Die Arbeit tun die anderen – Helmut Schelskys Abrechnung mit der Priesterherrschaft der Intellektuellen

10. Februar 2020 – von Antony P. Mueller

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Antony P. Mueller

Das Buch von Helmut Schelsky „Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen“ erschien 1975. Obwohl schon vor 45 Jahren publiziert, hat die Schrift nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil: In seinem Buch durchleuchtet Helmut Schelsky die neue Herrschaftsgruppe der Intellektuellen, „die sowohl als Priesterherrschaft als auch als Klassenherrschaft verstanden werden kann“ und es ist genau dies, was inzwischen Wirklichkeit geworden ist.

Aktueller denn je

Helmut Schelsky (1912-1984) war einer der führenden Soziologen in der jungen Bundesrepublik Deutschland und im Wissenschaftsbetrieb vielfältig tätig. Er war das, was man heute einen „public intellectual“ nennen würde. Wenn Schelsky also die „Priesterherrschaft der Intellektuellen“ analysiert, weiß er sehr genau, wovon er spricht.

Schelsky war überzeugt, dass seine Thesen nicht schnell veralten würden. Was zur Zeit der Veröffentlichung von „Die Arbeit tun die anderen“ noch eher spekulativ anmuten mochte, obwohl es auf die sehr konkreten Erfahrungen des Autors beruhte, ist inzwischen deutlich sichtbar geworden.

Schelsky greift die These auf, die schon George Sorel (1847-1922) gegen Ende des 19. Jahrhunderts formuliert hat, dass die aufkommende Welt der „Intellektuellen-Religion“ eine welthistorische Wende darstellt.

Seit dem 19. Jahrhundert hat die Vermittlung von Information, Nachrichten, wissenschaftlichen Erkenntnissen und ganz allgemein das „Ausbildungs- und Orientierungswissen“ enorm an Bedeutung gewonnen. Die moderne Gesellschaft ist ohne diese „Wissensindustrie“ nicht vorstellbar. Dies öffnet ihren Trägern den Zugang, ihre Vermittlungstätigkeit als Herrschaftsmittel zu verwenden.

Um ihren Anspruch auf Herrschaft durchzusetzen, agiert diese neue Klasse der Informationsvermittler zugleich als „Sinnvermittler“ und „Heilslehrer“. Ein neuer Klassengegensatz tut sich auf, der in der Auseinandersetzung zwischen der Klasse der „Sinn- und Heilsvermittler“ einerseits und den Güterproduzenten andererseits besteht.

Mit dieser Entwicklung findet eine atavistische Regression statt, die Schelsky als eine „Reprimitivisierung“ (Schelsky, S.  15) bezeichnet, denn es stellt einen Rückschritt dar gegenüber der Aufklärung, die die Entmachtung religionsklerikaler Herrschaftspositionen mit sich brachte.

„Hierokratische“ Herrschaft durch Sinngebung

Die Herrschaft dieser neuen Klasse erfolgt durch Sinngebung. Mehr als physische Gewalt ist weltgeschichtlich die Macht ein Phänomen der freiwilligen Unterwerfung. Wie Max Weber in seinem „Grundriss der Soziologie“ von 1921 dazu ausführte, bezieht sich für diese Herrschaftsform die Macht und Autorität auf das „innere Verhältnis“ des Menschen zu sich.

Weber prägte hierfür den Begriff der „Hierokratie“ als Herrschaft des Heiligen, oder, genauer gesagt, der Herrschaft der Heilslehrer. Die Machtausübung dieser Gruppe erfolgt nicht durch physischen, sondern als psychischer Zwang. Der „hierokratische Zwang“ erfolgt nach Maßgabe der Verteilung der Heilsgüter. Um diese zu erhalten, unterwerfen sich die Beherrschten dem „Heilsspender“. Als solche werden die Beherrschten zu den „Begüterten“ und dürfen sich zur Gruppe der Auserkorenen zählen.

Es kommt dabei gar nicht darauf an, ob die Situation des Elends, die Heil erfordert, im Alltag wirklich so ist oder nur eingebildet. Der Heilsglaube erwächst, wenn es den Heilsverkündern gelingt, den Alltag als Elend, als Notsituation, darzustellen. Es kommt darauf an, dass die Gegenwart als unerträglich empfunden wird. Nicht rationale Einsicht und traditionelle Bindungen sind entscheidend für die Hingabe der Gläubigen, sondern ihr „Elendsbewusstsein“ (Schelsky, S. 44).

Gleichermaßen wie die charismatische Herrschaft, verwirft die hierokratische Machtausübung die materielle Bedürfnisbefriedigung, die Güterproduktion, die produzierende Arbeit und wirtschaftliche Leistung, die vielfachen Alltagsbemühungen, die den Laden am Laufen halten. All dies wird von den Heilsverkündern als gering bewertet gegenüber dem Heilsversprechen, welches als das Ganze umfassend angekündigt wird.

