Die Anatomie des Staates

10.2.2016 – von Murray N. Rothbard.

[Lesen Sie nachfolgend die ersten beiden Kapitel aus dem Buch „Die Anatomie des Staates“ von Murray N. Rothbard, aus dem Englischen übersetzt von Norbert Lennartz; im Original „Anatomy of the State“.  Zur besseren Lesbarkeit wurde hier auf die Fußnoten verzichtet. Das Buch können Sie am Ende des Beitrages herunterladen.]

I. WAS DER STAAT NICHT IST

Murray N. Rothbard (1926 – 1995)

Der Staat gilt den Leuten als etwas, dass sie nahezu grundsätzlich als Autorität ihrer sozialen Belange betrachten. Einige Theoretiker verehren den Staat als die Apotheose der Gesellschaft; andere betrachten ihn als liebenswürdige, wenn auch oft ineffiziente Organisation zur Erreichung sozialer Zwecke; aber fast alle betrachten ihn als ein notwendiges Mittel zur Erreichung der Ziele der Menschheit, ein Mittel, das sich gegen den ‘privaten Sektor’ erstreckt und dabei oft im Wettstreit um Ressourcen gewinnt.

Mit dem Aufstieg der Demokratie hat sich die Identifikation von Staat mit Gesellschaft verdoppelt, bis dass es üblich wurde, Gefühlsausdrücke wie „Der Staat sind wir“ zu hören, die geradezu jeden Grundsatz der Vernunft und jeden gesunden Menschenverstand übertreten. Das nützliche kollektive Wörtchen ‘wir’ hat eine ideologische Verschleierung ermöglicht, um über die Wirklichkeit des politischen Lebens gestülpt zu werden. Wenn ‘wir der Staat sind’, dann ist alles, was ein Staat gegenüber einem Individuum macht, nicht nur gerecht und untyrannisch sondern auch ‘freiwillig’, was den Teil des Individuums angeht.

Wenn der Staat durch eine Gruppe von Menschen eine riesige Staatsverschuldung angehäuft hat, die durch Steuern einer anderen Gruppe zurückgezahlt werden muss, dann wird diese Realität der Last durch den Ausdruck „wir schulden es zu uns selbst“ verdunkelt. Wenn der Staat einen Mann zum Wehrdienst verpflichtet oder ihn wegen einer abweichenden Meinung ins Gefängnis wirft, dann tut er das ‘zu sich selbst’ und daher ist nichts Ungehöriges passiert.

Unter dieser Art der Begründung wurde jeder von der NaziDiktatur ermordete Jude nicht gemordet. Stattdessen haben sie einem ‘Suizid zugestimmt’, weil sie ja der (demokratisch gewählte) Staat waren, und deshalb war alles, was der Staat mit ihnen tat, freiwillig, was ihren Teil angeht. Man würde nicht denken, dass es notwendig wäre, auf diesem Punkt herumzureiten, doch noch immer hängt die überwiegende Masse der Menschen diesem Trugschluss mehr oder weniger an.

Wir müssen daher hervorheben, dass „wir“ nicht der Staat sind. Der Staat ist nicht „unser“. Staat ‘repräsentiert’ nicht in irgendeiner sauberen Weise die Mehrheit der Menschen. Aber selbst wenn er es täte; selbst wenn 70 Prozent der Menschen entschieden, die anderen 30 Prozent zu morden, würde dies immer noch Mord bleiben und kein freiwilliger Suizid, was den Teil der abzuschlachtenden Minderheit angeht. Keine biologistische Metapher, keine irrelevante Plattitüde, dass „wir alle gegenseitig Teil des Ganzen“ wären, darf erlaubt sein, um diese grundsätzliche Tatsache zu verschleiern.

Wenn der Staat also nicht ‘unser’ ist, wenn er nicht „die menschliche Familie“ ist, um über gegenseitige Probleme zu entscheiden, wenn er nicht ein Kaffeekränzchen oder ein Turnverein ist, was ist er dann? In Kürze: Der Staat ist die Organisation der Gesellschaft, die versucht in einem territorialen Gebiet ein Monopol auf den Gebrauch von Macht und Gewalt aufrecht zu erhalten.

Während andere Individuen oder Institutionen ihr Einkommen durch Produktion von Gütern oder durch Dienstleistungen und durch friedlichen und freiwilligen Verkauf dieser Güter und Produkte erhalten, ist insbesondere der Staat die einzige Organisation in der Gesellschaft, die ihre Einnahmen aufgrund von Zwangsanwendung erlangt – also letztendlich durch den Gebrauch des Bajonetts und durch die Behandlung mit Zuchthaus, um genau zu sein. Hat der Staat einmal durch Macht und Gewalt Einnahmen erhalten, fährt er üblicherweise damit fort, auch die anderen Handlungen seiner einzelnen Bürger zu regulieren und zu diktieren.

Man würde denken, dass die einfache Beobachtung aller Staaten durch die Geschichte über den ganzen Globus diese Behauptung genügend belegen würde, aber durch lange staatliche Aktivität zog der Mief des Mythos so sehr ein, dass man gründlicher als gründlich auslüften muss.

II. WAS DER STAAT IST

Nackt wird der Mensch in die Welt geboren und muss lernen, seinen Verstand zu gebrauchen, um die ihm von der Natur gegebenen Ressourcen zu nutzen und sie in Formen und an Orte zu bringen (zum Beispiel durch Einsatz von ‘Kapital’), wie und wo sie für die Befriedigung der Bedürfnisse und die Verbesserung ihres Lebensstandards genutzt werden können. Der einzige Weg dies zu tun, ist durch den Gebrauch seines Verstandes und seiner Energie, um Ressourcen umzuwandeln (‘Produktion’) und den Austausch dieser Produkte für Produkte, die von anderen hergestellt wurden.

