Nudging – Paternalismus als Wolf im Schafspelz

5.6.2015 – von Mathias Steinmann.

Mathias Steinmann

Die Politik scheint zu realisieren, dass die immer neuen Verbote und Regulierungen so langsam zu einer kritischen Masse an Bürgern führen, die sich die Bevormundung nicht länger gefallen lässt. Selbstverständlich mündet diese Erkenntnis nicht in die naheliegende Lösung, den Menschen mehr Freiheit über ihr eigenes Leben zu lassen. Vielmehr zeigen sich die Regierungen erfinderisch bei der Suche nach neuen Methoden, um die zunehmende Lenkung aller Lebensbereiche in unvermindertem Maße fortsetzen zu können. Ein Weg, den Untertanen die Illusion des freien Willens zu lassen, ist das Konzept des „Nudging“ – das man als „Anstoßen“ oder „Anstupsen“ übersetzen kann –, auf das die US-Administration, die britische Regierung und auch die deutsche Bundesregierung setzen.

So konnte man auf Welt Online am 12. März 2015 erfahren, dass das Bundeskanzleramt „für das Referat Stab Politische Planung, Grundsatzfragen und Sonderaufgaben befristet bis zum Ende der 18. Legislaturperiode drei Referenten“(stellen) ausgeschrieben hat: „Die drei Bewerber sollten hervorragende psychologische, soziologische, anthropologische, verhaltensökonomische beziehungsweise. verhaltenswissenschaftliche Kenntnisse haben“. Das Ziel ist, mit Hilfe dieser Spezialisten verhaltensökonomische „Anstöße“ – eben „Nudges“ – in die Gesetzgebung und Regierungsinitiativen einfließen zu lassen.

In den USA und Großbritannien gibt es bereits eine „Social and Behavioral Sciences Initiative“ beziehungsweise ein „Behavioural Insights Team“. Laut Wikipedia verfolgt die britische Regierung unter anderem die Ziele „die Bereitschaft zu erhöhen, Steuern zu zahlen und an gemeinnützige Organisationen zu spenden, Fehler beim Verschreiben von Medikamenten zu vermeiden, und die Wahlbeteiligung zu erhöhen.“ Weiter erfahren wir bei Wikipedia: „Zunehmend an Bedeutung gewinnt der Nudge-Ansatz als ergänzendes Instrument in der ökologischen Verbraucherpolitik zur Förderung nachhaltigen Konsumverhaltens.“

Das Konzept des „Nudging“ geht zurück auf den Ökonomen Richard Thaler und den Juristen Cass Sunstein. Sie haben gemeinsam das Buch „Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness“ (deutscher Titel: „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“) veröffentlicht. Im Kern geht es darum, Handlungen und Entscheidungen der Menschen durch die Gestaltung der Umgebung zu beeinflussen. Notwendig sei dies, so die Autoren, da Menschen nicht immer rational das tun, was das Beste für Sie selbst (zum Beispiel für ihre Gesundheit) oder – noch viel schlimmer – für die Gesellschaft ist. Das ist natürlich eine Argumentation für die ungehemmte Ausweitung der Staatstätigkeit, die nur allzu vertraut ist.

Der von Thaler und Sunstein vorgeschlagene verhaltensökonomische Ansatz ist auch aus dem Marketing bekannt. Wir kennen Nudges aus dem Handel, etwa die Platzierung von Zigaretten oder Süßigkeiten im Kassenbereich eines Supermarkts. In ähnlicher Weise versucht der paternalistische Staat, Konsumentenentscheidungen zum Beispiel über Warnhinweise auf Zigarettenschachteln oder Pflichtangaben über den Kaloriengehalt und die Inhaltsstoffe von Lebensmitteln zu beeinflussen. Auch in anderen Bereichen werden diese „Anstupser“ bereits eingesetzt. Im Straßenverkehr dürfte jeder Autofahrer die Geschwindigkeitsanzeigen kennen, bei denen zu schnelle Fahrer jedoch nicht geblitzt und mit Verwarnungs- oder Bußgeldern bestraft werden. Die Stadt Frankfurt versucht mit einer Anzeigenkampagne Eltern dazu anzuhalten, das Smartphone aus der Hand zu legen und sich lieber den Kindern zu widmen. Und in Dänemark finden sich auf Bürgersteigen Abbildungen von Fußabdrücken, die zu Mülleimern führen.

Der Blick nach Großbritannien, wo Nudging schon weiter fortgeschritten ist, zeigt auf, wohin die weitere Reise in Deutschland führen dürfte: die ersten Publikationen des Behavioural Insights Team beschäftigen sich unter anderem mit Anreizen zum Energiesparen und der Steigerung der Spendenbereitschaft. Unter den geplanten Anreizen finden sich neben dem Erzeugen von Aufmerksamkeit für die Themen mittels klassischen Marketings insbesondere auch der Appell an das soziale Gewissen durch prominente Testimonials und Maßnahmen, die die Sichtbarkeit von Spenden innerhalb des persönlichen Umfelds steigern sollen.

Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass es die Verfechter des Konzepts nicht nur bei „sanften“ Anstupsern belassen. Es darf durchaus auch mal ein heftiger Rempler sein. Unter den Vorschlägen von Thaler und Sunstein befinden sich zum Beispiel private Vorsorgepläne, in die automatisch eingezahlt wird, außer man entscheidet sich explizit dagegen. In Deutschland kennen das Selbständige oder gut verdienende Angestellte schon aus der Krankenversicherungspflicht. Wer sich nicht explizit für die Private Krankenversicherung entscheidet, ist automatisch als sogenanntes „freiwilliges Mitglied“ gesetzlich versichert. Ein weiteres Beispiel ist eine Organspenderegelung, bei der jeder grundsätzlich Spender ist, wenn er dem nicht ausdrücklich widerspricht. Wie man an diesen Beispielen erkennt, ist der Übergang zum Zwang fließend.

Nach Thaler und Sunstein kommt das Nudging einem „libertären Paternalismus“ gleich, der zwei Prinzipien genügt: Zum einen muss dem Bürger Entscheidungsfreiheit bleiben, und zum anderen muss stets Transparenz gewährleistet sein, mit welchem Ziel Nudging eingesetzt wird. Doch der „libertäre Paternalismus“ ist ein Oxymoron: Es werden zwei gegensätzliche, einander widersprechende Begriffe miteinander verbunden. Dieses begriffliche Verwirrspiel lässt jedoch schnell erkennen, worum es wirklich geht. Der Öffentlichkeit wird suggeriert, staatliches Handeln sei mit libertären Ideen vereinbar, und gleichzeitig soll staatlichen Regelungen ein positives Image verliehen werden. Für Cass Sunstein handelt es sich beim Nudging „um einen völlig neuen politischen Ansatz. Man kann ohne Gesetze und Verordnungen seine Ziele erreichen”.

Aus Sicht der Regierenden erscheint der Ansatz tatsächlich reizvoll zu sein. Die alte staatliche Bevormundung kommt im neuen Gewand der Freiwilligkeit daher. Der Staat gibt bei seinem Versuch, das menschliche Verhalten lenken zu wollen, das Versprechen ab, dieses Mal viel „humaner“ als in der Vergangenheit vorzugehen. Tatsächlich handelt es sich beim Nudging aber schlichtweg um den Versuch der Manipulation. Ein Manipulationsversuch, der an der Realität scheitern wird.

In ihrem Glauben, das menschliche Handeln steuern zu können, lassen Politiker und Verhaltensökonomen außer Acht, was Vertreter der Österreichischen Schule längst erkannt haben: Menschen handeln immer nach ihren individuellen Zielen und Präferenzen. Manche Menschen werden sich durch Nudging beeinflussen lassen, manche nicht. Viele werden sich nur dann beeinflussen lassen, wenn die geforderte Transparenz nicht eingehalten wird und Nudging verdeckt stattfindet.

Wieder andere werden die Verschleierung der Anstupser bemerken und sich gerade dann erst recht nicht beeinflussen lassen oder zuwider handeln. Menschen mögen sich zwar in gewissem Maße durch psychologische Tricks beeinflussen lassen. Die vielen einzelnen Motive und Informationen, die menschlichem Handeln zugrunde liegen, sind aber außerhalb der Einflusssphäre und des Wissens von zentralplanerischen Regierungen.

Darum braucht es keine hellseherische Fähigkeiten um vorauszusagen, wie das, was als sanftes Nudging anfängt, weiter gehen wird: Sobald die gewünschten Ergebnisse nicht im erhofften Maße eintreten, werden als Reaktion Forderungen nach einem heftigeren „Nudging“ laut. Nach und nach wird die altbekannte Interventionsspirale einsetzen, und in einem fließenden Übergang werden anstelle sanfter Anstupser wieder gesetzliche Verbote, Vorschriften und Regulierungen kommen. Schlussendlich wird der Staat auch bemerken, dass sich mit Nudging kein Geld einnehmen lässt, und so werden am Ende dieser neuen Vorschriftsorgie auch wieder als „notwendige Lenkungsabgaben“ verkaufte neue Steuern stehen.

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Mathias Steinmann, Jahrgang 1975, ist studierter Ökonom und als Berater für Risikomanagement tätig. Über die Ökonomie hinaus gelten seine Interessen besonders der Geschichte und den Naturwissenschaften. Er ist überzeugter Anhänger individueller Selbstbestimmung und der Österreichischen Schule.

 

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