Glanz und Elend der Liberalen in Zeiten des permanenten Notstands

Karl-Peter Schwarz

10. Juni 2022 – von Karl-Peter Schwarz

[Rede zur Eröffnung der 16. Gottfried von Haberler (1900 – 1995) Konferenz in Vaduz, 19. Mai 2022.]

[Titelfoto: Wuppertal, Gründerzeitfassaden aus der Ära des klassischen Liberalismus.]

Echte Liberale sind per definitionem radikale Individualisten, nicht nur methodisch, sondern auch in ihrem politischen Verhalten. Sobald sie eine Partei bilden, geht es schief. Entweder, die Partei geht unter, oder sie opfert den Liberalismus dem politischen Erfolg.

Liberale Parteien haben ihr Profil häufig geändert. In Deutschland, Österreich und Italien mutierten Liberale in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zu Nationalisten und Imperialisten, während sie eine gar nicht liberale Kampagne gegen die katholische Kirche führten. In England pflegten sie ein entspanntes Verhältnis zur Religion und vertraten ihre Werte im konservativen Lager. Heute gibt es liberale Konservative und konservative Liberale sowie Rechts-, Links-, Sozial-, Wirtschafts- und Kulturliberale. Man findet Liberale heute so häufig wie die „Sozialisten in allen Parteien“, vor denen Friedrich August von Hayek (1899 – 1992) gewarnt hatte

… Freiheit ist die Abwesenheit von Zwang. Politik hingegen kann auf Zwang nicht verzichten.

Kurz gesagt ist die Geschichte des politischen Liberalismus die Geschichte des politischen Scheiterns der Liberalen. Der Grund dafür ist einfach: Liberale sind nämlich der Freiheit verpflichtet, und Freiheit ist die Abwesenheit von Zwang. Politik hingegen kann auf Zwang nicht verzichten. Sie beruht auf Kollektiventscheidungen, und sofern sie diese Entscheidungen nicht einstimmig gefällt werden, was sehr selten der Fall ist, ist die Politik darauf angewiesen, die Zustimmung notfalls zu erzwingen.

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Anthony de Jasay (1925 – 2019), der vor drei Jahren verstorbene große liberale Denker, war einer der wichtigsten politischen Philosophen unserer Zeit. Das Wesen des Liberalismus faßte er einmal prägnant im Titel eines seiner Bücher zusammen: Es hieß „Against Politics“.

In seinem Hauptwerk „Der Staat“ verglich er die Verfassung mit einem Keuschheitsgürtel, dessen Schlüssel am Bettpfosten hängt. Wenn es wirklich einmal darauf ankommt, sperrt ihn eine Notverordnung auf

De Jasay warnte eindringlich vor der Illusion, eine liberale Verfassung reiche aus, um die Freiheit zu schützen. In seinem Hauptwerk „Der Staat“ verglich er die Verfassung mit einem Keuschheitsgürtel, dessen Schlüssel am Bettpfosten hängt. Wenn es wirklich einmal darauf ankommt, sperrt ihn eine Notverordnung auf:

Ein Staat, der durch das ‘Gesetz der Gesetze’ gebunden ist, gleichzeitig aber auch der Monopolist der Gesetzesdurchsetzung ist, kann sich jederzeit losbinden.

Als sich die französischen Sozialisten einmal über die Verfassung hinwegsetzten, um Banken und große Unternehmen zu verstaatlichen, und die Opposition dagegen protestierte, antwortete ein sozialistischer Abgeordneter: „Verfassungsrechtlich irren sie sich, weil sie politisch in der Minderheit sind.“ De Jasay empfahl, diesen Satz in die Lehrbücher der Politikwissenschaft aufzunehmen.

