Politische Vielfalt hat Europa reich gemacht

6.2.2017 – von Louis Rouanet.

Louis Rouanet

Auf der Suche nach den Ursachen für die wirtschaftliche Entwicklung Europas wurde der institutionelle Wettbewerb von zahlreichen Ökonomen und Historikern fast schon systematisch ignoriert. Sie alle sind immer noch der historistischen deutschen Interpretation des 19. Jahrhunderts verfallen. Die Mitglieder der deutschen Historischen Schule, insbesondere Schmoller und Bücher, betrachteten den Staat als die Institution, die sowohl für die Entstehung des Marktes, als auch des modernen Kapitalismus verantwortlich war. Institutionalisten unserer Zeit sind sich zwar in zahlreichen Fragen nicht mit den Historisten einig, aber sie haben diese Betrachtungsweise dennoch übernommen und behaupten, politische Zentralisierung sei eine Grundbedingung für wirtschaftliche Entwicklung. Acemoglus und Robinsons Buch Warum Nationen scheitern (2012) zeigt sehr gut die Tendenz, die Betrachtungsweise der Historisten zu akzeptieren.

Acemoglu unterscheidet zwischen extraktiven und inklusiven Institutionen und behauptet, Zentralisierung sei eine notwendige Vorbedingung, um inklusive Institutionen zu schaffen, die wiederum wirtschaftliche Entwicklung begünstigen würden. Obwohl Warum Nationen scheitern ein überzeugendes Buch ist, versäumt der Autor es, zu erklären, warum Zentralisierung eine Bedingung für inklusive Institutionen sein soll. Im Gegenteil, institutioneller Wettbewerb liefert eine überzeugende Erklärung für die Entwicklung inklusiver Institutionen gerade in Europa und nirgendwo sonst – inklusive Institutionen, die letztendlich zur Entwicklung des dauerhaftesten und unglaublichsten Lebensstandards in der Geschichte der Menschheit geführt haben.

Wettbewerb in der Geschäftswelt war der Schlüssel bei der Entwicklung des institutionellen Rahmens, der zur Entwicklung des modernen Kapitalismus geführt hat. In dieser Hinsicht ist die Geschichte Europas einzigartig. Im Gegensatz zu anderen Gegenden der Welt gab es in Europa keine einzelne, einheitliche Autorität, die in der Lage gewesen wäre, die wirtschaftliche Entwicklung aufzuhalten – keine weitverbreitete Ausplünderung der Unternehmer und Arbeiter durch den Staat. So stellt der Historiker Paul Kennedy in seinem Buch Aufstieg und Fall der großen Mächte fest:

„Es gab immer Adelige und örtliche Fürsten, die bereit waren, Händler und ihr Treiben zu dulden, selbst wenn andere sie ausplünderten und vertrieben.“

Der Zusammenbruch des Römischen Reiches bereitete den Weg für ein Zeitalter der politischen Anarchie und der radikalen Dezentralisierung, während dem Städte, Adelige, Könige und die Kirche alle im Wettbewerb miteinander standen. Über die Jahrhunderte hinweg sorgte ein langer Weg der Evolution der Institutionen für die Entstehung individueller Freiheit. Obwohl europäischer Adel und Staaten die Freiheit einschränkten, sahen sie sich doch gezwungen, ihren Untertanen nach und nach mehr Freiheiten zu gewähren – weil die Menschen sonst drohten, abzuwandern oder Schwarzmärkte zu benutzen. Leonard Liggio beschrieb die Situation nach 1000 n. Chr. folgendermaßen:

„Die zahllosen Fürsten und Grafen, die alle durch den Frieden Gottes davon abgehalten wurden, die Menschen auszuplündern, bedeuteten grenzenlosen Wettbewerb auf dem Gebiet der Rechtsprechung auf engstem Raum. … Dieses dezentrale System sorgte für eine Begrenzung der Macht der Politiker; der Handwerker oder Händler hatte es nie weit in den Einflussbereich einer anderen Autorität, sollte die jetzige Steuern oder Regulierungen beschließen.“[1]

In Europa nahm der Weg in die Freiheit seinen Anfang. In Europa stiegen die Werte des Individualismus, des Liberalismus und der Autonomie aus dem Nebel der Geschichte und segneten die Menschheit mit einem Gefühl von Fortschritt, wie es keine Zivilisation davor in dem Ausmaß je genossen hatte.

Die wirtschaftliche Revolution des Mittelalters hatte rein gar nichts mit politischer Zentralisierung zu tun. Sie begann in den dezentralisierten Städten Norditaliens, der Hanse und in den Märkten der Champagne. Handelsstädte wie Venedig, das zu Wohlstand gelangen konnte, weil seine Lage in den Lagunen seine Autonomie vor Angreifern schützte, befanden sich bald mit Genua, Pisa und anderen freien Städten im Wettbewerb um den Titel der besten Handelsstadt und schufen deshalb immer bessere Institutionen für die wirtschaftliche Entwicklung. Das Gildensystem verschwand zuerst in dezentralisierten Gebieten wie den Niederlanden und Norditalien. In Mailand wurde schon 1502 Arbeitsfreiheit eingeführt. Die Hansestädte gewöhnten es sich schon im 16. Jahrhundert an, freie Meister zuzulassen, und sorgten so für eine Steigerung sowohl des Wettbewerbs als auch der Produktivität. Später, im 16. und 17. Jahrhundert, setzten sich das dezentralisierte Antwerpen und Holland an die Spitze der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa, während sie die mittelalterliche Lokalautonomie beibehielten und keine Staaten bildeten. Es gibt unzählige Beispiele für den Erfolg relativ kleiner Staaten im Mittelalter, die die Betrachtungsweise des Historismus widerlegen.

