Grundkategorien der Praxeologie

14. April 2025 von Antony P. Mueller

Dies ist der zweite Teil der Reihe zu Ludwig von Mises Werk „Nationalökonomie“ aus dem Jahr 1940. Den ersten Teil finden Sie HIER.

Die Praxeologie erfasst die logische Struktur als Begreifen, aber über das Begreifen hinaus muss auch der Sinn einer Handlung verstanden werden. Das Begreifen ist auf das Handeln als Zweckverfolgung und Zielsuche gerichtet, nicht auf dessen Beschaffenheit im Einzelnen, während sich das Verstehen des Sinns auf die konkreten Zielsetzungen bezieht. Das Begreifen richtet sich auf die logische Struktur des Handelns, das Verstehen auf seinen konkreten Inhalt. Welche Werte der Einzelne anstrebt, ist subjektiv und einem äußeren Werturteil unzugänglich, obwohl man die logische Struktur praxeologisch erfassen kann. Die Wertesetzung ist Sache jedes Einzelnen. In diesem Sinne kann man praxeologisch die Verfolgung von Werten anderer Individuen verstehen, auch wenn diese einem selbst als irrational erscheinen mögen.

Die praxeologische Erkenntnis erfasst den Sinn des Handelns durch diskursives Denken, durch Begreifen. Sie setzt beim Begriff des Handelns ein und bildet, Schritt für Schritt fortschreitend, ein System von strengen Begriffen, indem sie genau Voraussetzungen und Bedingungen umschreibt und Aussage mit Aussage verknüpft. (S. 51)

Komplexe Vorgänge versucht man durch Typenbildung zu deuten. Typologien sind analytische Hilfsmittel und ihre Konstruiertheit muss immer beachtet werden. Sowohl der Einzelne wird in seiner Rolle als Typus erfasst, desgleichen ist es auch bei Gruppen von Einzelnen, Ereignissen, Ideen und gesellschaftlichen Gebilden der Fall. Allerdings ist der Typus kein praxeologischer Begriff. Die Entscheidung über die Zweckmäßigkeit einer bestimmten Typenbildung hängt vom jeweiligen Sinnzusammenhang ab. Man muss zudem beachten, dass wir manchmal dieselben Namen benutzen, um sowohl einen Typus zu kennzeichnen als auch seinen praxeologischen Begriff. Dies gilt zum Beispiel für das Konzept des Unternehmers, der für die Praxeologie eine klar umrissene Begrifflichkeit hat, aber für die historische Forschung als schillernde Figur sich je nach dem geschichtlichen Kontext wandelt. Ähnliches trifft auf den Begriff des „homo oeconomicus“ zu, dessen analytische Funktion immer wieder mit bestimmten Epochen in Beziehung gesetzt wird. Im Unterschied dazu versucht die Praxeologie Typen in reiner Form unter dem Gesamtbegriff der menschlichen Handlung zu bestimmen.

Ziele und Zwecke und die Wertung der Ziele und Zwecke kann man weder praxeologisch begreifen noch mit den Methoden des naturwissenschaftlichen Kausalitätsprinzips erklären; man kann mit der Vernunft an sie überhaupt nicht herankommen. Den Sinn der Zielsetzungen und Wertungen kann man verstehen. (S. 54)

Zentrale Kategorien des Wirtschaftens folgen schlüssig aus dem Konzept des menschlichen Handelns.

Gewinn und Verlust

Jedes Handeln ist eine durch den Menschen hervorgerufene Veränderung. Wir pflegen eine solche provozierte Veränderung Tausch oder ein Tauschen zu nennen. Ein weniger befriedigender Zustand wird mit einem mehr befriedigenden Zustand vertauscht. Das Wenigerbefriedigende wird hingegeben, um ein Mehrbefriedigendes zu empfangen. Das, was hingegeben wird, ist der Preis, der für die Erreichung des Zweckes gezahlt wird. Die Bedeutung oder Wertung des gezahlten Preises nennen wir die durch die Erreichung des Zweckes aufgelaufenen Kosten. (S. 75)

Gewinn und Verlust ergeben sich aus dem Unterschied, der zwischen der Schätzung des hingegebenen Preises und der Schätzung des erreichten Zweckes besteht. Gewinn ist der Vorteil, den der Handelnde erhält, wenn der Ertrag der Handlung die Kosten übersteigt.  Diese Resultate können aber nicht gemessen werden. Sie sind auch nicht das Ergebnis einer Wertrechnung.