Aus dieser grundsätzlichen Absage an die Politik folgt natürlich nicht, dass Liberale darauf verzichten sollten, ihre Ideen in den politischen Wettbewerb einzubringen. Es bleibt ihnen ja nichts anderes übrig. Sie haben das immer getan, als Publizisten und als Berater von Regierungen, als Mitglieder von politischen Parteien, sogar als Spitzenpolitiker, fast immer in konservativen Parteien – man denke nur an Ludwig Ehrhard (1897 – 1977) und seine Rolle in der CDU, oder an Ronald Reagan (1911 – 2004) und Margaret Thatcher (1925 – 2013), die sich an Friedrich August von Hayek orientierten. Aber je konsequenter Liberale für den Liberalismus eintraten, desto mehr Enttäuschungen mußten sie erleben.

Ich wollte Reformer werden, doch ich bin nur der Geschichtsschreiber des Niederganges geworden,

bekannte ein zutiefst deprimierter Ludwig von Mises (1881 – 1973) in seinen Erinnerungen, die er 1940 in der amerikanischen Emigration verfaßte. Bezogen auf die Erste Österreichische Republik schrieb er:

Es war mir klar, dass Österreich dem Bürgerkrieg entgegenging. Ich konnte nichts dagegen unternehmen. Selbst meine besten Freunde waren der Meinung, daß man der Gewalt der Sozialdemokratie nur durch Gewalt entgegentreten könne.

Die jüngere Geschichte des liberalen Denkens kann nur im Zusammenhang mit der politischen, ökonomischen und kulturellen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts verstanden werden. Liberales Denken reflektierte eine lange Serie realer, von Menschen gemachter Katastrophen, die mit dem Ersten Weltkrieg begann und deren Ende sich nicht absehen läßt: Es besteht im Gegenteil die Gefahr, dass weitere, vielleicht sogar noch schlimmere Katastrophen über die Menschheit hereinbrechen könnten. Der Notstand ist nicht mehr die Ausnahme, der Notstand ist die Regel, und jeder Notstand stärkt den Staat, erweitert seine Befugnisse und schränkt die Freiheit der Menschen ein.

Der Kriegssozialismus der Jahre 1914 – 1918 begrub dann endgültig die klassische liberale Ära.

Schon um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert „war jedermann im deutschen Sprachgebiet Etatist oder Staatssozialist“ gewesen, schrieb Ludwig von Mises. Der Kriegssozialismus der Jahre 1914 – 1918 begrub dann endgültig die klassische liberale Ära. Unter Berufung auf den Notstand schränkte der Staat die Marktwirtschaft ein, er formte sie um gemäß seinen militärischen Zwecken; er verwandelte die Bürger in Staatsdiener und schuf damit das Vorbild, nach dem Lenin, Stalin und Hitler ihre totalitären Gesellschaften organisieren sollten. Der Krieg endete, der Zugriff des Staates auf Wirtschaft und Gesellschaft blieb.

Die Illusion, dass die Wirtschaft bei Planern und Politikern besser aufgehoben sei als auf dem freien Markt, setzte sich nicht nur in Rußland, Italien und Deutschland durch, sondern ergriff auch Großbritannien, die Vereinigten Staaten, praktisch die gesamte freie Welt. Ihre theoretische Ausformung verlieh ihr John Maynard Keynes (1883 – 1946). Wer sich auf den Hochschulen dem keynesianischen Zeitgeist widersetzte, endete im akademischen Abseits. Die Welt verschloß sich dem liberalen Geist. Der Reihe nach setzten totalitäre Regime fundamentale Menschen- und Freiheitsrechte außer Kraft.

Die Österreichische Schule der Nationalökonomie und die liberalen Ökonomen … führten einen Abwehrkampf, der angesichts des Zeitgeistes keine Aussicht auf Erfolg hatte.

Die Österreichische Schule der Nationalökonomie und die liberalen Ökonomen in Freiburg, London und Chicago führten einen Abwehrkampf, der angesichts des Zeitgeistes keine Aussicht auf Erfolg hatte. Je stärker der Druck wurde, je mehr die Freiheit schwand, desto größer wurde ihr Bedürfnis, sich darüber auszutauschen, was sie gegen den Zivilisationsbruch tun könnten, der eine Folge der Erosion der freiheitlichen Ordnung war.

