„Nichts wäre leichter, als Europa in kleine Regionen zu unterteilen“

23.8.2017 – Das nachfolgende Interview ist aus Zitaten aus dem Buch „Small is Beautiful“, ausgewählte Schriften aus dem Gesamtwerk Leopold Kohrs, zusammengestellt. Leopold Kohr war Ökonom und Philosoph und befürwortete eine Rückkehr zu kleinen und überschaubaren Einheiten. Die Fragen formulierte Andreas Marquart.

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Herr Kohr, Sie haben sich zeitlebens mit der Größe von Staaten beschäftigt und sind ein kompromissloser Befürworter der Kleinstaatlichkeit. Würde die Welt mit einer Rückkehr zur Kleinstaaterei auch wieder friedlicher werden?

Leopold Kohr (1909 – 1994)

In einer Gesellschaft kleiner Staaten verschwinden weder Krieg noch Kriminalität; sie werden bloß auf tragbare Größen reduziert. Statt dass man hoffnungslos versucht, die begrenzten Talente des Menschen auf eine Größe aufzublasen, die mit ungeheurer Größe fertig werden kann, soll die ungeheure Größe auf eine Größe reduziert werden, mit der sogar die begrenzten Talente des Menschen umgehen können. En miniature verlieren Probleme ihre Schrecken und auch ihre Bedeutung; das ist das Maximum, nach dem eine Gesellschaft streben kann.

Das klingt so, als glaubten Sie nicht an das Gute im Menschen …

Es gibt in den Verfassungen von Menschen oder Staaten nichts, was den Aufstieg von Diktatoren verhindern kann, weder von faschistischen noch von anderen. Macht-Wahnsinnige existieren überall, und jede Gesellschaft wird früher oder später durch eine Phase der Tyrannei gehen. Der einzige Unterschied liegt im Grade der tyrannischen Regierung, der wiederum von der Größe und von der Macht der Länder abhängt, die ihr zum Opfer fallen.

Ein Diktator in einem kleinen Land würde auch die dort lebenden Menschen drangsalieren …

Auch wenn der Kleinstaaten-Diktator seine Untertanen überragt, so kann er sie nie riesig überragen. In jedem Falle und im Hinblick auf die Welt draußen noch viel wichtiger ist, dass der Kleinstaaten-Diktator nach außen völlig unwirksam ist. Im Gegensatz zur Macht Hitlers, die sich in Frankreich schon Jahre vor seinem eigentlichen Angriff spürbar machte, während Frankreich noch als Großmacht eingeschätzt wurde, endet der Machtbereich eines Kleinstaaten-Diktators an den Grenzbächen seines Landes.

Sie meinen, dass Hitler in einer Welt von Kleinstaaten nie hätte solch ein Unheil anrichten können?

Wir wissen alle, was der Welt geschah, als Hitler „Führer“ der Großmacht Deutschland wurde: Deutschland wurde sogar im Frieden furchtbar, und seine Nachbarn hatten vor seinen Freundschaftskundgebungen ebensolche Angst wie vor seinen Drohungen. Nehmen wir einmal an, derselbe Mann wäre nur in Bayern Diktator geworden, wie er es in seinem berühmten Bierhallen-Putsch 1923 versucht hatte: Es mag eine Katastrophe für die Welt gewesen sein, dass dieser frühe Versuch fehlschlug.

Der Diktator von Bayern wäre nie zum Diktator Deutschlands geworden, nur ein Dilettant der Macht, ein kleiner Tyrann mit einer kurzen Lebenserwartung angesichts der Tatsache gewesen, dass in kleinen Staaten der Sturz eines Diktators über Nacht erfolgen kann.

In Bayern hätte er, da ihm kein anderer Ausweg offen gewesen wäre, sich darüber freuen können, die Welt zu ärgern oder durch seine naiven Inntal-Bilder zu erfreuen.

Er hätte aber auch die kleinen Nachbarstaaten überfallen können …

Mit einem Hitler als Bayern-Diktator wären die Nachbarn Württemberg und Österreich fertig geworden. In Deutschland konnten die vereinten Kräfte Großbritanniens, Frankreichs, der USA und der Sowjetunion das Nazi-Geschwür nicht am Wuchern hindern.

Nach dem zweiten Weltkrieg hat man die Vereinten Nationen gegründet, dass die Welt nicht noch einmal ein eine solche Katastrophe hineinschlittert und „Frieden und Sicherheit“ gewährleistet werden …

Friede und Sicherheit sind Begriffe, die nach dem sozusagen rein physikalischen Gesetz der Politik nur innerhalb einer geschlossenen Einheit zu verwirklichen sind. Innerhalb völlig integrierter sozialer Organismen, nicht zwischen ihnen, sind sie auch überall auf der Welt verwirklicht worden – bei rohen Menschenfresserstämmen, in Stadtstaaten und in Großmächten.

Aber bei den Vereinten Nationen ist bis auf den Namen nichts Derartiges geschehen. Trotz Charta, Sekretariat, Vollversammlung und Sicherheitsrat gibt es keinen gemeinsamen Oberbau, der die Nationen umfasst, die sich vereint nennen.

Der deutlichste Beweis ist dafür ist das Vetorecht der fünf Großen. Durch seine Aufnahme in die Charta der Vereinten Nationen wurde selbst der Anschein einer Verwirklichung der ursprünglichen Idee aufgegeben, Macht, Gewalt und Größe dem Recht, der Gerechtigkeit und dem Gesetz unterzuordnen.