Das Werturteil misst nicht, es skaliert; es drückt Rangordnung und Reihung, aber nicht Maß und Gewicht aus. Nur die Ordnungszahlen, nicht auch die Kardinalzahlen stehen uns für den Ausdruck der Werturteile zur Verfügung. (S. 75)

Zeit

Als Einsatz von Mitteln zur Erreichung bestimmter Ziele verläuft Handeln in der Zeit und ist durch den Unterschied des Vorherigen vom Nachherigen bestimmt.

Wer handelt, muss notwendig die Zeit vor der Befriedigung von der späteren Zeit unterscheiden und ist damit dem Zeitablauf gegenüber nicht mehr unbeteiligt. (S. 76)

Der Mensch gewinnt den Begriff der Zeit und des Zeitablaufs aus seinem Handeln. Zeit ist somit ein praxeologischer Begriff. Für den Handelnden steht nicht die Vergangenheit an erster Stelle, sondern die Zukunft. Unter dem Aspekt der zukünftigen im Vergleich zur gegenwärtigen Befriedigung nimmt der Handelnde erst Gegenwart als Gegenwart und Zukunft als Zukunft wahr.

Nur im Handeln wird die Zeit unmittelbar erfasst und gewinnt die Zeitdauer einen lebendigen Sinn, einmal als Dauer zwischen dem Einsatz des Handelns und dem Eintritt des Erfolgs und dann als Dauer der Befriedigung. (S. 78)

Das Handeln findet in Gegenwart statt. Der handelnde Mensch nutzt die Wirklichkeit des Augenblicks der Gegenwart.

Die spätere rückschauende Betrachtung sieht von dem verflossenen Augenblick vor allem das Handeln und die Bedingungen, die er dem Handeln geboten hat. Das, was nicht mehr getan werden kann, weil die Bedingungen für sein Unternehmen verflossen sind, hebt die Vergangenheit, und das, was noch nicht getan oder genossen werden kann, weil die Bedingungen für ein Unternehmen oder sein Reifen noch nicht gekommen sind, hebt die Zukunft von der Gegenwart ab, die dem Handeln Möglichkeiten und Aufgaben stellt, für die es bisher zu früh war und fortan zu spät sein wird. (S. 79)

Gemessen in Zeiteinheiten ist die Gegenwart für den Handelnden verschieden lang. Sie ist unabhängig von den Zeitmaßen, die an den Bewegungsablauf der zeitmessenden Verfahren gebunden sind. Die Gegenwart schließt so viel vom Vergangenen ein, als davon noch aktuell ist, wie sie für das Handeln Bedeutung hat.

Da der Mensch über die Zukunft nichts sicher weiß, bleibt es immer unbestimmt, wieviel von der noch nicht verstrichenen Zeit wir zum jetzt und zur Gegenwart zählen. (S. 80)

Das letztlich alle anderen Knappheiten bestimmende knappe Gut ist die Zeit. Deshalb ist die Bewirtschaftung der Zeit unaufhebbar mit dem handelnden Menschen verbunden. Auch ein Überfluss an Gütern verlangt die Bewirtschaftung der Zeit, verlangt eine Rangordnung des Genusses. Auch für das Schlaraffenland muss der Handelnde mit den Wertaspekten von früher oder später umgehen, über wichtiger und weniger wichtig entscheiden. Der Mensch ist stets ein wertendes Wesen. Er kann den Dingen der Welt nicht neutral gegenüberstehen. Als Handelnder muss er die Zustände höher oder niedriger werten, vorziehen oder zurückweisen. Dabei ist die Innenwelt des Wertens von grundsätzlich anderer Art als die Außenwelt.

