„Realitätsfremde Moralisten und gefährliche Ideologen haben die wichtige Umwelt- und Klimadebatte gekapert“

16. November 2020 – Im Oktober 2019 hat Olivier Kessler, zusammen mit Pierre Bessard, das Buch „Explosive Geldpolitik: Wie Zentralbanken wiederkehrende Krisen verursachen“ herausgegeben. Im Oktober 2020 veröffentlichte Kessler, gemeinsam mit Claudia Wirz, das Werk „Mutter Natur und Vater Staat: Freiheitliche Wege aus der Beziehungskrise“. Darin vertreten die Autoren die Position, dass ökologische Nachhaltigkeit ohne Marktwirtschaft, Wettbewerb und eine dezentrale Governance ein Wunschdenken bleibt – und sie zeigen erfolgsversprechende Rezepte für einen funktionierenden Umweltschutz auf. Mit Olivier Kessler sprach Thorsten Polleit.

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Wer sich heutzutage offen und hörbar für freie Märkte, für den Kapitalismus ausspricht, dem schlägt meist empörte Ablehnung entgegen. Gerade auch wenn es um Umwelt- und Ressourcenschutz geht. Denn die breite Öffentlichkeit, aber gerade auch viele Wissenschaftler, sehen in den freien Märkten das eigentliche Problem und im Staat die heilbringende Lösung. Wie erklären Sie sich diese in der Regel höchst emotionalisierte Feindlichkeit gegenüber freien Märkten?

Olivier Kessler

Ein gewichtiger Grund dafür ist die emotionalisierende Dauerkampagne der Marktwirtschaftsgegner. Bei jeder Gelegenheit wird dem Kapitalismus die Schuld an allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Problemen unterstellt. In sozialen Fragen klingt das in etwa so: Während der Staat die unbefangene und allgemeinwohlbringende Instanz sei, der Werte wie Solidarität, Zusammenhalt und soziale Wärme erst zum Leuchten bringe, treibe der Kapitalismus auf der anderen Seite die Menschen zu grenzenloser Gier, rücksichtslosem Egoismus und skrupellosem Betrug.

Diese Logik überträgt sich dann auch auf andere Bereiche wie den Umweltschutz: Weil der Kapitalismus die Menschen gieriger mache, werden auch mehr Ressourcen ausgebeutet, „unnötige Bedürfnisse“ gestillt und umweltschädliches Wirtschaftswachstum erzeugt. Daher müsse der Staat hier eingreifen und der Unvernunft der Menschen einen Riegel vorschieben. Wenn man von der Richtigkeit dieser Thesen absolut überzeugt ist und glaubt, nur mehr Staatsinterventionen würden die Umwelt noch retten, dürfte ein Liberaler mit der Forderung nach dem Schutz der individuellen Freiheitsrechte natürlich emotional anecken, weil er aus dieser Perspektive wie ein selbstsüchtiger Ignorant erscheint, dem die „grossen Herausforderungen“ der Menschheit egal sind.

OK, das ist gut verständlich. Aber was entgegnen Sie einer Person, die sagt: CO2-Emissionen schädigen das Klima. Es trägt dazu bei, dass die Erde sich erwärmt. Und wenn die Erde sich erwärmt, gibt es große Probleme. Menschen verlieren ihre Lebensgrundlage. Sie beginnen zu wandern, zum Beispiel vom afrikanischen Kontinent (wo die Lebensbedingungen schlecht sind) nach Europa (wo die Bedingungen gut sind). Es kommt zu Konflikten. Wie kann da der freie Markt eine „Lösung“ sein?  

Gut möglich, dass sich die Erde erwärmen wird. Es muss jedoch auch gesagt werden, dass Kälte für die Menschen ein deutlich grösseres Problem darstellt als Hitze. Global gesehen sind 7,7 Prozent der Mortalität ungünstigen Temperaturen zuzuschreiben, davon 7,3 Prozent der Kälte und nur 0,4 Prozent der Hitze. An Durchfall sterben jährlich fast 300 Mal so viele Menschen wie an klimabedingten Katastrophen, wie Thilo Spahl in unserem neuen Buch vorrechnet. Diese Probleme sollten wir prioritär mit marktwirtschaftlichen Reformen angehen, weil diese gezeigt haben, dass sie die Lebensstandards breiter Schichten anheben und damit eine gesundere Ernährung, bessere Hygiene und ein robusteres Gesundheitswesen ermöglichen.