Deshalb können die Vereinten Nationen solange sie ihre gegenwärtige Struktur beibehalten, keine Zukunft haben. Sie werden natürlich eine Zeitlang funktionieren, vielleicht sogar lange Zeit. Doch das hat der Völkerbund auch getan. Aber obgleich sie scheinbar immer noch funktionierten, kann man weder vom Völkerbund noch von seinem Nachfolger behaupten, sie hätten je entscheidend zur Wahrung des Weltfriedens beigetragen.

Auch die EU sieht sich als Friedensprojekt. Wie sehen Sie die Entwicklung in Europa?

In den Stürmen des öffentlichen Zweifels werden die Verträge von Maastricht ebenso in sich zusammenfallen wie der Turm von Babel, und zwar aus den gleichen Gründen: Weil der Herr, das heißt das Gesetz der Natur, dagegen ist.

Konstruktionen von dieser Größenordnung funktionieren nicht. Wo immer wir hinschauen im politischen Universum, stellen wir fest, dass erfolgreiche soziale Organismen, seien es Kaiserreiche, Föderationen, Staaten, Länder oder Städte, bei aller Verschiedenheit der Sprache und Tradition ein gemeinsames Merkmal aufweisen: die Struktur der kleinen Zellen. Das Problem ist nicht weiteres Wachstum, sondern das Ende des Wachstums; die Antwort nicht Einheit, sondern Auflösung großer Einheiten.

Es wäre viel leichter, wenn sich die moderne europäische Geschichte den Gesetzen der Physik fügen würde. Stabilität wäre kein Problem, wenn das europäische Fahrrad so viele Räder hätte, dass es von selbst im Gleichgewicht wäre. Es müsste nicht von Brüssel aus gelenkt werden. Für diese Art Gleichgewicht muss das europäische Fahrrad allerdings kleine Räder annähernd gleicher Größe und Stärke haben.

Was schlagen Sie vor?

Nichts wäre leichter, als Europa in kleine Regionen zu unterteilen. Anders als bei dem Versuch, ein einheitliches Gebäude zu errichten, gäbe es dagegen kaum natürlichen Widerstand, da kleine Regionen bereits existieren. Im heutigen Europa finden wir nicht Deutschland, sondern Bayern und Sachsen; nicht Großbritannien, sondern Schottland und Irland; nicht Spanien, sondern Katalonien und das Baskenland; nicht Italien, sondern die Lombardei und Sizilien. Diese Regionen sind durch ihre Fusion zu einem modernen Nationalstaat nicht verschwunden. Sie bewahren den Reiz ihrer eigenständigen Dialekte, Gebräuche und Literatur.

Was ich mir für eine funktionstüchtige europäische Gemeinschaft vorstelle, ist eine Fülle von kleinen Regionalstaaten, die so interagieren, wie es Atome in der Natur tun. Ich halte mich an die Analyse des Physikers und Nobelpreisträgers Erwin Schrödinger, der begründet, warum Atome klein sein müssen.

Erstens sind sie sehr zahlreich. Zweitens sind sie unaufhörlich in Bewegung. Drittens werden sie niemals von einem anderen Atom gesteuert. Weil sie niemand dirigiert, stoßen sie ständig zusammen. Hätten sie Ähnlichkeit mit großen Panzern, würden sie sich dabei zerstören und damit das ganze System. Aber weil sie klein sind, sind die Myriaden von Zufallskollisionen kreativ.

Ein europäischer Superstaat ist also illusorisch?

Wenn sich die Enttäuschung über die Verträge von Maastricht erst einmal breitgemacht haben wird, dann wird man sicherlich erkennen, dass es höchst naiv ist zu glauben, ein Superstaat könne ein Gegengewicht zum Nationalismus seines größten Mitgliedes sein.

Die Hoffnung des 21. Jahrhunderts gründet sich auf ein völlig anderes Modell, ein Modell, das im kleinsten Maßstab Universalität herzustellen sucht; ein Modell, das auf der Erkenntnis beruht, dass die ganze Fülle der Existenz auf kleinstem Raum enthalten ist.

Ein kleiner Junge soll in einem der griechischen Stadtstaaten seinen Vater gefragt haben: „Haben andere Orte ihren eigenen Mond?“

„Natürlich“, hat der Vater geantwortet. „Jeder hat seinen eigenen Mond.“

Es ist besser so. Und heute ließe sich zu dieser Weisheit noch hinzufügen: Wir brauchen keine einheitliche Verfassung für Europa, kein europäisches Geldsystem und keine gemeinsame Außenpolitik, um unseren eigenen Mond zu haben.

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Hier können Sie eine Dokumentation über Leopold Kohr sehen: Leben nach menschlichem Maß

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Leopold Kohr, Univ.-Prof. DDr., geboren am 5. Oktober 1909 in Oberndorf bei Salzburg, studierte in Wien, Innsbruck, London und Paris Rechts- und Staatswissenschaften. 1938 emgrierte er nach Amerika. Er lehrte ab 1943 u.a. an den Universitäten in New Jersey, Puerto Rico und Aberystwyth (Wales). 1973 übersiedelte er nach Wales, später nach Gloucester (GB). 1983 erhielt er als erster Österreicher den „Right Livelihood Award“, den sogenannten Alternativen Nobelpreis. Kurz bevor Kohr endgültig in seine Heimat zurückkehren wollte, starb er am 26.2.1994 in England.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

 

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