Als „Reich der Notwendigkeit“ wird Arbeit und Wirtschaft unbedeutend und als vernachlässigbar angesehen, wobei die Heilsverkünder selbst jedoch auf Kosten der Produzierenden leben. Die Klasse der Heilsherrscher lebt „immer von der Arbeit der anderen“, deren „Alltagsmühen und -anstrengungen sie gleichzeitig als minderwertige Lebensform verleumden und zugleich ausbeuten“ (Schelsky, S. 48).

Die Heilsherrschaft der Reflexionselite umfasst alle Tätigkeitsbereiche. Das Private fällt ebenso in den Herrschaftsbereich wie das gesamte Spektrum menschlicher Arbeitstätigkeiten und selbstverständlich auch die Oberhoheit über die Vertreter der Fachdisziplinen.

Rolle der Intellektuellen

Die Träger der neuen sozialen Religiosität sind – allgemein gefasst – „die Intellektuellen“. Allerdings ist der Begriff „Intellektuelle“ nicht voll geeignet, die Vertreter der hierokratischen Klasse präzise zu kennzeichnen. Funktional betrachtet umfasst die Gruppe der „Intelligenz“ die technisch-organisatorischen Experten als auch die „Kulturschaffenden“ und die sozialwissenschaftliche Intelligenz, von denen die Soziologen nur eine Untergruppe darstellen.

Genauer gefasst müssten auch alle Gesellschaftsplaner hinzukommen, zu denen auch die Ökonomen zählen würden. Schließlich muss man auch die „lehrende Intelligenz“ und auch die Publizisten, die Schelsky (S. 105) die „informierende Intelligenz“ nennt, dazuzählen. Schließlich muss man die „heilsverkündende Intelligenz“ alter Art einbeziehen, namentlich Priester und Pastoren und deren diakonische und publizistische Ausfächerungen.

Alle diese Personengruppen erfüllen gesellschaftlich wichtige Funktionen, was ihnen erlaubt, ihr Selbstinteresse und ihr Selbstbehauptungsinteresse weitgehend ungehindert zu verfolgen. Wie einst bei der Kirche, kommt der Widerstand nicht von außen, sondern erfolgt von innen heraus, indem einige die Ketzerrolle einnehmen, obwohl sie formal dazugehören.

Während Rothbard z. B. in seiner Staatsanalyse davon ausgeht, dass der Staat der bestimmende Faktor sei und „die Intellektuellen“ seine Hilfstruppe, differenziert Schelsky das Verhältnis dahin, dass die sich der philosophisch-wissenschaftlichen Aufklärung widmenden Intellektuellen für den Staat eine unentbehrliche Leistung erbringen, diese aber die Staatsträger bereits schon zu ihren Anschauungen bekehrt haben. So entsteht eine Symbiose von nahezu unerschütterlicher Macht. Der entscheidende Punkt ist, dass die Existenzsicherheit dieser Intellektuellen nicht in wirtschaftlicher Selbständigkeit und in kapitalistischen Aktivitäten liegt, sondern sie der „zu ihren Anschauungen bekehrte Staat“ (Schelsky S. 112) trägt.

Wie sehr jede Ketzerei bekämpft wird, zeigt sich daran, dass nicht nur die abweichenden Positionen innerhalb der eigenen Reihen aufs Schärfste bekämpft werden, sondern auch ein jeder Volksvertreter unerbittlich von den staatstragenden Intellektuellen bis aufs Mark niedergemacht wird, wenn er sich nicht zu ihren Anschauungen als bekehrt zeigt, und sei er mit noch so großer Stimmenmehrheit gewählt worden. Dass die Sinngeber angesichts solcher Gegenbewegungen geradezu hysterisch auf derartige Entgleisungen reagieren zeigt, dass der Volkswille, die „volonté général“ auf die Rousseau seine Demokratietheorie stützt, nur insoweit anerkannt wird, wie er „von den ‚Informatoren‘ und ‚Sozialisatoren‘ der Gesellschaft“ selber erzeugt und beherrscht wird (Schelsky, S. 133).

Vielleicht etwas zu einengend, aber den Hauptpunkt betreffend, kann man die Gruppe innerhalb der Intellektuellen, die als politischer Stoßtrupp des Anspruchs auf Herrschaft agiert, als die „Neue Linke“ ausmachen, wie sie sich in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts formierte und seitdem von einer Randgruppe zu einem staatstragenden Faktor geworden ist. Mit dem von Rudi Dutschke in Anlehnung an Antonio Gramsci geforderten „Marsch durch die Institutionen“ ist inzwischen die Eroberung des Staates gelungen.

Sprachherrschaft 

Lange bevor von „political correctness“ die Rede war, hat Helmut Schelsky schon ausgeführt, dass die Sprachherrschaft das entscheidende Produktionsmittel dieser Klasse der Sinnproduzenten ist (S. 233 ff). Obzwar die Frankfurter Schule durchaus kein „Klassenkampfverein in akademischem Gewande“ (S. 239) war, hat sie „klassenkämpferisch“ im Sinne der neuen Heilsverkünder gewirkt.