Eine Streitschrift des amerikanischen Publizisten Walter Lippmann (1889 – 1974), die sich unter dem Titel „The Good Society“ gegen den Kollektivismus aller politischen Richtungen wandte und eine Rekonstruktion des Liberalismus vorschlug, gab den Anstoß zu einem ersten Treffen dieser Art. Das Lippmann Kolloquium fand im August 1938 in Paris statt.  Außer Lippmann nahmen unter anderen Raymond Aron, Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises, Wilhelm Röpke, Michael Polanyi, Jacques’ Rueff und Alexander Rüstow daran teil. Rüstow prägte den Begriff Neoliberalismus, der bei den Nationalökonomen der österreichischen Schule auf Widerstand stieß. Es wäre bedauerlich, sagte Mises, „wenn die Aufgabe des Begriffs Liberalismus als eine Konzession an die totalitären Ideen interpretiert werden könnte“.

Philipp Plickert, einst mein Kollege bei der FAZ, hat ein exzellentes Buch über die Geschichte des Neoliberalismus verfaßt. Die Teilnehmer des Lippmann-Kolloquiums, schrieb er, redeten oft aneinander vorbei, „Definitionen wurden nicht explizit gemacht, gegensätzliche Meinungen nicht klar abgegrenzt“. Und das war wohl auch gut so, denn der Zweck des Kolloquiums konnte ja nicht darin bestehen, unvereinbare theoretische Positionen auf dem Gebiet der Nationalökonomie zu vereinheitlichen. Es ging vielmehr um eine politische Aufgabe, nämlich um den Versuch, unter freiheitlich gesinnten Intellektuellen auf möglichst breiter Grundlage einen Minimalkonsens herzustellen, um sich gegen Kollektivismus und Totalitarismus zu wappnen.

Wenige Wochen nach dem Lippmann-Kolloquium lieferten Frankreich und Großbritannien im Münchner Abkommen Hitler das Sudetenland aus. Sie hofften, ihn zufrieden stellen zu können. Das Appeasement erwies sich als das Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg, dem im Verlauf von nur sechs Jahren sechzig Millionen Menschen zum Opfer fallen sollten.

Während des Zweiten Weltkriegs vollzog sich die Wandlung von Hayek, dem Ökonomen, in Hayek, den politischen Philosophen. Es reichte nicht mehr, den Sozialismus mit den Methoden der Ökonomie zu analysieren, wie Mises und er es in den 1920er Jahren getan hatten. Um wenigstens die Idee einer liberal verfaßten Gesellschaft zu retten, mußte ihren Feinden auch auf den Gebieten der politischen Philosophie, der Soziologie und der Geschichte entgegengetreten werden.

1944 legte Hayek in England sein bis heute bekanntestes Buch vor, „Der Weg zur Knechtschaft“. Es richtete sich, wie er in einem späteren Vorwort schrieb, „an jene Kreise der sozialistischen Intelligenz Englands …, die im Nationalsozialismus eine ‚kapitalistische‘ Reaktion gegen die sozialen Tendenzen der Weimarer Republik sahen, und sollte ihnen verständlich machen, daß es sich im Gegenteil um eine Fortentwicklung des Sozialismus handelte“, um eine „zwangsläufige Folge“ der sozialistischen Bestrebungen. Er habe, schrieb Hayek, in England „dieselbe Geringschätzung des Liberalismus des 19. Jahrhunderts“ erlebt wie in der Weimarer Republik, denselben hohlen Realismus, ja, sogar Zynismus, dasselbe fatalistische Sichabfinden mit einer ‚zwangsläufigen Entwicklung‘.“

Der Krieg hatte so gut wie alles vernichtet, nur nicht den Glauben an den Staat und an die Überlegenheit der Planwirtschaft.

