Liberale Staatsbegründungen: Minimalstaat oder weniger?
17. Juni 2022 – von Michael Esfeld
[Titelfoto: Gulliver hält den Kaiser der Liliputaner auf seiner Hand.]
Freiheitsrechte
Liberalismus basiert auf Rechten, die jedem Menschen allein kraft dessen zukommen, dass er denkt und handelt. Diese Rechte sind Grund- oder Menschenrechte, weil sie an keine weitere Bedingung gebunden sind. Dementsprechend sind es lediglich Rechte der Abwehr gegen ungewollte Eingriffe in die eigene Lebensführung, und zwar Rechte der Abwehr gegen Übergriffe seitens anderer Menschen. Wenn es um Rechte der Abwehr gegenüber Staatsorganen geht, dann nur, um die Gefahr abzuwenden, dass der Staat vom Wege des Rechtsstaates abweicht. Denn insofern es eine Aufgabe für den Staat gibt, besteht diese darin, die Rechte von jedem Menschen auf seinem Gebiet durchzusetzen. Deshalb ist der liberale Staat ein „Nachtwächterstaat“: ein Minimalstaat, der sich auf die Sicherung von Grundrechten beschränkt.
Ansprüche zu erheben und mit staatlicher Gewalt durchzusetzen führt lediglich dazu, dass die freiwilligen sozialen Gemeinschaften zurückgedrängt werden und einige Menschen ihre Ansprüche mit Hilfe staatlichen Zwangs auf Kosten anderer durchsetzen.
Um zwei gängigen Missverständnissen vorzubeugen: (1) Der Liberalismus bezieht sich nicht auf isolierte Individuen. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Völlig außerhalb sozialer Beziehungen ist weder Denken noch Handeln möglich. Die Frage ist, ob der Mensch, der essentiell ein soziales Wesen ist, notwendigerweise auch ein politisches, Staaten bildendes Wesen ist oder sein soll. (2) Die sozialen Beziehungen sind immer so, dass sie sowohl kompetitive Elemente umfassen – den Wettbewerb im freien Markt von Angebot und Nachfrage – als auch genossenschaftliche Elemente: die wechselseitige Unterstützung ohne Verpflichtung zum Ausgleich von Leistung und Gegenleistung in Gemeinschaften wie Familien, Freunden, Vereinen, Verbänden (z.B. Gewerkschaften), religiösen Gemeinschaften usw. Für diese Unterstützung ist kein Staat erforderlich. Im Gegenteil: Ansprüche zu erheben und mit staatlicher Gewalt durchzusetzen führt lediglich dazu, dass die freiwilligen sozialen Gemeinschaften zurückgedrängt werden und einige Menschen ihre Ansprüche mit Hilfe staatlichen Zwangs auf Kosten anderer durchsetzen. Denn es gibt kein Wissen über eine moralisch gute, allgemeine Verteilung von Gütern und wie diese durch den Einsatz von Zwang erreicht werden könnte.
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Klassischer Liberalismus: republikanischer Rechtsstaat
Kennzeichen des Staates ist das Gewaltmonopol auf einem bestimmten Gebiet: Seine Organe entscheiden darüber, unter welchen Umständen der Einsatz von Zwang zugelassen ist, und setzen die entsprechenden Entscheidungen durch. Bei der Staatsbegründung geht es um die Rechtfertigung von Zwang, der ohne Konsens ausgeübt wird. Ob der Zwang durch Mehrheitsbeschlüsse bewilligt ist oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Eine Mehrheit hat ebenso wenig das Recht, ihre Beschlüsse einer Minderheit aufzuzwingen, wie eine einzelne Person dieses Recht in Bezug auf andere Personen hat.
Die Freiheit des einen hat ihre Grenze dort, wo sie in die Freiheit des anderen übergreift. Immanuel Kant sagt:
Recht ist die Einschränkung der Freiheit, nach welcher sie mit jeder andrer Freiheit nach einer allgemeinen Regel bestehen kann. … Wäre aber jeder frei ohne Gesetz, so könnte nichts Schrecklicheres gedacht werden. Denn jeder machte mit dem anderen, was er wollte, und so wäre keiner frei. … Das Recht beruht also auf der Einschränkung der Freiheit. … Beim Recht kommt die Glückseligkeit gar nicht in Betracht; denn die kann sich jeder zu erlangen suchen, wie er will.[1]
Daraus folgt die klassisch liberale Begründung des republikanischen Rechtsstaates: Der Staat setzt Recht durch, welches sich darauf beschränkt, die Freiheit eines jeden mit der Freiheit jedes anderen zusammenzuführen durch Gesetze, die für alle in gleicher Weise gelten. Republikanisch ist der Rechtsstaat dann, wenn die Bürger an der Festlegung der diesbezüglichen Gesetze teilhaben, zum Beispiel durch Wahlen und Abstimmungen. Recht beschränkt sich darauf, die Grundrechte jeder Person durchzusetzen. Es hat nichts mit Ansprüchen zur Beförderung von Wohlfahrt zu tun.
