Kapitalismus einfach erklärt
23.12.2016 – von Frank Hollenbeck.
In einer aktuellen Umfrage der Harvard University lehnten 51% der Generation Y den Kapitalismus ab, während 33% den Sozialismus befürworteten. Lehnen die Millenials also wirklich freie Märkte ab oder verwechseln sie Kapitalismus einfach mit unserem derzeitigen System von Parteibuchwirtschaft, Korporatismus, Merkantilismus oder irgendeinem anderen „ismus“?
Was genau ist eigentlich Kapitalismus?
Beginnen wir mit folgender Wahrheit: Wir können nicht einfach mit dem Finger schnippen, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Sobald wir geboren sind, müssen wir uns bemühen, zu überleben. Wir müssen zuerst atomare Elemente, die uns die Natur beliebig zur Verfügung stellt, in Güter und Leistungen transformieren, die uns schließlich Zufriedenheit verleihen. Alles, was wir benötigen um einen italienischen Sportwagen zu bauen, wird von der Natur bereitgestellt, aber nicht in einer Form, die man direkt und ohne Modifikationen benutzen könnte. Das Rohmaterial muss mit unserer Arbeitskraft und unserem Know-how kombiniert werden. Bedürfnisse können nur durch Anstrengung befriedigt werden. Ständig versucht die Menschheit, diese mühsamen Anstrengungen zu reduzieren, die so viel unserer Energie und Zeit in Anspruch nehmen. Leider ist die Geschichte der Menschheit aber eine der Plünderung: Ein Plan für geringe Anstrengung. Es ist nämlich sehr viel einfacher einen Sack Getreide zu stehlen, anstatt Getreide selber anzubauen.
Man kann sich eine schier unendliche Anzahl an Sozialsystemen vorstellen, aber man kann die Tatsache nicht ignorieren oder verdrängen, dass es enorme Anstrengungen erfordert, um die Hindernisse zu überwinden, die unseren unzähligen Bedürfnissen im Wege stehen und wir dennoch nur begrenzte Zufriedenheit erlangen können. Kapitalismus ist ein Sozialsystem, das auf einem simplen Prinzip der Gerechtigkeit basiert: Einer Person, die sich aus freien Stücken anstrengt, steht die volle Verfügbarkeit über die daraus resultierende Zufriedenheit zu. Kapitalismus stellt das Individuum und dessen natürliche Rechte, inklusive dessen individuelle Freiheit, in den Mittelpunkt des Sozialsystems.
Privates Eigentum, das Kernstück des Kapitalismus, leitet sich naturgemäß von diesem Gerechtigkeitsprinzip ab. Privates Eigentum gewährleistet Gerechtigkeit.
Kommunismus oder sein Vetter, der Sozialismus, sind Sozialsysteme, die von Menschen so ausgestaltet werden, dass die Gesellschaft oder das Volk über dem Individuum stehen. Sie verletzen damit das Gerechtigkeitsprinzip und ersetzen es durch vage Ideen von Möglichkeiten und Notwendigkeiten, ganz nach dem Motto: „Jeder nach seinen Fähigkeiten [Anstrengungen], jedem nach seinen Bedürfnissen [Zufriedenheit].“[1] Hier haben wir Anstrengung ohne Belohnung und anstrengungslose Zufriedenheit, sowie eine elastische Definition von Bedürfnissen.
Im Gegensatz dazu ist der Kapitalismus nicht designt, sondern eine natürliche Entwicklung von Selbstinteresse, welches jedem Menschen innewohnt.
Die ersten Menschen, die einen Kontinent besiedelten, lebten in nächster Nähe zueinander, da durch die Kombination ihrer Arbeitskraft die Anstrengung reduziert werden konnte. Diese Reduktion ermöglichte es, mehr und mehr Bedürfnisse (Güter und Leistungen) zu befriedigen. Bald schon spezialisierte sich jede Siedlung, aufgrund ihres komparativen Kostenvorteils, und betrieb freiwilligen Handel mit Gütern und Leistungen: Das war der Beginn des Kapitalismus. Dieser Prozess war eine natürliche Entwicklung, basierend auf dem Gerechtigkeitsprinzip. Wir beobachten also, dass ein Großteil der sozialen Natur der Menschheit dem individuellen Selbstinteresse entstammt, Anstrengungen zu reduzieren.
