Die Schotten und ihr Selbstbestimmungsrecht

19.9.2014 – Die Schotten haben am gestrigen Tag von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch gemacht und sich mehrheitlich gegen eine Abspaltung von Großbritannien entschieden. Wie unverzichtbar das Selbstbestimmungsrecht, das das Recht auf Sezession einschließt, ist, zeigt der nachfolgende Beitrag von Ludwig von Mises; er ist seinem Werk Liberalismus (1927) entnommen. Mit Selbstbestimmungsrecht hat Mises nicht eine national geschlossenen Einheit im Blick, sondern den einzelnen Bewohner eines bestimmten Gebietes. Der Leser wird bemerken, wie gültig Mises’ Worte auch heute noch sind. Wir wünschen erkenntnisreiche Lektüre.

Andreas Marquart, Thorsten Polleit

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Ludwig von Mises (1881 – 1973)

Es wurde schon gezeigt, daß Frieden im Innern eines Staates nur dann bestehen kann, wenn eine demokratische Staatsverfassung die Gewähr dafür bietet, daß die Anpassung des herrschenden Systems an den Willen der Staatsbürger sich reibungslos vollziehen kann. Es braucht nichts anderes als die folgerichtige Durchführung derselben Prinzipien, um auch den Frieden zwischen den Völkern zu sichern.

Die älteren Liberalen dachten, daß die Völker von Natur aus friedfertig seien und daß nur die Fürsten den Krieg wollen, um durch Eroberung von Provinzen ihre Macht und ihren Reichtum zu mehren. Sie meinten daher, daß es genüge, die Fürstenherrschaft durch vom Volke abhängige Regierungen zu ersetzen, um den dauernden Frieden zu sichern. Zeigt es sich dann im Volksstaate, daß die Staatsgrenzen, wie sie im Zuge der Geschichte geworden sind und im Augenblicke des Überganges zum Liberalismus bestehen, nicht mehr dem Staatswillen der Staatsangehörigen entsprechen, dann müssen sie gemäß den Ergebnissen von den Willen der Bürger zum Ausdruck bringenden Volksabstimmungen friedlich verändert werden. Es muß die Möglichkeit bestehen, daß die Staatsgrenzen verlegt werden, wenn der Wille der Bewohner eines Landesteiles, sich einem anderen Staate anzuschließen als dem, dem sie gerade angehören, sich deutlich kundgegeben hat.

Im 17. und 18. Jahrhundert haben die russischen Zaren weite Gebiete ihrem Reiche einverleibt, deren Bevölkerung niemals den Wunsch gehabt hatte, dem russischen Staate anzugehören. Auch wenn das russische Reich eine vollkommen demokratische Verfassung durchgeführt hätte, wären die Wünsche der Bewohner dieser Ländergebiete nicht befriedigt gewesen, weil sie überhaupt nicht den Wunsch hatten, mit den Russen zusammen einem gemeinschaftlichen Staatsverbande anzugehören. Ihre demokratische Forderung war: los vom russischen Reich, Bildung eines selbständigen polnischen, finnischen, lettischen, litauischen usw. Staatswesens. Daß diese Forderungen und ähnliche Wünsche anderer Völker (z. B. Italiener, Deutsche in Schleswig-Holstein, Slaven und Magyaren im Habsburgerreich), nicht anders befriedigt werden konnten als durch Krieg, war die wichtigste Ursache aller Kriege, die in Europa seit dem Wiener Kongreß geführt wurden.

Das Selbstbestimmungsrecht in bezug auf die Frage der Zugehörigkeit zum Staate bedeutet also: wenn die Bewohner eines Gebietes, sei es eines einzelnen Dorfes, eines Landstriches oder einer Reihe von zu sammenhängenden Landstrichen, durch unbeeinflußt vorgenommene Abstimmungen zu erkennen gegeben haben, daß sie nicht in dem Verband jenes Staates zu bleiben wünschen, dem sie augenblicklich angehören, sondern einen selbständigen Staat bilden wollen oder einem anderen Staate zuzugehören wünschen, so ist diesem Wunsche Rechnung zu tragen. Nur dies allein kann Bürgerkriege, Revolutionen und Kriege zwischen den Staaten wirksam verhindern.