Der Mensch hat verstanden, dass im freiwilligen Prozess gegenseitigen Tausches die Produktivität und damit der Lebensstandard aller Beteiligten im Austausch enorm steigen kann. Der einzige ‘natürliche’ Kurs für den Menschen, um zu überleben und Wohlstand zu erreichen, ist daher durch Gebrauch seines Verstandes und seiner Energie im Produktion-und-Tausch-Prozess teilzuhaben. Er tut dies, zunächst durch Auffinden natürlicher Ressourcen und dann durch Umwandlung (und durch „Vermischung seiner Arbeit“ mit diesen, wie Locke es formuliert), womit er sein persönliches Eigentum definiert, um dann seine Erträge gegen anderes Eigentum anderer, die ebenso streben, einzutauschen.

Der sozial diktierte Weg durch die Erfordernisse der Natur des Menschen ist deshalb der Weg der ‘Eigentumsrechte’ und des ‘freien Marktes’ als Gabe oder Ergebnis solcher Rechte. Durch diesen Weg haben Menschen gelernt, die ‘Dschungel’Methoden des Kampfes über knappe Ressourcen zu vermeiden, so dass A sie nur auf Kosten von B erreichen kann. Stattdessen haben sie begriffen, dass sie ihre Ressourcen friedlich und harmonisch durch Wertschöpfung vervielfachen können.

Der berühmte Soziologe Franz Oppenheimer zeigte auf, dass es zwei gegenseitig ausschließende Wege gibt Wohlstand zu erreichen. Einer ist der obige Weg von Produktion und Austausch ‒ er nennt es das „ökonomische Mittel“. Der andere Weg ist einfacher, insofern es keine Produktivität verlangt. Es ist der Weg der Besitzergreifung von Gütern und Leistungen anderer durch die Anwendung von Macht und Gewalt. Dies ist die Methode einseitiger Konfiszierung und des Diebstahls fremden Eigentums. Es ist die Methode, die Oppenheimer das „politische Mittel“ zu Wohlstand nennt.

Es sollte klar sein, dass der friedliche Weg von Vernunft und Energie in der Produktion der ‘natürliche’ Weg für den Menschen ist: das Mittel für sein Überleben und Fortkommen auf dieser Erde.

Es sollte genauso klar sein, dass das zwangsweise, ausbeuterische Mittel im Gegensatz zum Naturgesetz steht, denn es ist parasitisch. Anstelle etwas dem Produktiven hinzuzufügen, subtrahiert es etwas davon ab. Das ‘politische Mittel’ ist lediglich Wertabschöpfung zugunsten eines parasitischen und destruktiven Individuums oder Gruppe. Und diese Wertabschöpfung subtrahiert nicht nur von der Menge des Produzierten, sondern vermindert auch noch die Anreize für den Produzenten über seinen eigenen dringenden Bedarf hinaus zu produzieren. Auf lange Sicht zerstört der Räuber seine eigene Lebensgrundlage durch Verminderung und Eliminierung der Quelle seines Bezugs. Aber nicht nur das; selbst auf kurze Sicht handelt der Räuber entgegen seiner eigenen wahren Natur als Mensch.

Wir sind nun in der Position, es besser zu beantworten: Was ist der Staat? Der Staat ist in den Worten von Oppenheimer die „Organisation des politischen Mittels“. Er ist die Systematisierung des Prozesses der ‘Plünderei’ in einem gegebenen Territorium. Das Verbrechen ist bestenfalls sporadisch und unsicher; das Schmarotzertum ist kurzlebig, und der zwanghafte, parasitische Lebensweg kann jederzeit durch den Widerstand der Opfer abgewehrt werden.

Der Staat liefert einen legalen, geordneten, systematischen Abzugsgraben für die Plünderung privaten Eigentums. Er bedient zuverlässig sicher und relativ ‘friedlich’ die Lebensweise der parasitischen Kaste in der Gesellschaft. Da Produktion immer der Plünderung vorausgehen muss, geht der freie Markt dem Staat vorher. Der Staat hat niemals einen ‘sozialen Vertrag’ erzeugt, er ist immer aus Eroberung und Ausbeutung entstanden. Das klassische Paradigma war ein erobernder Stamm, der in seiner Zeit darin pausiert, einen eroberten Stamm zu plündern und zu morden, um belohnend zu begreifen, dass die Zeitspanne des Plünderns länger, sicherer und angenehmer sein würde, wenn dem eroberten Stamm mit den siedelnden Eroberern unter ihnen das Leben und Arbeiten erlaubt bleibe, so dass ihnen im Jahr ‘nur’ ein bestimmter ‘stetiger’ Tribut abverlangt wird.

Eine Methode der Geburt eines Staates kann wie folgt illustriert werden: In den südlichen Bergen von „Ruritanien“ organisiert sich eine Gruppe von Banditen, um die physische Kontrolle über ein Territorium zu erlangen und schlussendlich erklärt sich der Bandenchef selbst als König eines souveränen und unabhängigen „SüdRuritaniens“, und wenn er und seine Gefolgsleute eine Weile ihre Herrschaft und Regeln aufrecht erhalten haben, dann ist, „siehe da!“, ein neuer Staat in die ‘Familie der Nationen’ aufgenommen worden und der gesetzmäßige Adel des Reiches besteht aus den ehemaligen Anführern.

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Murray N. Rothbard wurde 1926 in New York geboren, wo er an der dortigen Universität Schüler von Ludwig von Mises wurde. Rothbard, der 1962 in seinem Werk Man, Economy, and State die Misesianische Theorie noch einmal grundlegend zusammenfasste, hat selbst diese letzte Aufgabe, die Mises dem Staat zubilligt, einer mehr als kritischen Überprüfung unterzogen.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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