Selbstinteresse ist aber nicht gleichbedeutend mit Kapitalismus. Das Gerechtigkeitsprinzip schließt nämlich nicht aus, dass die Menschen die Früchte ihrer Arbeit verschenken. Diese barmherzige Geste wird im Übrigen viel höher wertgeschätzt als der persönliche Konsum. Selbstinteresse liegt jedoch in der Natur des Menschen.
Da der Mensch ständig versucht, seine Anstrengungen zu reduzieren, wird er auch ständig versuchen zu innovieren, indem er neue Möglichkeiten (Erfindungen) entwickelt, um damit existierende und neue Bedürfnisse befriedigen zu können. Kapitalismus bietet dafür die besten Rahmenbedingungen, da sich dieses Selbstinteresse dort entfalten kann.
Die meisten Ökonomen tendieren dazu, Depressionen im Kapitalismus anhand eines Mangels oder Saturiertheit von Investitionsmöglichkeiten zu erklären. Hensons Stagnationstheorie (siehe hier und hier) meint zum Beispiel, dass wirtschaftliche Auf- und Abschwünge durch einen Innovationsfluss bzw. -stau ausgelöst werden. Dies kann man nur als naiv bezeichnen, sobald man sich vergegenwärtigt, dass Menschen, solange sie frei agieren können, ständig innovativ und kreativ agieren, da die Sehnsucht, Anstrengungen zu reduzieren, nicht etwas ist, das kommt und geht, sondern immer existiert. Ohne Gerechtigkeit oder eine fehlende Verbindung zwischen Anstrengung und Befriedigung wird Kreativität und Innovation jedoch erheblich reduziert.
Das Preissystem ist ebenso eine natürliche Entwicklung, welche im Gerechtigkeitsprinzip seinen Ursprung findet. Bei freiem Handel etabliert Angebot und Nachfrage den Tauschwert von Gütern und Leistungen. Es ist ein dezentralisiertes System, das Ressourcen dorthin leitet, wo sie am dringendsten benötigt werden.
Und die Ungerechtigkeiten des Preissystems? In einer kapitalistischen Wirtschaft existiert ein natürlicher Antagonismus zwischen Produzenten und Konsumenten. Die Produzenten wünschen sich Knappheit. Der Einzelhändler möchte der Einzige sein, der eine limitierte Anzahl an Produkten während einer begrenzten Zeitspanne verkauft. Andererseits wünscht sich der Konsument einen Überfluss an Angeboten, viele verschiedene Geschäfte, die eine große Auswahl verschiedener Produkte und zu jeder Öffnungszeit anbieten. Robinson Crusoe, der für sich selbst sorgen muss, zieht mit Sicherheit den Überfluss der Knappheit vor. Menschen produzieren, um zu konsumieren: Wir arbeiten, um zu leben und leben nicht, um zu arbeiten.
Das Gerechtigkeitsprinzip impliziert auch, dass Andere nicht behindert werden dürfen, während sie sich anstrengen, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Was als Ungerechtigkeit des Preissystems oder des Kapitalismus angeprangert wird, ist aber eigentlich der staatliche Eingriff, der Produzenten auf Kosten von Konsumenten übervorteilt, oder eine Gruppe auf Kosten einer anderen oder was wir als legale Plünderung und Verstoß gegen das Gerechtigkeitsprinzip bezeichnen können.
Wir müssen zum wahren Kapitalismus zurückkehren. Heutzutage betrachten viel zu viele Menschen die legale Plünderung als akzeptabel, anstatt als moralisch verwerflich. Die gerade abgehaltene Präsidentschaftswahl erlaubte den US-Amerikanern, sich zwischen zwei Kandidaten zu entscheiden, die beide versprachen, die Zwangsgewalt des Staates zu benutzen, um eine Gruppe auf Kosten einer anderen zu bereichern. Wenige jedoch zweifeln die Moralität einer solchen Plünderung an, weil das fundamentale Gerechtigkeitsprinzip, welches dem Kapitalismus zu Grunde liegt, vergessen wurde.
Tatsächlich hat die Regierung nur eine einzige Funktion innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft einzunehmen: Den Schutz vor Ungerechtigkeit.
