirklichung eines «Rechts auf Gesundheit» bessere Ergebnisse hervorbringt. In Wahrheit ist es gerade die daraus folgende finanzielle Verantwortungslosigkeit, welche die Gesundheitskosten-Explosion hauptsächlich verursacht.

Wenn Sozialversicherungen und der Staat einen Großteil der anfallenden Kosten übernehmen, führt dies aus individueller Sicht zunächst zu einer scheinbaren Vergünstigung von Gesundheitsleistungen. Auch im Gesundheitswesen gilt: Wird etwas billiger, steigt die Nachfrage. Dies trifft insbesondere auf den medizinischen Graubereich zu. Anstatt eines jährlichen Gesundheits-Checks, geht man plötzlich alle drei Monate zur entsprechenden Untersuchung. Anstatt bei Unsicherheit noch etwas abzuwarten, entschließt man sich sofort für ein MRI. Klar, wenn man die entsprechenden Kosten nicht selbst tragen muss, entscheidet man sich im Zweifelsfall eher für einen Arzttermin zu viel, als einen zu wenig, lieber für die Luxus-Behandlung, als für die gewöhnliche.

Der Grund für dieses Verhalten ist die durch den staatlichen Eingriff manipulierte Kosten-Nutzen-Analyse jedes Einzelnen: Wenn der Nutzen nicht im Verhältnis zu den anfallenden Kosten steht, verzichtet ein Individuum aus rationalen Gründen normalerweise auf die Beanspruchung der entsprechenden Leistung. Werden die individuellen Kosten jedoch künstlich herabgesetzt, erscheint der Nutzen eines zusätzlichen Arztbesuchs oder einer Extra-Behandlung natürlich wesentlich größer.

Es kommt folglich zum übermäßigen Kostenanstieg im Gesundheitswesen. Das ist ein Problem. Denn diese zusätzlichen Ressourcen für das Gesundheitswesen müssen ja von irgendeinem anderen Bereich abgezogen werden, wo sie bislang andere wichtige menschliche Bedürfnisse befriedigt hatten. So müssten die Haushalte, um die steigenden Prämien und Steuern bezahlen zu können, beispielsweise bei der Bildung, beim Wohnen oder den Medien sparen.

Der Staat ergreift in der Folge – anstatt auf dieses problematische Drittzahler-System zu verzichten – Maßnahmen zur Dämpfung des Kostenwachstums. Dazu könnte er beispielsweise den Zugang zu Gesundheitsdiensten beschränken, worauf die Gesundheit eines Bürgers von den Entscheiden von Bürokraten abhängig wird. Wo das Angebot eingeschränkt wird, sind lange (und derweilen auch schmerzvolle) Wartezeiten zu erwarten, wie etwa das abschreckende Beispiel Großbritanniens zeigt, wo Patienten vernachlässigt in Klinikfluren sterben, Rentner stundenlang auf einen Krankenwagen warten und Krebs-OPs verschoben werden müssen.

Oder aber der Staat zwingt die Ärzte und die sonstigen Gesundheitsdienstleister, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten oder auf gewisse Behandlungsmethoden zu verzichten, worauf deren Motivation und die Qualität der medizinischen Leistungen tendenziell abnehmen wird. Auch dürfte es exzellente Ärzte aus Frust eher in andere Länder mit fairerer Bezahlung und geringerer Regulierungsdichte ziehen.

So oder so sind das keine besonders guten Perspektiven für ein Gesundheitswesen, das bezahlbare aber auch qualitativ gute Leistungen erbringen soll. Denn, wer unter Schmerzen leidet, der will nicht lange warten müssen und der will nicht irgendeine Gesundheitsversorgung: Er will eine möglichst gute Versorgung – und das so schnell wie möglich.

Um solche Entwicklungen zu verhindern, führt kein Weg an liberalen Reformen vorbei. In welche Richtung es beispielsweise gehen könnte, zeigt Singapur. Dort ist die Lebenserwartung praktisch gleich hoch wie in der Schweiz. Das Land gibt gemessen an seinem Bruttoinlandsprodukt mit 4,3 Prozent aber rund drei Mal weniger für sein Gesundheitssystem aus als die Schweiz mit 12,2 Prozent, weil es auf mehr Eigenverantwortung und private Vorsorge setzt. Wir tun gut daran, bald zu handeln, bevor unser Gesundheitswesen unbezahlbar wird und die Qualität abnimmt.

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Dieser Beitrag ist am 26.6.2019 zuerst in der Finanz und Wirtschaft erschienen.

Olivier Kessler ist Vizedirektor des Liberalen Instituts in Zürich.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

Foto: © Gina Sanders – Fotolia.com

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