Natürlich könnten Klimaveränderungen in der langen Frist ebenfalls neue Herausforderungen schaffen, doch diese treten nicht urplötzlich von heute auf morgen auf. Die Veränderungen kommen schleichend über viele Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. Wir sollten diese Zeit nutzen, um unsere Lebensstandards weiter zu verbessern, damit auch die heute noch ärmeren Länder künftig mit solchen Problemen fertigwerden können. Mit mehr Wohlstand könnten sie z.B. Dämme gegen Überschwemmungen bauen, stabile Häuser gegen Unwetter errichten und Klimaanlagen für Hitzetage anschaffen. Freie Märkte helfen dabei, um für alle Fälle gewappnet zu sein. Der paternalistische und ökosozialistische Staatsinterventionismus hingegen unterdrückt Freiheit, Wohlstand und Innovation – und reduziert damit auch unsere Handlungsoptionen in der Zukunft.

Lassen Sie mich dennoch eine Problemstellung aufwerfen: Nehmen wir an, ein großes Land pustet 30% des weltweiten CO2 in die Luft. Die Menschen in den anderen Ländern sehen das als Problem an, weil sie der Auffassung sind, menschengemachtes CO2 erwärme die Atmosphäre. Sie verringern ihren CO2-Ausstoss. Das große Land macht jedoch keine Anstalten zur Schadstoffreduktion. Die Folgen der daraus resultierenden Erderwärmung haben aber die Menschen in allen Ländern zu tragen. Wie könnte da eine Konfliktlösungsmöglichkeit über freie Märkte aussehen?

Ich nehme an, Sie sprechen ein Land wie China an, dessen Anteil am weltweiten CO2-Ausstoss ziemlich genau 30 Prozent ausmacht. Wie können hier nun freie Märkte helfen? Die Marktwirtschaft führt erfahrungsgemäss zu höheren Lebensstandards und höhere Lebensstandards zu einem erhöhten Umweltbewusstsein. In den westlichen Ländern war das nicht anders. Seit die Lebensstandards in Europa und den USA signifikant angestiegen sind, konnten die Ausstosse der schlimmsten Luftverschmutzer massiv reduziert werden: In den USA sank zum Beispiel zwischen 1980 und 2019 der Ausstoss von Schwebstaub um 63 Prozent, von Stickoxid um 68 Prozent, von Kohlenstoffmonoxid um 75 Prozent, von Schwefeldioxid um 92 Prozent und von Blei um 99 Prozent. Sobald freie Märkte eine breite Schicht der Chinesen wohlhabender gemacht haben, dürften sich derartige Bemühungen auch dort bemerkbar machen.

Es wäre aber illusorisch anzunehmen, dass man den Ärmsten der Armen, von denen es immer noch sehr viele in China gibt, verordnen könnte, dass sie nun die Reduktion des CO2-Ausstosses zu ihrer obersten Priorität machen, wenn ihre grundlegenden Bedürfnisse wie Nahrung, Gesundheit und Bildung noch nicht gestillt sind. Eine derartige Politik wäre schlichtweg realitätsfremd, menschenverachtend und wahrscheinlich auch nicht durchsetzbar. Eine solche Entwicklung braucht Zeit. Es besteht jedoch Hoffnung, dass die Chinesen nicht ganz so lange brauchen werden wie die Europäer, bis sie einen vergleichbaren Standard erreicht haben, denn viele umweltschonende Technologien wurden bereits erfunden und können übernommen werden.

Sie sprachen es bereits an: Die liberale Forderung nach Schutz der individuellen Freiheitsrechte wird immer leiser, wird im öffentlichen Diskurs zurückgedrängt, wird geradezu überwalzt von staatshörigen, von kollektivistischen-sozialistischen Planvorschlägen. Die „Neigung zur Unfreiheit“, wie ich das an dieser Stelle benennen darf, wird ungehindert immer größer, gerade und vor allem auch in Zeiten der Coronavirus-Hysterie. Wie lässt sich verlorenes Terrain für die liberale Gesellschaft und Wirtschaft wiedererlangen?

Es gibt hier nicht die eine richtige Strategie, sondern diverse Möglichkeiten, die sich gegenseitig nicht ausschliessen. Eine wichtige Priorität geniessen sollte die Aufklärungs- und Bildungsarbeit, denn wer die elementaren Zusammenhänge nicht versteht, wird auch die Vorzüge der liberalen Gesellschaft und der Marktwirtschaft nicht zu schätzen wissen, geschweige denn begreifen. Leider versagen in diesem Bereich die Schulen, Universitäten und Medien zunehmend, weil sie unter den problematischen Folgen der Verstaatlichung leiden. Von dieser Seite ist daher kaum Schützenhilfe zu erwarten. Zum Glück ist aber in den vergangenen Jahrzehnten ein immer breiteres internationales Netzwerk unabhängiger liberaler Think Tanks entstanden, die mit ihrer Forschungs- und Bildungsarbeit eine wichtige Funktion wahrnehmen. Diese Strategie der intellektuellen Aufklärung ist primär eine der Vernunft, der Ratio.

