Politisches Losverfahren. Ein Ausweg aus dem Elend der Parteienpolitik?

2.5.2018 – von Antony P. Mueller.

Antony P. Mueller

Es bedarf keiner langen Ausführungen, um festzustellen, dass die Parteiendemokratie in einer tiefen Krise steckt. Das Regime, so wie es heute konstruiert ist, läuft geradewegs auf den Abgrund zu. Das System schien so lange funktionsfähig, wie die Regierungen noch nicht überschuldet waren. Jetzt, da die Grenzen der Staatsverschuldung erreicht sind, kann keine Partei mehr den Himmel auf Erden versprechen, ohne dass der Versuch, die Versprechen zu verwirklichen, in den Staatsbankrott führt. Die Zeit ist reif für einen grundsätzlichen Wandel. Der Schlüssel ist nicht die Abschaffung der Demokratie als solche, sondern die Umwandlung der Demokratie in eine Demarchie. Der entscheidende Schritt auf diesem Weg ist das Zerbrechen des Herrschaftsapparates der politischen Parteien und die Einrichtung eines Systems der Auswahl der Volksvertreter durch Losverfahren.

„Demarchie“ – auch politisches Losverfahren („sortition“) genannt – wählt die Repräsentanten der Gemeinschaft aus einer Stichprobe aus. Die Idee und Praxis, dass die Auswahl der Volksvertreter durch Lotterie statt Wahlen bestimmt wird, kann auf eine ehrwürdige Geschichte zurückblicken. Für Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) bedeutet die Wahl der Volksvertreter durch Los eine echte Demokratie gegenüber der Oligarchie, die mit politischen Wahlen verbunden ist. „Es ist also … demokratisch, die Ämter durch Los und oligarchisch, sie durch Wahlen zu besetzen“ (Aristoteles, Politik, IV, 9, 1294b 7-9), und auch für Montesquieu (1689-1755) entspricht das Lotterieverfahren dem Wesen der Demokratie („Der Geist der Gesetze“ – 1748).

In der altgriechischen Polis für den „Großen Rat der 500“ sowie für Richter und einige Staatsbeamte erfolgte die Auswahl durch das Los. Die Republik Venedig hat das Auswahlverfahren per Lotterie für die Auswahl der Mitglieder der Regierung und der Staatsbeamten in vielerlei Hinsicht genutzt. Bis ins 17. Jahrhundert hinein praktizierte auch England ein Lotteriesystem. Heutzutage bietet die moderne Technologie die Möglichkeit, Auswahlverfahren nach dem Zufallsprinzip auf große Populationen anzuwenden.

Die Vorteile der Demarchie sind offensichtlich:

  • Hoher Grad an Repräsentanz
  • Institutionelle Legitimität
  • Unabhängigkeit der Volksvertreter
  • Abwesenheit von Korruption
  • Keine politischen Parteien
  • Keine Versammlung von Machtmenschen
  • Keine Kosten für Wahlkampagnen
  • Reduzierung der Kosten des politischen Apparates
  • Verständliche Gesetze
  • Ende der Inflation von Gesetzen, Regeln und Vorschriften
  • Minimierung des Staates (weniger Staatsausgaben, niedrigere Steuern).

Kritiker der Demarchie behaupten, eine Volksvertretung, deren Mitglieder zufällig ausgewählt sind, habe weniger Sachkenntnis als ein gewähltes Parlament, und dies würde die Macht der Bürokratie erhöhen. Die Wahrheit ist jedoch, dass das spezifische Wissen, das in den Parlamenten zugegen ist, darin besteht, wie man Macht gewinnt und sie ausübt, während es an Sachkompetenz fehlt. Das System der Parteienpolitik hat zu einer aufgeblähten Bürokratie geführt. Die zunehmende Macht des Staatsapparates ist eine automatische Folge der Parteienkonkurrenz. Die politischen Parteien und der bürokratische Apparat arbeiten zusammen, um ihre Macht zu maximieren, und die sie erreichen, indem sie die Staatsausgaben erhöhen und mehr Regulierungen beschließen. Der moderne Staat ist dadurch zu einer Bedrohung der individuellen Freiheit und des Wohlstandes geworden.

Die libertäre Revolution ist eine sanfte Revolution ohne Gewalt. Das ist der große Unterschied zwischen ihr (einer anarcho-kapitalistischen Ordnung) und den anderen Regierungsformen. Damit die libertäre Bewegung Erfolg haben kann, muss man die öffentliche Meinung erobern. Mit der Unterstützung der Öffentlichkeit für eine Änderung der Struktur der Parteiendemokratie wäre der erste Schritt, das gegenwärtige Parlamentssystem durch eine zusätzliche Kammer zu ergänzen. In dieser Institution – eine Art „Senat“ oder „Oberhaus“ – würden die durch Zufall bestimmten Mitglieder Vetorecht über die Entscheidungen des Parlaments (Kongress) und der Regierung (Präsidentschaft) einschließlich der Judikative (Oberster Gerichtshof) haben.