„Die Sprachformeln, die Autoren wie Adorno, Habermas, Marcuse geliefert haben und die von unzähligen autorisierten und unautorisierten Schülern verbreitet und im intellektuellen Klassenkampf eingesetzt worden sind, haben alles andere als ‚herrschaftsfreie Kommunikation‘ bewirkt, sie wurden im Gegenteil zur Abwürgung sachlicher Diskussionen und zur Durchsetzung von Gruppenmacht benutzt.“

Dies lag zwar nicht im Sinne ihrer Autoren, die in ihren akademischen Seminaren diese Erscheinung nicht auftreten ließen, weil sie autoritativ solchen „Sprach- und Argumentationsmissbräuchen“ entgegenwirkten. Heute wird dieser „herrschaftsbetonte Kommunikationsbruch“ vollkommen hemmungslos betrieben. Für diese Sprachherrschaft sind nicht die ursprünglichen Autoren, die die Begriffe schufen, verantwortlich, „sondern herrschaftsgierige Kollektive …, die allzu oft die moralisch bescheidenen Motive ihrer Sprachväter widerlegen. Wahrscheinlich haben die Autoren der ‚kritischen Reflexion‘ niemals realisiert, wieviel akademische und universitäre Einrichtungen in ihrem Namen mundtot gemacht worden sind“ (Schelsky, S. 239).

Man darf sich nicht länger täuschen lassen, dass hinter den Aufrufen zur Rettung der Welt die Gefahr eines neuen Totalitarismus lauert, der in der Sprachkontrolle sein wirksamstes Instrument entwickelt.  Die intellektuelle Arroganz, die früher nur die kleine Gruppe der Privilegierten kennzeichnete, nämlich die Vorstellung, dass man nach einigen Lehrstunden auf der Schule oder ein paar Universitätssemestern schon eine mündige Persönlichkeit sei, und auf der Grundlage was „durch Lehrer oder Bücher in (den) Kopf kommt“, dazu befähigt wäre, „vollerwachsene und endgültige Urteile über alles abzugeben“ (Schelsky, S. 303), erfasst heute Massen von Jugendlichen, Teenies und selbst Kinder. Ohne Hemmung fühlen diese sich dazu berufen, über Dinge zu reden, von denen sie nur sehr schwach eine Ahnung haben, aber eine starke Meinung ausdrücken.

Fazit

Die Kollektivherrschaft der Intellektuellen ist deshalb so gefährlich, weil sie gegen das Grundprinzip des Geistigen selbst verstößt, das im Individuum seine Wurzel hat. Wenn der Kollektivismus herrscht, wird die Freiheit unterdrückt und damit stirbt die menschliche Kreativität genauso wie die menschliche Produktivität.

Die Herrschaft der Sinnvermittler steht und fällt mit dem Glauben an die Verheißung des Heils, eine Botschaft, die das Elendsbewusstsein der Beherrschten zur Vorbedingung hat. Dem Bombardement der Dauerüberredung folgend, gibt der Untertan von heute die Freiheit seines Denkens, Sprechens und Handelns auf, um die versprochenen Heilsgüter zugeteilt zu bekommen und vielleicht noch einige Staatsalmosen dazu. Der Preis ist hoch. Er besteht in Selbstmitleid und Zukunftsangst. Auch die eingebildete Verelendung ist eine Verelendung.

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Antony P. Mueller hat jüngst bei Amazon die Taschenbücher „Kapitalismus ohne Wenn und Aber“ und „Feinde des Wohlstands“ veröffentlicht. Im Juli dieses Jahres ist eine erweiterte Ausgabe seines Traktats „Principles of Anarcho-Capitalism and Demarchy“ erschienen.

Hier können Sie den Vortrag „Revolution auf Samtpfoten: Wie der Marxismus seinen Herrschaftsanspruch durchsetzt“ von Antony P. Mueller sehen, gehalten auf der 7. Jahreskonferenz des Ludwig von Mises Institut Deutschland am 19. Oktober 2019. Das Thema der Konferenz lautete: „Logik versus Emotion. Warum die Welt so ist, wie sie ist“.

Dr. Antony P. Mueller (antonymueller@gmail.com) ist habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg und derzeit Professor der Volkswirtschaftslehre, insbesondere Makroökonomie, an der brasilianischen Bundesuniversität UFS (www.ufs.br), wo er am Zentrum für angewandte Wirtschaftsforschung und an deren Konjunkturbericht mitarbeitet und im Doktoratsprogramm für Wirtschaftssoziologie mitwirkt. Er ist Mitglied des Ludwig von Mises Institut USA, des Mises Institut Brasilien und Senior Fellow des American Institute of Economic Research (AIER). Außerdem leitet er das Webportal Continental Economics (www.continentaleconomics.com).

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

Foto: Adobe Stock

 

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