Wichtig sind aber auch Initiativen, die auf das Herz und die Emotionen der Menschen abzielen. Dies mag mit kulturellen Angeboten wie Filmen oder mit einer vereinfachten, pointierten und verständlichen Kommunikation gelingen, wobei man sich hier einiges bei den populistischen Bewegungen abschauen kann. Diese Strategie hat primär zum Ziel, an den bereits in den Menschen verankerten Freiheitsinstinkten zu kitzeln, ohne dass die Angesprochenen zunächst Mises, Hayek und Röpke lesen müssen, um die Argumentation zu verstehen. Wenn es Liberale z.B. schaffen, zu zeigen, dass kollektivistische Strömungen auf «Zwang, Gewalt und Unterdrückung» basieren, dass die grassierende Überregulierung die Bürger wie «unmündige Kinder» behandelt und die Überbesteuerung eine «ungerechte Ausbeutung» der Produktiven darstellt, könnte es ihnen gelingen, den einen oder anderen umzustimmen oder hinter dem Ofen hervorzuholen. Diese Menschen können dann im Idealfall dazu motiviert werden, zu engagierten Fahnenträgern des Liberalismus – zu freiheitlichen Greta Thunbergs – zu werden.

Das ist in der Tat ein konstruktiver Lichtblick, den Sie formulieren. In beispielsweise Deutschland ist man noch nicht sehr weit gekommen, den Menschen verständlich zu machen, dass die freien Märkte die Lösung für Umwelt- und Ressourcenschutz sein könnten. Die Klimapolitik erscheint hier vielmehr wie eine Neuauflage der marxistischen Verelendungstheorie an den Mann und an die Frau gebracht zu werden. Wie ist da das Stimmungsbild in der Schweiz?   

Leider nicht viel besser. Es gibt kaum jemanden, der öffentlich wahrnehmbar die etatistischen Forderungen der Umweltbewegung mit dem Hinweis zurückweist, dass ein Systemwechsel die prognostizierten Öko-Katastrophen überhaupt erst herbeiführen würde. Nicht, weil es solche Persönlichkeiten nicht gäbe, sondern weil alle, die sich gegen eine Abkehr von bewährten freiheitlichen Prinzipien und eine zusätzliche Machtballung beim Staat im Namen des Klimaschutzes aussprechen, durch gutorganisierte und forsch auftretende Minderheiten verunglimpft und medial geschmäht werden und letztlich aufgrund des öffentlichen Meinungsdrucks sogar um ihre berufliche Existenz fürchten müssen.

Es werden nicht jene gefeiert, die immer grünere Technologien im marktwirtschaftlichen Wettbewerb entwickeln und damit den grössten Beitrag zum Umweltschutz leisten. Es gibt keine Lobgesänge auf jene, die für die notwendigen institutionellen Rahmenbedingungen wie die wirtschaftliche Frei­heit und gesicherte Eigentumsrechte einstehen, die nachweislich zu einer Verbesserung der Umweltsituation beitragen. Es gibt auch keine Demonstrationen gegen eine interventionistische und öko-sozialistische Politik, die mit ihrem Staatsausbau, ihren Steuererhöhungen und ihren noch intensiveren Regulierungen längerfristig eine Verarmung der Gesellschaft und damit Umweltverschmutzungen im grossen Stil herbeiführt.

In anderen Worten: Realitätsfremde Moralisten und gefährliche Ideologen haben die wichtige Umwelt- und Klimadebatte gekapert. Wir Liberalen müssen sie uns zurückerobern. Wir hoffen, dass wir mit dem neuen Buch «Mutter Natur und Vater Staat: Freiheitliche Wege aus der Beziehungskrise» eine breite öffentliche Debatte anstossen und damit unseren Teil dazu beitragen können, um den Leuten aufzuzeigen, dass Marktwirtschaft und Umweltschutz natürliche Verbündete und keine Widersacher sind.

Herr Kessler, ich danke für das Gespräch – und wünsche Ihrem wichtigen und höchst empfehlenswerten Buch die größtmögliche Leserschaft!

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Das Video zum Buch:

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Olivier Kessler ist Direktor des Liberalen Instituts in Zürich und Mitherausgeber des Buchs «Explosive Geldpolitik. Wie Zentralbanken wiederkehrende Krisen verursachen».

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

Foto: Buchcover

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