Im Gegenteil, Zentralisierung sorgte für wirtschaftliche Rückständigkeit. So wurden die Märkte der Champagne durch königliche Besteuerung zerstört. Das Gildensystem wurde nur dann stark monopolistisch, wenn zentralisierte Staaten anfingen, ihre Macht auf die Städte auszudehnen und Patente zu vergeben. In Frankreich und England, vergleichsweise Vorreiter auf dem Gebiet der Zentralisierung und Staatenbildung, verloren die Städte während des 13. und 14. Jahrhunderts nach und nach ihre Autonomie und ihre Freiheit. Dieser Autonomieverlust wurde begleitet von geringerem institutionellem Wettbewerb und im Zuge dessen auch einem Rückfall in marktfeindliche Praktiken. So waren in Frankreich vor dem 16. Jahrhundert die meisten Handwerker keine Mitglieder formaler Gilden. Im Verbund mit der Krone hingegen unterwarfen sich die freien Handwerker immer strengeren Vorschriften, so dass die Handwerker bald untrennbar mit den Gilden verbunden waren. Mit den königlichen Edikten von 1581 und 1597 wurde jeder Gewerbetreibende gezwungen, einer Gilde beizutreten, deren Privilegien landesweit durchgesetzt wurden, was zu einer Verringerung des wirtschaftlichen Wettbewerbs führte.

Im 18. Jahrhundert lautete eines der Hauptargumente der ersten Nationalökonomen, dass andere Fürsten den Handel befreien und so die besten Arbeiter anziehen würden, sollte der König dies nicht tun. Vincent de Gournay, dem der Ausspruch laissez-faire, laissez passer zugeschrieben wird, machte sich ständig Sorgen darüber, dass französische Arbeiter in wirtschaftlich freiere Länder wie Holland oder England auswandern könnten. Der wirtschaftliche Wettbewerb zwischen den Staaten war zu den Zeiten de Gournays noch sehr heftig und sorgte dafür, dass wirtschaftliche Hemmnisse, die die immer stärker zentralisierten Staaten aufgebaut und aufrechterhalten hatten, beständig reduziert wurden.

Der hohe Dezentralisierungsgrad ist verantwortlich für das sogenannte „Europäische Wunder“[2]. Die besten Institutionen setzten sich im Laufe der Jahrhunderte durch, während wirtschaftsfeindliche Institutionen immer mehr an Einfluss verloren und nach und nach verschwanden. So zeigen Bradford DeLong und Andrei Shleifer in ihrer Schrift Fürsten und Händler (1999), dass schwächere Staaten während der 800 Jahre vor der industriellen Revolution zu schnellerem Stadtwachstum führten[3]. Mit anderen Worten: Freie Städte sind wohlhabende Städte; wohlhabende Städte führen zu mächtigen Fürsten.

In Indien, China oder Arabien hat es die Gemeindebewegungen des 11. und 12. Jahrhunderts nie gegeben. Diese Länder haben auch nie vom institutionellen Wettbewerb, für den die freien mittelalterlichen Städte sorgten, profitiert. In L`Esprit des Lois vegleicht Montesquieu das europäische mit dem asiatischen politischen System:

„In Asien hat es immer große Reiche gegeben; in Europa hatten sie nie Bestand. … Deshalb ist die Herrschaft in Asien immer despotisch. Denn wenn die Unterwürfigkeit dort nicht solch große Ausmaße annehmen würde, gäbe es sofort Spaltungen, die zum Zusammenbruch der Länder führen würden. In Europa sorgen die natürlichen Spaltungen für zahlreiche mittelgroße Staaten, in denen die Herrschaft des Rechts nicht im Widerspruch zum Fortbestand des Staates steht; andererseits sind hier Gesetze so nötig, dass sich ohne sie in den Staaten Dekadenz ausbreiten würde und sie allen anderen Staaten unterlegen wären. Dies hat den Geist der Freiheit entstehen lassen, der es sehr schwierig macht, einzelne Länder einer Fremdherrschaft zu unterwerfen, die nicht im Einklang mit dem Gesetz steht und dem Handel abträglich ist.“

Wilhelm Röpke (1899-1966) schreibt in Jenseits von Angebot und Nachfrage:

„Dezentralisierung ist der Kern des europäischen Geistes.“

Sie hat Platz für die Entstehung inklusiver Institutionen geschaffen und dem Wirken des Händlers und des erfinderischen Arbeiters, der für Innovationen sorgt und gleichzeitig die Früchte seiner Arbeit behalten darf, Raum gegeben. Institutioneller Wettbewerb hat die Lücken geschaffen, in denen die produktiven Mitglieder der Gesellschaft ihren Mitmenschen für einen Gewinn dienen und an einer florierenden Wirtschaft teilhaben konnten. Anders ausgedrückt, war er die treibende Kraft des Europäischen Wunders.

[1] Leonard Liggio, „The Medieval Law Merchant: Economic Growth Challenged by the Public Choice State“, Journal des Économistes et des Études Humaines 9, no. 1 (March 1999): 65.
[2] Ralph Raico, „The Theory of Economic Development and the European Miracle“, in The Collapse of Development Planning, ed. Peter J. Boettke (1994), pp. 37–58.
[3] J. Bradford DeLong, and Andrei Shleifer, „Princes and Merchants“, Journal of Law and Economics 36 (1993).

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Aus dem Englischen übersetzt von Florian Senne. Der Originalbeitrag mit dem Titel How Political Competition Made Europe Rich ist am 26.1.2017 auf der website des Mises-Institute, Auburn, US Alabama erschienen.

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Louis Rouanet ist Student am Institute of Political Studies in Paris und studiert dort Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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