Man mißversteht dieses Selbstbestimmungsrecht, wenn man es als „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ bezeichnet. Es handelt sich nicht um das Selbstbestimmungsrecht einer national geschlossenen Einheit, sondern es handelt sich darum, daß die Bewohner eines jeden Gebietes darüber zu entscheiden haben, welchem Staatsverband sie angehören wollen. Noch ärger ist das Mißverständnis, wenn man das Selbst-bestimmungsrecht als „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ gar dahin verstanden hat, daß es einem Nationalstaate das Recht gebe, Teile der Nation, die einem anderen Staatsgebiet angehören, wider ihren Willen aus ihrem Staatsverband loszulösen und dem eigenen Staat einzuverleiben. Die italienischen Faszisten leiten aus dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen die Forderung ab, den Kanton Tessin und Teile anderer Kantone von der Schweiz loszulösen und mit Italien zu vereinigen, auch wenn die Bewohner dieser Kantone dies gar nicht wünschen. Ähnlich ist die Stellung eines Teiles der Alldeutschen zur deutschen Schweiz und zu den Niederlanden.

Das Selbstbestimmungsrecht, von dem wir sprechen, ist jedoch nicht Selbstbestimmungsrecht der Nationen, sondern Selbstbestimmungsrecht der Bewohner eines jeden Gebietes, das groß genug ist, einen selbständigen Verwaltungsbezirk zu bilden. Wenn es irgend möglich wäre, jedem einzelnen Menschen dieses Selbstbestimmungsrecht einzuräumen, so müßte es geschehen. Nur weil dies nicht durchführbar ist, da die staatliche Verwaltung eines Landstrichs aus zwingenden verwaltungstechnischen Rücksichten einheitlich geordnet sein muß, ist es notwendig, das Selbstbestimmungsrecht auf den Mehrheitswillen der Bewohner von Gebieten einzuschränken, die groß genug sind, um in der politischen Landesverwaltung als räumliche Einheiten aufzutreten.

Daß das Selbstbestimmungsrecht, soweit es wirksam war und überall, wo man es hätte wirksam werden lassen, im 19. und im 20. Jahrhundert zur Bildung von Nationalstaaten und zur Zerschlagung der Nationalitätenstaaten geführt hat oder geführt hätte, entsprang dem freien Willen der zur Entscheidung in der Volksabstimmung Berufenen. Die Bildung von Staaten, die alle Angehörigen einer Nation umfassen, war das Ergebnis des Selbstbestimmungsrechtes, nicht sein Zweck. Wenn ein Volksteil sich in staatlicher Selbständigkeit oder im Staatsverbande mit Angehörigen anderer Völker wohler fühlt als im nationalen Einheitsstaat, kann man wohl versuchen, ihn durch Werbung für die Ideologie des nationalen Einheitsstaates zu gewinnen, um seine politischen Wünsche umzugestalten. Wenn man aber gegen seinen Willen sein politisches Schicksal unter Berufung auf das höhere Recht der Nation bestimmen will, dann verletzt man das Selbstbestimmungsrecht nicht anders als durch irgendeine andere Form von Unterdrückung. Eine Aufteilung der Schweiz unter Deutschland, Frankreich und Italien wäre, auch wenn sie genau nach der Sprachgrenze vor sich gehen würde, eine ebenso krasse Verletzung des Selbstbestimmungsrechts wie es einst die Teilung Polens war.

aus Liberalismus (1927), Academia Verlag, S. 95 – 98.

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Ludwig von Mises, geb. 1881 in Lemberg, war der wohl bedeutendste Ökonom und Sozialphilosoph des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer hat er die (wissenschafts)theoretische Begründung für das System der freien Märkte, die auf unbedingter Achtung des Privateigentums aufgebaut sind, und gegen jede Form staatlicher Einmischung in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben geliefert. Seine Werke sind Meilensteine der Politischen Ökonomie. Das 1922 erschienene “Die Gemeinwirtschaft” gilt als erster wissenschaftlicher und umfassender Beweis für die “Unmöglichkeit des Sozialismus”. Sein Werk “Human Action” (1949) hat bei amerikanischen Libertarians den Rang einer akademischen “Bibel”. Mises war Hochschullehrer an der Wiener Universität und Direktor der Österreichischen Handelskammer. Ab 1934 lehrte er am Institut des Hautes Etudes in Genf. 1940 Übersiedlung nach New York, wo er nach weiteren Jahrzehnten der Lehr- und Gelehrtentätigkeit 1973 im Alter von 92 Jahren starb.

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