Als amerikanische und sowjetische Soldaten am 25. April 1945 in Torgau aufeinandertrafen und den Sieg über Hitler feierten, hofften viele auf den Beginn einer neuen Ära der Freiheit.  Tatsächlich aber war der Krieg von einer Koalition gewonnen worden, deren Partner einander bereits in einer neuen ideologischen und geopolitischen Konfrontation gegenüberstanden. In den beiden ersten Nachkriegsjahren wurden die Fundamente einer freiheitsfeindlichen Ordnung gelegt, die bis 1989 Bestand haben sollte. Im Eisernen Vorhang materialisierte sich eine ideologische Grenze. In China ergriffen die Kommunisten die Macht, in Griechenland tobte ein Bürgerkrieg, in der Tschechoslowakei bereitete sich ein schleichender Übergang in eine kommunistische Diktatur vor. Es herrschte Hunger in Europa, die Städte, die Industriebetriebe und die Infrastrukturen waren zerstört, Flüchtlinge und Vertriebene strömten auf der Suche nach einer neuen Heimat ins zerbombte Deutschland. Die Folgen des Zweiten Weltkrieges waren noch verheerender als die des Ersten. Der Krieg hatte so gut wie alles vernichtet, nur nicht den Glauben an den Staat und an die Überlegenheit der Planwirtschaft. Auch westlich des Eisernen Vorhangs, sogar in England, wo der Liberalismus geboren wurde, setzte sich die Idee des Sozialismus durch. Abermals befanden sich die liberalen Denker in der Rolle einer akademisch und politisch geächteten Minderheit.

Paradoxerweise ist der Widerstand gegen den Kapitalismus in dem Maße gewachsen, in dem er den Wohlstand gewaltig vermehrte und den Massen einen Lebensstandard ermöglichte, den sie nie zuvor in der Geschichte gehabt hatten.

Der Unterschied zwischen den Lebenswelten derer, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufwuchsen, und jener, die in seiner zweiten Hälfte in die Welt gesetzt wurden, war enorm. Noch nie hatten es junge Menschen so leicht gehabt wie die nach 1945 geborenen, und keine Generation war so rücksichtslos gefordert und geprüft worden wie die Generation ihrer Eltern.

Mein Vater wurde fünf Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs geboren. Er hatte als Kind den Zusammenbruch des Habsburger Reiches erlebt, als junger Mann den mörderischen Klassenkampf der Ersten Republik, den Aufstieg des Nationalsozialismus, den „Anschluß“ und Hitlers Krieg. Als er aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, widmete er sich dem Wiederaufbau und der Wiederherstellung der österreichischen Souveränität.

Westlich des Eiserneren Vorhangs waren die Jahre von 1950 bis 1973 ein goldenes Zeitalter. Bei einer jährlichen Wachstumsrate von vier Prozent verdreifachte sich das Pro-Kopfeinkommen.

Ich wurde sieben Jahre nach Kriegsende geboren, wurde nie verfolgt, mußte nie um mein Leben fürchten, litt weder Kälte noch Hunger. Ich durfte studieren, was ich wollte, und fand – das war damals noch die Regel – dennoch mühelos Arbeit. Das Fundament, auf dem meine Generation ihre Zukunft aufbauen konnte, war solid. Westlich des Eiserneren Vorhangs waren die Jahre von 1950 bis 1973 ein goldenes Zeitalter. Bei einer jährlichen Wachstumsrate von vier Prozent verdreifachte sich das Pro-Kopfeinkommen. Der Fleiß und die Sparleistung der Eltern, der technische Fortschritt, das wachsende Humankapital und der weltweite Handel hoben den Wohlstand in einem Ausmaß, das Europa zuvor nur nach den napoleonischen Kriegen erlebt hatte, und natürlich zwischen 1870 und 1913, in der Ära des klassischen Liberalismus, der Stefan Zweig in der „Welt von Gestern“ ein literarisches Denkmal gesetzt hat.