Das Handeln reiht und ordnet, es kennt nur die Ordnungszahl, nicht auch die Kardinalzahl. Doch die Welt, in der das Handeln zu wirken hat, ist eine Welt der Maße und Mengen. Diese Mengenbeziehungen der Außenwelt sind für das Handeln ein Datum. (S. 84)

Das menschliche Handeln orientiert sich an der subjektiv-individuellen Wichtigkeit und diese beinhaltet stets eine Rangfolge. Wichtigkeit bedeutet eine Rangfolge des Vorziehens. Im Unterschied zur Außenwelt ist die Rangfolge des Wertens weder quantitativ noch qualitativ. Ihre Struktur ist ordinal, nicht kardinal.

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Nutzen

Der Vergleich von Gütern als Mittel zur Bedürfnisbefriedigung erfolgt nach Nutzenerwägungen.

Der Nutzen eines Gutes bestimmt sich nach seiner Bedeutung für die Beseitigung oder Milderung eines Zustandes des Unbefriedigtseins. Der Nutzen im praxeologischen Sinn, das heißt der subjektive Gebrauchswert eines Gutes, ist nicht gleich dem technologischen Begriff von Nutzen, das heißt seinem objektiven Gebrauchswert.

Der handelnde Mensch bewertet ein Gut nach seinem Nutzen in einer konkreten Lage. Verallgemeinerung ergibt keinen Sinn, wie zum Beispiel die Frage, ob Gold wertvoller als Eisen sei. Die menschliche Handlung bezieht sich stets auf eine bestimmte begrenzte Menge der jeweils verfügbaren Güter. Für die Entscheidung des Handelnden ist allein maßgebend, ob er den unmittelbaren oder mittelbaren Nutzen, der für ihn von der Verfügung über eine bestimmte Menge eines Gutes im Vergleich zu einer bestimmten Menge eines anderen Gutes vorzieht, wobei diese Entscheidung stets von der aktuellen Lage abhängt.

Das Vorziehen und Zurückstellen sind kein Messen. Das Werten ist keine Rechenoperation und kein Rechnen mit Werten. Es kann so auch (anders als beim Rechnen) das Werturteil über die Gesamtvorräte zweier Güterklassen anders ausfallen als das über nur Teile oder Einheiten dieser Klassen und umgekehrt.[1]

Das Handeln misst nicht den Nutzen, es wählt zwischen verschiedenen Nutzen, zwischen denen in der gegebenen Lage zu entscheiden ist. Es gibt kein abstraktes Gesamtnutzen- oder Gesamtwertproblem. Es gibt keine Gedankenoperation, die von der im Wählen gesetzten Wertung einer kleineren oder größeren Menge oder Anzahl zur Ermittlung der Wertung einer größeren oder kleineren Menge oder Anzahl hinleiten konnte. Es gibt keine Feststellung des Wertes eines Gesamtvorrates, wenn man nur den Wert einzelner Teile kennt, über die in einem konkreten Wahlakt entschieden wurde; und es gibt keine Feststellung des Wertes eines Teilvorrates, wenn man nur den Wert des Gesamtvorrates kennt, über den in einem konkreten Wahlakt entschieden wurde. (S. 87)

Sinkender Grenznutzen

Der Begriff des Gesamtnutzens eines Gesamtvorrates kann sinnvoll nur im Hinblick auf eine Wahlhandlung angewendet werden, in der der Handelnde über den Gesamtvorrat verfügt. Liegt ein Vorrat homogener Güter vor, die als solche im Nutzen gleichwertig sind, da jedes Teilstück das andere vertreten kann, ist es ohne Bedeutung, welches Teilstück jeweils den Nutzen gewährt. Verringert sich der Vorrat, entscheidet der Grenznutzen, wie die Rangfolge der verbliebenen Teile aussehen soll. Das Grenznutzenprinzip besagt, dass wenn ein Gut vorliegt, von dem jedes einzelne Teil die gleiche Nutzwirkung verbringt, die Rangfolge nach dem Grenznutzen jeder Einheit bestimmt ist. Das Prinzip des sinkenden Grenznutzens besagt, dass die mindestwichtige Verwendung den Grenznutzen bestimmt und dass dieser sinkt, wenn mehr von diesem Gut zur Nutzung bereitsteht und davon Gebrauch gemacht wird. [2]

Aus praxeologischer Sicht besagt das „Gesetz vom sinkenden Grenznutzen“ nichts anderes als die Umkehrung des Satzes, dass das Wichtigere dem Minderwichtigen vorgezogen wird.