Wettbewerb, ein Charakteristikum des wahren Kapitalismus, fördert Wohlstand und Gleichheit. Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Dorf und müssen jeden Tag zehn Kilometer zum nächsten Fluss marschieren, um dann das dort geschöpfte Wasser wieder heimzutragen. Um Ihre Anstrengung zu reduzieren, errichten Sie einen Brunnen, in dem sich Regenwasser ansammeln kann. Das spart Ihnen Zeit, die Sie nun dazu verwenden können, andere Anstrengungen zu unternehmen, um mehr und andere Bedürfnisse zu stillen. Stellen Sie sich vor, Sie sammeln nun zu viel Wasser und beginnen Ihren Überschuss zu verkaufen. Ihre Monopolstellung erlaubt Ihnen nun, einen Preis zu verlangen, der nur knapp unter den Opportunitätskosten für einen Fußmarsch zum Fluss und wieder zurück liegt. Ihre Monopolgewinne werden aber andere dazu verleiten, ebenfalls Brunnen zu errichten, was dazu führt, dass weniger Ressourcen innerhalb der Gesellschaft für die Beschaffung von Wasser aufgewendet werden müssen. Wettbewerb wird auch ihre Monopolgewinne wegschmelzen, zum Wohle aller anderen. Wettbewerb führt zu einer Erhöhung und gleichmäßigen Verteilung von Bedürfnisbefriedigung für jeden in der Gesellschaft.
Natürlich würde es Ihnen, dem Produzenten, helfen, falls Ihnen die Regierung ein Monopolrecht auf den Brunnenbau einräumt, allerdings auf Kosten aller anderen Gesellschaftsmitglieder. Dies stellt also eine Restriktion für andere dar, sich anzustrengen, um Bedürfnisse stillen zu können.
Einige Libertäre (Utilitarier) glauben, dass Menschen weniger kreativ sein werden, falls sie nicht von geistigen Eigentumsrechten (Patente, Kopierschutz) profitieren können, also vom monetären Wert ihrer Schöpfung. Dies impliziert jedoch eine sekundäre Bedeutung von anderen Faktoren, wie Expression, Lust, Reputation und Autonomie. Leonardo da Vinci benötigte keinen Patentschutz, um kreativ zu sein. Vincent van Gogh erschuf 900 Gemälde, verkaufte aber nur eines.
Diese Libertären behaupten, dass die Gesellschaft durch die Vergabe von Monopolrechten mehr an Wohlfahrt und Nutzen gewinnt. Es ist jedoch nicht klar, dass die daraus resultierenden Vorteile (wie auch immer sie definiert sein mögen) die Kosten überwiegen. Wenn jeder frei ist, Brunnen zu errichten, gibt es einen Anreiz für alle, innovativ zu sein, um die Anstrengung der Wasserbeschaffung zu reduzieren. Neue und verschiedene Brunnen werden errichtet. Kreativität und Lehre werden dadurch erhöht, Synthesen gebildet und Synergien erhöht. Kompetitive Industrien sind innovativer als oligopolistische, zum Beispiel Smart Phones vs. Netzanbieter. Darüber hinaus verschafft uns dieser neue Überfluss mehr Zeit und Ressourcen, um woanders kreativ sein zu können.
Eigentumsrechte wurden geschaffen, um Gerechtigkeit zu garantieren. Im Brunnenbeispiel wurde die Gerechtigkeit nicht verletzt: Es kam zu keinerlei Eigentumsverletzungen! Produzenten, zusammen mit ihren Kumpeln in der Regierung, haben aber mit Hilfe von geistigen Eigentumsrechten klammheimlich und überall Mini-Monopole errichtet, während Libertäre und Österreicher vergeblich über die Rolle von Eigentumsrechten, sozialer Wohlfahrt bzw. Nutzen und Knappheit debattierten, um geistige Eigentumsrechte zu befürworten oder abzulehnen (siehe hier und hier).
Anstatt sich auf ein solches Geplänkel einzulassen, hätten sie sich besser auf Gerechtigkeit konzentriert, was sie naturgemäß zu einhelliger Unterstützung für eine bestimmte Sichtweise von geistigem Eigentum geführt hätte: So wie in früheren Gesetzen über geistiges Eigentum bereits vorweggenommen, ist dieses verloren, sobald es veröffentlicht wurde.
[1] Karl Marx (1875) Kritik des Gothaer Programms – I. Abschnitt
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Aus dem Englischen übersetzt von Mathias Nuding. Der Originalbeitrag mit dem Titel What is Capitalism? ist am 16.11.2016 auf der website des Mises-Institute Canada erschienen.
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Dr. Frank Hollenbeck lehrt Volkswirtschaft an der “International University” in Genf, Schweiz.
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