Sie hielten es nicht nur für selbstverständlich, dass es ihnen künftig immer besser gehen würde, sondern auch, dass ihnen das „die Gesellschaft“ schuldete.

Die Mangelwirtschaft der Nachkriegszeit wurde rasch überwunden. Die Wirtschaft boomte, die Nachfrage nach Arbeitskräften stieg, mit ihr die Löhne. Bald zogen Waschmaschinen und Kühlschränke, Elektroherde und Staubsauger, Musikschränke und Fernsehgeräte in die Haushalte ein. Der Eintritt in den Arbeitsmarkt löste die Frauen von ihrer ausschließlichen Bindung an Haushalt und Familie und revolutionierte das Verhältnis zwischen den Geschlechtern (damals gab es erst zwei). Sogar Fernreisen und ein Studium im Ausland rückten für viele Studenten in den Bereich der Möglichkeiten. Sie hielten es nicht nur für selbstverständlich, dass es ihnen künftig immer besser gehen würde, sondern auch, dass ihnen das „die Gesellschaft“ schuldete.

Mit dem zunehmenden Wohlstand stiegen die Ansprüche. Dabei ging es nicht nur um Materielles. Konsum war nicht alles, er war alltäglich geworden, denn Güter waren im Überfluß vorhanden. Aber das kleine Glück der Eltern, das Einfamilienhaus mit Garten, das Auto und der Urlaub am Meer reichten nicht. Die Nachgeborenen beklagten die politische Apathie der Väter. Fleiß, Verantwortung, Sparsamkeit und Verzicht, alles Werte, die der Wiederaufbau erfordert hatte, widersprachen ihrem grenzenlosen Glücksanspruch. Sie wollten eine neue, von allen lustfeindlichen Beschränkungen befreite Welt. Auf dem Weg dahin schien alles erlaubt zu sein. Der Verstoß gegen die herkömmliche Moral wurde geradezu obligatorisch. Die Jugendkultur der sechziger Jahre, mit ihrem Kult der freien Sexualität, der Exzesse und der Drogen, war so egozentrisch wie romantisch. Aber die Änderungen in der Werteskala und im individuellen Verhalten hatte weitreichende Folgen. Äußerlich betrachtet blieb die Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft intakt. Aber ihre Werte hielten dem Druck nicht stand. Zwar bleiben die öffentlichen Institutionen erhalten, aber nach und nach ging ihre bürgerliche Substanz verloren.

Auch in der Kirche standen die Zeichen auf Sturm. Im Oktober 1958 starb Pius XII., mit ihm wurde das Ancien Régime des Katholizismus zu Grabe getragen. Im Verlauf der nächsten zehn Jahren veränderte sich die Kirche radikal. Klobige Volksaltäre wurden vor den prächtigen Hochaltären aufgestellt, denen die Priester nunmehr ostentativ den Rücken zuwandten, um den Bruch mit der Tradition zu verdeutlichen. Mit der „Pillen-Enzyklika“ Humanae vitae versuchte Paul VI. vergeblich, korrigierend einzugreifen, woraufhin die Progressiven offen zum Widerstand gegen den Papst aufriefen. Noch bevor sie die Hochschulen erfaßte, hatte sich die Kulturrevolution in der Kirche festgesetzt. Als sie am dringendsten gebraucht worden wäre, verzichtete die Kirche auf ihre Rolle als Gegenbild und Korrektiv gesellschaftlicher Fehlentwicklungen.