Der nächste Schritt wäre die Schaffung einer „Generalversammlung“, die als gesetzgebendes Organ dienen soll. Die Einsetzung der Generalversammlung erfordert eine Reform der Wahlgesetze. Um dies zu erreichen, müssen die Libertären eine Mehrheit im bestehenden Parlament (Kongress) bekommen. Der letzte Schritt bei der Reform der staatlichen Struktur besteht darin, ein Aufsichtsorgan und eine Exekutive der Versammlung hinzuzufügen.

Der sich daraus ergebende institutionelle Rahmen würde drei Organe umfassen: Die Generalversammlung als Vertreter des Volkes und als oberster Gesetzgeber, der Aufsichtsrat als Sonderausschuss zur Überwachung der Regierung, und die Exekutive, die die laufenden Angelegenheiten des Gemeinwesens leitet.

Die Zusammensetzung der Generalversammlung ergibt sich durch eine Losauswahl nach dem Prinzip „ein Bürger, ein Los“. Diese legislative Versammlung muss groß genug sein, um eine repräsentative Auswahl der Bevölkerung zu gewährleisten. Dazu reicht selbst bei hoher Bevölkerungszahl eine Versammlung aus, deren Mitglieder in einem großen Konzertsaal Platz finden würde. Die Gesamtdauer in der Generalversammlung sollte auf vierundzwanzig Monate beschränkt sein, wobei ein Viertel der Versammlung alle sechs Monate ausgetauscht wird.

Aus der Generalversammlung geht die Aufsichtsbehörde hervor, die von den Personen ab 18 Monaten Dienstzeit gebildet wird. Diese ernennt und überwacht die Regierung. Das Aufsichtsorgan wird mit Zustimmung der Versammlung die Exekutive ernennen. Diese würde in Form eines privaten Regierungsunternehmens („private government management company“) bestehen, das als Privatunternehmen von der Generalversammlung angestellt und entlassen wird.

Wie es für die private Polizeiarbeit und für Schiedsgerichtsverfahren der Fall ist, werden privatwirtschaftliche Verwaltungsgesellschaften unter einer libertären Ordnung entstehen. Diese privaten Regierungsfirmen werden ihre Dienstleistungen zuerst auf kommunaler Ebene anbieten, von denen die erfolgreichen Firmen ihre Tätigkeit auf die Landesebene und den Gesamtstaat ausweiten.

Das Personal dieser privaten Regierungsverwaltungsfirmen (private government management companies) wird aus Fachleuten bestehen, die ihre Dienste unter Aufsicht der Versammlung und der Aufsichtsbehörde leisten werden. Private Regierungsverwaltungsgesellschaften beschäftigen voll ausgebildete Fachleute. Ihr Dienst wird billiger und besser sein als der von Regierungen, deren Mitglieder aus politischen Parteien rekrutiert werden. Darüber hinaus wird bei der Privatisierung im Vergleich zu den öffentlichen Diensten von heute viel weniger Personal gebraucht werden – nicht nur, weil die Firmen privat und damit effizienter sind, sondern auch weil der Umfang der staatlichen Aktivitäten unter einer libertären Ordnung drastisch schrumpfen wird. Recht und Ordnung werden zu geringeren Kosten und mit geringerem Eingriff in persönliche Freiheiten aufrechterhalten.

Da eine Demarchie auch für Gemeinden, Stadtstaaten und die Bundesländer eingerichtet werden kann, gibt es viel Raum für Experimente in der Ausgestaltung des Demarchieverfahrens im Einzelnen. Es können zum Beispiel einige Gemeinden mit dem Losverfahren anfangen, und die Stadtstaaten könnten folgen. Im Verlaufe dieses Prozesses würden sich dann auch die „private government management companies“, also die Privatfirmen, die die Regierungsgeschäfte als Exekutive führen sollen, im Wettbewerb herausbilden und später auch für die Übernahme der Regierungsgeschäfte des Bundes bereitstehen.

Wenn dies alles als sehr utopisch klingt, soll daran erinnert werden, dass vor wenigen hundert Jahren noch die Demokratie utopisch war, und das heute so alternativlos angepriesene sozialdemokratische Gemeinwesen noch vor hundert Jahren weithin als undenkbar galt.

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Dr. Antony P. Mueller (antonymueller@gmail.com) ist habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg und derzeit Professor der Volkswirtschaftslehre, insbesondere Makroökonomie, an der brasilianischen Bundesuniversität UFS (www.ufs.br), wo er am Zentrum für angewandte Wirtschaftsforschung und an deren Konjunkturbericht mitarbeitet und im Doktoratsprogramm für Wirtschaftssoziologie mitwirkt. Dr. Müller ist außerdem Mitglied des Ludwig von Mises Institut USA und des Mises Institut Brasilien und leitet das Webportal Continental Economics (www.continentaleconomics.com).

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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