Dieses ist eine normative Staatsbegründung: Freiheit vollendet sich im Recht, das der Rechtsstaat durchsetzt. Der Mensch soll Staaten bilden, weil nur der Rechtsstaat die Freiheit aller gewährleistet, indem er die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen vereinbar macht.
Libertarianismus mit Staat: vom ultraminimalen zum minimalen Staat
Der Libertarianismus unterscheidet sich dadurch vom klassischen Liberalismus, dass er die normative Staatsbegründung durch eine zweckrationale ersetzt. Robert Nozick argumentiert in seinem Buch Anarchie, Staat, Utopia (1974) – dem philosophischen Standardwerk zum Libertarianismus – so: Jeder Mensch hat ein Interesse an Schutz von Leib, Leben und Eigentum. Damit gibt es einen Markt für Sicherheitsagenturen, die entsprechende Dienstleistungen anbieten. Konkurrenz verschiedener solcher Agenturen auf demselben Gebiet wäre kontraproduktiv, ebenso wie es zum Beispiel Konkurrenz verschiedener Schienennetzwerke mit unterschiedlichen Spurweiten auf demselben Gebiet wäre. Deshalb wird sich jeweils eine Agentur etablieren, die dann de facto eine Monopolstellung für das Angebot von Sicherheitsdienstleistungen auf einem Gebiet innehat.
Gemäß Nozick erfolgt dadurch der Übergang zum ultraminimalen Staat: Eine Agentur gewährleistet Sicherheit auf einem Gebiet für alle, die einen Vertrag mit ihr abgeschlossen haben. Um ihre Aufgabe effektiv zu erfüllen, kann die Agentur nicht zulassen, dass Personen auf ihrem Gebiet, die keinen Vertrag mit ihr abgeschlossen haben, Selbstjustiz zur Durchsetzung ihrer Rechte ausüben. Damit hat die Agentur de facto ein Gewaltmonopol auf einem Gebiet: Sie hindert gegebenenfalls eine jede Person daran, durch Anwendung von Gewalt ihre Rechte durchzusetzen. Das hat zur Konsequenz, dass die Agentur die Gewährleistung von Sicherheit dann auch auf alle erstreckt, die sich in dem Gebiet aufhalten. Damit ist aus dem ultraminimalen ein Minimalstaat geworden, der sich in seinen Befugnissen nicht von dem Rechtsstaat des klassischen Liberalismus unterscheidet.
Libertarianismus ohne Staat: Wettbewerb von Sicherheitsdienstleistern
Ist dem aber wirklich so? Schienennetzwerke verschiedener Spurweite, die auf dem gleichen Territorium in Konkurrenz zueinander treten, ergeben keinen Sinn. Aber Wettbewerb zwischen Betreibern eines Schienen- und eines Straßennetzwerkes (und gegebenenfalls eines Luft- und eines Seewegenetzwerkes), um von A nach B zu gelangen, ergibt Sinn. Das heißt: Man kann den Schritt zum Monopol einer Sicherheitsagentur bestreiten. Zweckrational in Bezug auf den Schutz vor Übergriffen gegen Leib, Leben und Eigentum könnte auch die Konkurrenz mehrerer Agenturen sein, die diesbezüglich verschiedenartige Dienstleistungen anbieten – sofern man plausibel machen kann, dass das Resultat nicht die rechtslose Anwendung von Gewalt unter diesen Agenturen wäre.
Dann findet der Schritt zum Staat nicht statt, weil es kein Gewaltmonopol gibt. Das ist der anarchische Libertarianismus, der auch als Anarcho-Kapitalismus bekannt ist. Diese Bezeichnung ist allerdings missverständlich: Es geht nicht um kompetitive vs. genossenschaftliche soziale Beziehungen, sondern darum, ob der Schritt zum Gewaltmonopol, das einen Staat kennzeichnet, zweckrational ist.
In jedem Fall kann man im Liberalismus welcher Prägung auch immer nur einen Minimalstaat begründen, der Grundrechte durchsetzt.
Ob der Libertarianismus staatsbegründend ist oder nicht, ist also eine rein zweckrationale Frage wirksamen Schutzes: Aus Verträgen zu Sicherheitsdienstleistungen kann de facto, ohne dass dieses als solches beabsichtigt ist, der Übergang zu einem Gewaltmonopol erfolgen. Demgegenüber steht im klassischen Liberalismus normativ der Rechtsstaat als Wert an sich selbst, weil er dasjenige ist, was die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen vereinbar macht. In jedem Fall kann man im Liberalismus welcher Prägung auch immer nur einen Minimalstaat begründen, der Grundrechte durchsetzt.