Für die Praxeologie ist allein wichtig, dass der handelnde Mensch zwischen mehreren Alternativen zu wählen hat und wählt. Dass er an Scheidewegen steht, entscheiden muss und entscheidet, ist neben anderen Bedingungen auch dadurch bedingt, dass er in dieser Welt der Quantitäten lebt und nicht in einer — unserem Denken nicht vorstellbaren — quantenlosen Welt. (S. 94)

Das Gesetz vom Sinken des Grenznutzens findet sein Gegenstück im Ertragsgesetz, das besagt, dass es für die Verbindung von komplementären wirtschaftlichen Produktionsgütern ein optimales Mengenverhältnis existiert. Je nach der optimalen Mengenkombinationen ergeben sich die verschiedenen Betriebsgrößen.

Ausblick

Der nächste Teil der Reihe über das Werk „Nationalökonomie“ von Ludwig von Mises behandelt das Handeln des Einzelnen in der Gesellschaft.

[1] “Es mag ein isolierter Wirt, der sieben Kühe und sieben Pferde besitzt, ein Pferd höher schätzen als eine Kuh und sich von einer Kuh leichter trennen als von einem Pferd; dennoch kann er, wenn er die Wahl hat, auf alle Kühe oder auf alle Pferde zu verzichten, den Verzicht auf die Pferde dem Verzicht auf die Kühe vorziehen.“ (S. 87/8)

[2] Ist genügend Wasser zum Gebrauch vorhanden, ist der Grenznutzen einer Einheit von Wasser so gering, dass es zum Autowaschen benutzt wird. Entsprechend gering ist die Zahlungsbereitschaft für diese Einheit, obwohl Wasser „an sich“ unendlich wertvoll ist. Ist genügend Wasser vorhanden, wird es zum freien Gut. Umgekehrt ergibt sich aus dem „Gesetz des sinkenden Grenznutzens“, dass dieser Wert steigt, wenn die verfügbare Menge geringer wird.

Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.

Ebenfalls zur „Nationalökonomie“ kürzlich erschienen: „Was ist Praxeologie?“, von Antony P. Mueller

Antony P. Mueller

Antony Peter Mueller ist promovierter und habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg, wo er von 1994 bis 1998 das Institut für Staats- und Versicherungswissenschaft in Erlangen leitete. Antony Mueller war Fulbright Scholar und Associate Professor in den USA und kam im Rahmen des DAAD-Austauschprogramms als Gastprofessor nach Brasilien.

Bis 2023 war Dr. Mueller Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Makroökonomie und Internationale Wirtschaftsbeziehungen, an der brasilianischen Bundesuniversität UFS. Nach seiner Pensionierung ist Dr. Mueller weiterhin als Dozent an der Mises Academy in São Paulo tätig und als Mitarbeiter beim globalen Netzwerk der Misesinstitute aktiv. Darüber hinaus ist er wissenschaftlicher Beirat der Partei „Die Libertären“.

In deutscher Sprache erschien 2024 sein Buch „Antipolitik“ (*), 2023 erschien „Technokratischer Totalitarismus. Anmerkungen zur Herrschaft der Feinde von Freiheit und Wohlstand“(*). 2021 veröffentlichte Antony P. Mueller das Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie. Chancen einer Gesellschaftsordnung jenseits von Staat und Politik“(*).  2018 erschien sein Buch „Kapitalismus ohne Wenn und Aber. Wohlstand für alle durch radikale Marktwirtschaft“(*).

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