Es ist merkwürdig, dass in den zahlreichen Büchern, die sich mit der Kulturrevolution nach 1968 beschäftigen, das Zweite Vatikanische Konzil und die postkonziliäre Wende entweder gar nicht oder nur am Rande erwähnt werden. Der Einfluß der radikalen, außerparlamentarischen Linken wird erheblich überschätzt, während die sozio-kulturellen Tiefenströmungen, die sie hervorgebracht hat, zu wenig beachtet werden. Weder die Berliner Krawalle noch der Pariser Mai haben die kulturelle Wende herbeigeführt, die im Rückblick mit 1968 assoziiert wird. Nicht die Linksradikalen haben die Gesellschaft verändert, sondern eine Gesellschaft in rasanter Veränderung franste an ihren linken Rändern aus. Aus revolutionären Marxisten wurden Kulturmarxisten, was ihren Karrieren in Schulen und Hochschulen, in den Medien und in der Kulturindustrie sehr zugute kam.

Die post-marxistischen Intellektuellen sind die Oberpriester des neuen Konformismus.

Bis heute verteidigen Intellektuelle dieser Generation nicht nur ihr linkes Deutungsmonopol der Geschichte, sondern sie erweitern die „political correctness“ um immer neue Denk- und Sprechverbote. Die post-marxistischen Intellektuellen sind die Oberpriester des neuen Konformismus. Längst treten sie nicht mehr für die Diktatur des Proletariats ein, aber zentrale Forderungen, die Marx und Engels 1848 im „Kommunistischen Manifest“ erhoben, sind auch die ihren: „starke Progressivsteuer“, „Abschaffung des Erbrechts“, „Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol“, „öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder“.

Was die Moderne „Wandel“ nennt, nämlich „das immer schnellere Marschieren auf dem gleichen Weg in die gleiche Richtung“ (Nicolás Gómez Dávila), macht ihr Wesen aus.

Ihr festes Vertrauen in den starken Staat und in den Primat der Politik als Vehikel einer permanenten Revolutionierung der Lebenswelten, zu der auch die Förderung der Massenmigration gehört, macht sie zu natürlichen Verbündeten der globalen Eliten und der zentralistischen Bürokratien in den supranationalen Institutionen. Was die Moderne „Wandel“ nennt, nämlich „das immer schnellere Marschieren auf dem gleichen Weg in die gleiche Richtung“ (Nicolás Gómez Dávila, 1913 – 1994), macht ihr Wesen aus. Was sie eint, ist die Anmaßung des Wissens, die arrogante Annahme, besser als alle anderen Bescheid zu wissen, wie die Geschichte zu einem guten Ende geführt werden könnte.

Doch stellen wir uns einmal vor, die Achtundsechziger hätten samt und sonders öffentlich Abbitte geleistet und der Kulturmarxismus wäre uns erspart geblieben. Wäre unsere Welt dann wesentlich anders? Gäbe es dann keine progressive Besteuerung mehr, kein Monopol der Zentralbank, keine permanenten Eingriffe in die Eigentumsrechte? Würde die Moral der Marktteilnehmer plötzlich den Versuchungen inflationärer Geldpolitik standhalten? Würden das Gesundheits- und das Bildungswesen privatisiert werden? Würden die traditionellen Familien die Patchworks ersetzen? Würde es weniger Scheidungen und weniger Abtreibungen geben? Würde die Geburtenrate steigen? Würden Selbstbestimmung und Selbstverantwortung an die Stelle sozialstaatlicher Gängelung treten? Würden sich die Kirchen wieder füllen? Ich glaube das nicht.

Für die kulturellen Veränderungen, die in den 1960er Jahren einsetzten, gibt es in der Geschichte zahlreiche Parallelen. Es ist eine historische Gesetzmäßigkeit, dass die rasche Akkumulation von Reichtum die Begehrlichkeiten jüngerer Generationen wecken, die wiederum das gesellschaftliche Gleichgewicht zerstören und einen fortschreitenden Verfall der überkommenen Ordnung bewirken. Das Ende der Römischen Republik ist so ein Beispiel, ebenso die Erosion des Ancien Régime im Frankreich des 18. Jahrhunderts und der Niedergang des klassischen Liberalismus an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Nie ist es gelungen, das Rad zurückzudrehen und den Status quo ante wiederherzustellen.