Keine rein akademische Diskussion
Die Staaten, die wir kennen, sind meilenweit von einem Minimalstaat entfernt. Insofern mag die Unterscheidung zwischen verschiedenen liberalen Staatsbegründungen als eine rein akademische Angelegenheit erscheinen. In der Tat geht es hier um eine kontrafaktische Staatsbegründung, die folgende Frage zu beantworten versucht: Ist es ausgehend von den Grundrechten der Menschen möglich, einen Staat zu begründen, der diese Rechte nicht verletzt, obwohl die bestehenden Staaten dieses – allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmaße – tun? Die Antwort auf diese Frage kann dann als Leitfaden für Vorschläge zur Verbesserung bestehender Staaten dienen.[2]
Wir erleben in Europa und Amerika zur Zeit den Übergang von der Moderne, die sich am republikanischen Rechtsstaat der Aufklärung zumindest orientierte, zur real existierenden Postmoderne.[3] Seit 1971, als Präsident Nixon die Definition des US-Dollar durch eine bestimmte Menge Gold (damals 1/35 einer Feinunze) aussetzte, können unsere Staaten die Befriedigung immer weiter ausufernder Ansprüche, die sie selbst zur Ausweitung ihrer Macht hervorrufen, nur durch unbegrenztes Drucken von fiat Geld aufrecht erhalten. Dessen freiwillige Akzeptanz hängt an der Illusion, dass die Kaufkraft dieses Geldes durch irgendetwas anderes als die Waffen des Staates gedeckt wäre. Je mehr jedoch ein Staat dieses Instrument einsetzt, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass die Illusion des fiat Geldes auffliegt und infolgedessen der Staat seine Wohlfahrtsversprechen nicht mehr erfüllen kann. Dann wären wir auf den Wohlstand angewiesen, der im freien Markt durch Wettbewerb geschaffen wird, und auf das soziale Netz, das genossenschaftlich ausgerichtete Gemeinschaften gewähren.
Man muss postfaktischen, kollektivistischen Narrativen folgen, um das vom Staat gewährt zu bekommen, was einst Grundrechte waren …
Mit dem Corona-Regime wird die real existierende Postmoderne zunehmend totalitär: Sie erfasst nunmehr alle Bereiche des Zusammenlebens. Man muss postfaktischen, kollektivistischen Narrativen folgen, um das vom Staat gewährt zu bekommen, was einst Grundrechte waren, die der Staat schützen sollte. Damit handelt es sich allerdings nicht mehr um Grundrechte, sondern um Belohnungen für Konformität. Wie inzwischen deutlich wird, muss man nahtlos von einem Narrativ zum nächsten übergehen – von Corona zu Klima zu Krieg und was sonst noch kommen mag –, um den für alles Fürsorge tragenden Staat aufrecht zu erhalten. Je mehr solcher Narrative man aber auffährt und je spürbarer ihre zerstörerischen Konsequenzen werden, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass mehr Menschen dieses Blendwerk durchschauen und sehen, dass der Kaiser nackt ist: Diese Narrative sind lediglich ein Bestreben, die Menschen zu entmündigen und ihre Lebensformen zu zerstören, um Macht über sie ausüben zu können.
Damit wird aus der akademischen eine politische Frage: Können wir den Weg der Moderne mit dem republikanischen Rechtsstaat wieder aufnehmen? Oder ist dieser Weg durch die real existierende Postmoderne, die wir seit dem fiat Geld und dem Corona-Kollektivismus erleben, definitiv beendet worden? Wäre dann eine libertäre Utopie (Nozick, Anarchie, Staat, Utopia, 3. Teil) eine reelle Alternative zu der Dystopie eines weltumspannenden Sozialkreditsystems?
[1] Vorlesung Naturrecht, Nachschrift Feyerabend (1784), in Kants gesammelte Schriften, Hg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Band 27.2, S. 1320-21, Orthografie angepasst.
[2] Siehe dazu R. M. Bader, „Counterfactual justifications of the state“, Oxford Studies in Political Philosophy 3 (2017), S. 101-131.
[3] Siehe dazu M. Esfeld, „Corona-Politik: Die real existierende Postmoderne“, in K. Beck, A. Kley, P. Rohner und P. Vernazza (Hgg.), Der Corona-Elefant, Zürich: Versus 2022, S. 245–262, preprint https://www.philosophie.ch/artikel/2021/esfeld-2020-11-24
Michael Esfeld, geboren 1966 in Berlin (West), ist seit 2002 Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne. Seit 2010 ist er Mitglied der Leopoldina, Deutsche Nationale Akademie der Wissenschaften; 2013 Forschungspreis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung; seit 2021 Mitglied im Akademischen Beirat des Liberalen Instituts der Schweiz. Letzte Buchveröffentlichungen: „Wissenschaft und Freiheit. Das naturwissenschaftliche Weltbild und der Status von Personen“ (Suhrkamp 2019); „Und die Freiheit? Wie die Corona-Politik und der Missbrauch der Wissenschaft unsere offene Gesellschaft bedrohen“ (mit Christoph Lütge, riva 2021).
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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.
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