Kapitalismus: Wie ein Begriff umgedeutet wird

9.11.2016 – von Steven Horwitz.

Steven Horwitz

Eine kürzlich unter Angehörigen der Generation Y durchgeführte Umfrage lieferte einige Erkenntnisse, die für diejenigen von uns von Interesse sein dürften, denen Freihandel und die freie Marktwirtschaft am Herzen liegen. Unter den 18 bis 29-jährigen genießt demnach der Sozialismus einen leicht besseren Ruf als der Kapitalismus (58% gegenüber 56%). Das ist ein erschreckendes Ergebnis.

Wenn man stattdessen jedoch die Wortwahl in „staatlich gelenkte Wirtschaft“ im Vergleich zur „freien Marktwirtschaft“ ändert, verändert sich auch das Umfrageergebnis dramatisch: 64% bevorzugen nun eine „freie Marktwirtschaft“, und nur 32% eine „staatlich gelenkte Wirtschaft“. Es scheint so, als ob die Generation Y „zumacht“, sobald sie das Wort „Kapitalismus“ hört.

Unser Formulierungsproblem

Viele von uns haben schon lange vermutet, dass das Wort „Kapitalismus“ aus einer ganzen Reihe von Gründen problematisch ist. Und Überlegungen in diese Richtung gibt es schon länger. In seinem Werk „Recht, Gesetzgebung und Freiheit“ aus den 1970er Jahren vertrat Hayek die Meinung, der Begriff Kapitalismus sei irreführend für das System, das er anstrebe:

Der Name „Kapitalismus“ ist ein höchstens für einen Teilbereich eines solchen Systems in einer bestimmten geschichtlichen Phase zutreffender Name, der stets irreführend ist, weil er ein Wirtschaftssystem nahelegt, dass hauptsächlich den Kapitalisten nutzt, während es sich tatsächlich um ein System handelt, dass den Unternehmern eine Disziplin auferlegt, die ihnen alles abverlangt und der sie nur zu gerne entkommen würden.

Für Hayek, wie für viele von uns, ist der Begriff „Kapitalismus“ in doppelter Hinsicht problematisch: Erstens legt er nahe, dass das „Kapital“ zentral für die Funktionsweise dieses Systems ist; zweitens legt er nahe, dass in erster Linie die Kapitaleigentümer die Begünstigten dieses Systems sind. Ersteres ist irreführend und letzteres schlichtweg falsch.

Ein System für alle

Natürlich ist es in einer Marktwirtschaft hilfreich, Kapital zu besitzen – der wahre Motor des wirtschaftlichen Fortschritts hingegen besteht in der Möglichkeit, die eigenen Ideen der Welt zu präsentieren und vom Gewinn- und Verlust-Mechanismus des Marktes testen zu lassen, ob sie anderen wirklich einen Mehrwert bieten. Damit das möglich ist, muss sich Kapital in Privatbesitz befinden, und die Kapitalbesitzer müssen zur Wertermittlung die Maßstäbe von Gewinn und Verlust anlegen können, damit das Kapital entsprechend gewinnbringend eingesetzt werden kann.

Das erfordert Handlungsfreiheit und Respekt vor „Gewinn und Verlust“ als Methode, wirtschaftliche Aktivitäten zu organisieren. Die Monarchien und die Kirchen vergangener Epochen hatten reichlich Kapital, herrschten allerdings über eine vergleichsweise ärmliche Welt.

„Alle anderen“ haben am meisten vom „Kapitalismus“ profitiert. Der Kapitalismus hat dafür gesorgt, dass die Massen Güter und Dienstleistungen zur Verfügung haben, über die einst nur die Reichen verfügen konnten, und die Märkte leisten dies bis zum heutigen Tag. So stellte Schumpeter vor Jahrzehnten fest:

Der Motor des Kapitalismus ist an erster und wichtigster Stelle ein Motor der Massenproduktion. … billiger Stoff, billige Baumwoll- und Kunstfasern, Stiefel, Autos, usw. sind die typischen Erzeugnisse der kapitalistischen Herstellungsmethoden – und keinesfalls Erzeugnisse, die dem Reichen viel bedeuten würden. Königin Elisabeth besaß Seidenstrümpfe. Die kapitalistischen Errungenschaften bestehen nicht typischerweise darin, mehr Seidenstrümpfe für Königinnen zur Verfügung zu stellen, sondern darin, sie auch in Reichweite der Fabrikarbeiterinnen zu bringen.

Vor einhundert Jahren lag es selbst jenseits der Möglichkeiten auch des reichsten Mannes, Zugriff auf alle Bibliotheken der Welt zu haben. Heutzutage tragen wir alle die Bibliotheken der Welt in unserer Hosentasche. Dafür hat der „Kapitalismus“ gesorgt, und das hat hauptsächlich den Armen und dem Mittelstand der Welt genutzt, nicht den sprichwörtlichen 1%, oder den Kapitaleigentümern.

Präzise Bezeichnungen

Ich bin kein Marketingexperte, weswegen mein Alternativvorschlag vielleicht nicht sonderlich wohlklingend ist. Allerdings hat er den Vorteil, dass er präzise beschreibt, wie das System funktioniert, und deswegen benutzt werden kann, wenn wir präzise beschreiben wollen, wie das System funktioniert und wenn es darum geht, wie der Kapitalismus seine guten Ergebnisse erreicht.

In ihrem neuesten Buch äußert Deirdre McCloskey ähnliche Bedenken wegen des Begriffs „Kapitalismus“ und verwendet stattdessen „marktbewährte Verbesserungen“. Dieser Begriff ist sinnvoll, um das zu beschreiben, was sie Die Große Bereicherung der letzten 200 Jahre nennt. Mir gefällt die Formulierung „marktbewährt“, weil sie gut wiedergibt, wie der Entdeckungsvorgang des Marktes und sein Gewinn-und-Verlust-System uns anzeigen, ob unsere Handlungen Werte für andere Menschen geschaffen haben.