Liegt hier der Grund dafür, dass Liberale und Konservative mehr gemeinsam haben, als sie sich manchmal eingestehen wollen? Sein Liberalismus, schrieb Hayek 1971, habe wenig mit irgendeiner politischen Bewegung zu tun. Es sei ihm immer mehr bewußt geworden, „welch große Kluft zwischen meinem Standpunkt und dem rationalistischen kontinentalen Liberalismus“ bestehe. Nicht nur waren Margaret Thatcher und Ronald Reagan, die sich in den 1980er Jahren an Hayeks Reformvorschlägen orientierten, durch und durch konservative Politiker. Auch Hayek selbst modifizierte seine politische Theorie, indem er typisch konservative Positionen integrierte.

Es wäre Hayek sehr schwergefallen, sein Spätwerk vom Konservativismus abzugrenzen, bemerkte James Buchanan (1919 – 2013) in einem kurzen Essay unter dem Titel „Warum auch ich kein Konservativer bin“ (2005). Hayeks evolutionäre Sicht gefalle den Konservativen.

Doch auch Buchanan glaubte nicht, dass Liberale auf konservative Inhalte verzichten könnten.

Der christliche Glaube mit seiner Betonung der Selbstverantwortung und Unabhängigkeit, schrieb Buchanan, „ist zum klassischen Liberalismus komplementär. In dem Maße wie Gott zurückkehrt, wird die Abhängigkeit des individuellen Bürgers vom Staat schwinden; jedenfalls so lange, wie religiöser Eifer nicht zu politischem Druck auf jene führt, denen es am entsprechenden Glauben mangelt. Die Trennung von Kirche und Staat dürfte derartigen Eifer in Schach halten.“ („Restoring the Spirit of Classical Liberalism“, 2005)

Die sogenannten „liberalen Demokraten“ von heute, damit gemeint sind Politiker wie Draghi und Macron, Scholz und Biden, haben mit dem klassischen Liberalismus nichts gemein. Sie treten für eine multilateral gesteuerte Weltordnung ein, die sich über Nationen, Traditionen und Religionen hinwegsetzt. Darin sind sie der postmarxistischen Linken verwandt.

Konservative hingegen lehnen es ab, historisch gewachsene durch konstruierte Ordnungen zu ersetzen. Das verbindet sie mit dem klassischen Liberalismus, der als eigenständige politische Bewegung scheitern mußte, weil er aus sich heraus keine kollektiven Ziele definieren konnte. Was bleibt ist die Einsicht, dass eine auf Privateigentum beruhende Gesellschaft nicht nur wirtschaftlich prosperiert, sondern auch die Individualität und die Freiheit der Bürger am besten bewahrt.

Was folgt daraus für die politische Praxis des Liberalen? Der italienische Liberale Antonio Martino (1942 – 2022), der im März dieses Jahres verstorben ist, hatte darauf eine gültige Antwort parat, die Kurt Leube seinem Nachruf auf ihn voranstellte.

Liberal sein“, sagte Antonio Martino, heiße „heute, konservativ zu sein, wenn es darum geht, bereits erreichte Freiheiten zu verteidigen, und radikal zu sein, wenn es darum geht, noch verweigerte Freiheitsräume zu erobern. Reaktionär, um verlorene Freiheit zurückzuholen, revolutionär, wenn die Eroberung der Freiheit keinen Raum für Alternativen offen läßt. Und immer fortschrittlich, weil es ohne Freiheit keinen Fortschritt geben kann.

Karl-Peter Schwarz ist Österreicher und 1952 geboren. Er ist nach 40 Jahren Journalismus mit Schwerpunkt Osteuropa als freier Autor tätig, unter anderem als Korrespondent für die FAZ. Zur Zeit ist er zudem Kolumnist für die Wiener “Presse” und “Cato”.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.

Titel-Foto: Adobe Stock

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