Ein entscheidender Aspekt dieses Entdeckungsvorgangs bleibt bei McCloskeys Begriff allerdings unberücksichtigt: die Freiheit, unsere besten Ideen auszuprobieren. In anderen ökonomischen Werken der jüngsten Zeit wird die Vorstellung der „erlaubnisfreien Innovation“ als entscheidender Faktor für Wirtschaftswachstum betont. Wenn die Menschen ihre Ideen ausprobieren können, ohne erst auf die Erlaubnis irgendeiner Autorität warten zu müssen, oder wenn kein Verkäufer ein Monopol erlangen kann, das Wettbewerber auf dem Gesetzesweg ausschließt, herrscht ein Zustand „erlaubnisfreier Innovation“.

Warum sollte man diesen Begriff nicht mit dem von McCloskey kombinieren? Ich bin der Meinung, die Beschreibung des Entdeckungsprozesses des kapitalistischen Wettbewerbs als „erlaubnisfreie marktbewährte Innovation“ trifft es am besten.

In diesem System haben die Menschen die Freiheit, ihr Eigentum so zu verwenden, wie es ihnen gefällt (vorausgesetzt, sie respektieren das Recht anderer, das selbe zu tun), Neuerungen umzusetzen, Verträge einzugehen und unter den Bedingungen zu arbeiten, die ihnen angemessen erscheinen. All das ist ohne die Erlaubnis Dritter möglich. Im System von Gewinn und Verlust wird ermittelt, ob sie etwas erschaffen haben, das wertvoll für andere ist.

Ein Entdeckungsprozess

Wo die Menschen nichts davon abhält, ihre Vorstellungen in die Tat umzusetzen, gibt es ein Maximum an Verbesserungsmöglichkeiten für das Leben der Menschen. Nochmal, Märkte bedeuten einen Entdeckungsprozess, genau wie die Suche nach Wissen in der Forschung und der akademischen Welt. Deswegen schätzen wir die Freiheit der Wissenschaft und die Redefreiheit, und die Freiheit, der wissenschaftlichen Forschung nachzugehen, die wir für wichtig halten. Wir kennen die Antwort nicht im Voraus, weshalb wir Entdeckungsprozesse wie die des Marktes brauchen, die es jedem mit einer guten Idee gestatten, sie auszuprobieren.

Wenn man vorher erst um Erlaubnis bitten muss, können diejenigen, die die Erlaubnis gewähren, nicht im Voraus wissen, ob die Idee gut oder schlecht ist, soviel ist sicher. Wir wissen auch, dass diejenigen mit der Macht, Erlaubnisse zu gewähren oder zu verweigern, unweigerlich ihre Freunde und die, die ihnen Belohnungen versprechen, bevorzugen werden. Eine Erlaubnis-gesteuerte Wirtschaft wird zu dem, was Ayn Rand als „aristocracy of pull“ bezeichnete, oder das gemeinhin „Vetternwirtschaft“ genannt wird.

Es ist eine Sache, bei der Entwicklung von Innovationen frei zu sein, aber wie können wir feststellen, welche Entdeckungen wertvoll sind und welche nicht? Hier kommen Preise und das System von Gewinn und Verlust ins Spiel. Hier liegt die Bedeutung des Begriffs „marktbewährt“.

Gewinn und Verlust vermitteln uns Informationen und sorgen für Anreize. Einen Gewinn zu machen bedeutet, dass das eigene verkaufte Erzeugnis wertvoller ist als die Rohstoffe, aus denen man es hergestellt hat, und Verlust bedeutet das Gegenteil davon. Wenn die eigene Erfindung Gewinn abwirft, handelt es sich um eine Innovation, die das Leben der Menschen verbessert. Es ist einfach, sich neue Dinge auszudenken, und in einer erlaubnisfreien Wirtschaft können sie einfach in die Tat umgesetzt werden. Aber das reicht nicht, um das Leben der Menschen zu verbessern. Dazu brauchen wir ein System, mit dem wir feststellen können, bei welchen Erfindungen es sich um Innovationen handelt.

Alle gewinnen

Einzig eine Gesellschaft, in der keine Erlaubnisse nötig sind, um Innovationen zu schaffen, in der diese Innovationen sich dem Test von Gewinn und Verlust im Handel stellen müssen und die – McCloskey erinnert uns ständig daran – Gewinnstreben im Handel als ethische Verhaltensweise betrachtet und diejenigen in Ehren hält, die im Handel tätig sind, wird für die unglaublichen Verbesserungen im Leben der Menschen sorgen, deren Zeuge wir in den letzten 200 Jahren waren.

Erlaubnisfreie, marktbewährte Innovation. So leicht ist das nicht auszusprechen, aber genau darin liegt der Quell aller Verbesserungen im Leben der Menschen der letzten 200 Jahre. Wenn wir das nicht erkennen, oder anderen bei dieser Erkenntnis nicht helfen, so setzen wir uns als Gesellschaft großen Gefahren aus.

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Aus dem Englischen übersetzt von Florian Senne. Der Originalbeitrag mit dem Titel Allergic to “Capitalism”? Call It “Trade-Tested Permissionless Innovation” ist am 22.10.2016 auf der website der Foundation of Economic Education erschienen.

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Steven Horwitz ist Charles A. Dana Professor of Economics an der St. Lawrence University und Autor von Hayek’s Modern Family: Classical Liberalism and the Evolution of Social Institutions.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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