Die Verzerrungen in der amtlichen Inflationsstatistik: Substitutionseffekte und Qualitätsanpassungen

18. Mai 2020 – von Karl-Friedrich Israel

Karl Friedrich Israel

Die moderne Makroökonomik hat die Preisstabilität zum wichtigsten Ziel der Geldpolitik erklärt. Man geht davon aus, dass Zentralbanken durch eine geschickte Steuerung der Geldmenge für Preisstabilität sorgen können und damit die Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum und Prosperität schaffen.

Um einen Sicherheitspuffer vor der gefürchteten Preisdeflation zu gewährleisten, versuchen Zentralbanken auf der gesamten Welt eine positive, aber moderate Preisinflationsrate zu erzeugen. Preisstabilität bedeutet also stabile Preisinflation. Die Preise für Güter und Dienstleistungen sollen im Durchschnitt langsam mit einer möglichst konstanten Rate steigen. In der Eurozone verfolgt man daher das Ziel einer Preisinflationsrate von nahe, aber unter 2%.

Dabei ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Messung eines allgemeinen Preisniveaus und dessen Veränderungsrate mit großen Problemen einhergeht. Das formale Inflationsziel der Zentralbanken muss in der Praxis operationalisiert werden. Man muss also festlegen, welche Preise genau ins Auge gefasst werden und wie man diese in einem gewichteten Durchschnitt zusammenfasst.

Der harmonisierte Verbraucherpreisindex

Die Mitgliedsländer der Eurozone haben sich auf ein standardisiertes Verfahren bei der Inflationsmessung geeinigt. Der harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) ist die operationalisierte Zielvariable der Geldpolitik. Die Berechnung des HVPI ist relativ komplex,[1] denn man versucht, durch aufwändige Verfahren und Schätzungen die möglichen Verzerrungen in der Inflationsmessung zu bereinigen. Ob dies auch gelingt, ist allerdings äußerst fraglich. Im Folgenden möchte ich zwei wichtige Verzerrungsquellen genauer ins Auge fassen.

Substitutionseffekte         

Der HVPI besteht aus 12 Teilindizes,[2] die verschiedene Güterklassen zusammenfassen. Jeder der 12 Teilindizes besteht aus verschiedenen Unterkategorien, die wiederum unterteilt werden, bis man auf der untersten Ebene zu den Einzelpreisen von bestimmten Gütern und Dienstleistungen vorgedrungen ist. Diese Einzelpreise müssen für die Berechnung des Index adäquat gewichtet werden. Der Grundsatz lautet: Güter und Dienstleistungen, für die ein großer Anteil des Einkommens ausgegeben wird, müssen höher gewichtet werden als jene Güter und Dienstleistungen, die nur sehr sporadisch und in kleinen Mengen gekauft werden. Formal werden die Gewichte also aus den realen Umsatzanteilen ermittelt. So liegt in Deutschland das Gewicht des Unterindex „Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke“ (CP01) gegenwärtig bei 11,3%, was bedeutet, dass der durchschnittliche deutsche Haushalt 11,3% seiner Konsumausgaben für Güter dieser Kategorie tätigt. Das Gewicht für „Alkoholische Getränke, Tabak und Narkotikum“ (CP02) liegt im Vergleich bei 4,2%.

Da sich die Konsumneigungen der Bürger laufend verändern, kann es durch das angewendete Gewichtungsschema zu Verzerrungen in der Inflationsmessung kommen. So hatte etwa die Boskin Kommission in den 1990er Jahren für Amerika eine systematische Überschätzung der Preisinflationsraten von jährlich 0,4 Prozentpunkten festgestellt.[3] Die Ursache sei das systematische Substitutionsverhalten der Haushalte.

Die Argumentation ist folgende. Gehen wir von einem Basisjahr aus mit einem gegebenen Gewichtungsschema für alle Einzelgüter und -dienstleistungen, die im Index enthalten sind. Dieses Gewichtungsschema spiegelt das Konsumverhalten der Haushalte im Basisjahr wider. Dieses Verhalten verändert sich über die Zeit u.a. deshalb, weil Preise für manche Güter schneller steigen als für andere. Über die Zeit hinweg werden die Haushalte dazu tendieren, weniger von jenen Gütern zu kaufen, deren Preise schneller steigen. Und sie werden stattdessen mehr von anderen Gütern kaufen, die relativ günstig geblieben sind. Haushalte substituieren Güter mit einer relativ hohen Teuerungsrate durch Güter mit einer relativ geringen Teuerungsrate. Verändert man das Gewichtungsschema nicht, so entsteht eine positive Verzerrung der gemessenen Preisinflation. Man würde die Preisinflation überschätzen.

bild2

Lassen Sie mich das an einem einfachen Beispiel veranschaulichen. Stellen Sie sich einen Preisindex für Softdrinks vor. Die Kaufpreise von Cola und Bionade fließen zu jeweils 50% in den Index ein, weil Haushalte im Durchschnitt anteilig gleichviel für beide Güter ausgeben. Nehmen Sie an, dass über einen bestimmten Zeitraum der Preis für Bionade jährlich um 5% steigt. Der Preis für Cola steigt jährlich um lediglich 1%. Verändert man die Gewichtung nicht so ergibt sich eine Gesamtinflationsrate von 3%. Tatsächlich hat sich aber das Kaufverhalten aufgrund der unterschiedlichen Teuerungsraten verschoben. Die Haushalte kaufen nun im Durchschnitt mehr Cola und weniger Bionade. Nehmen wir an, dass Haushalte jetzt anteilig viermal so viel für Cola ausgeben wie für Bionade. Die Gewichtung müsste also angepasst werden, sodass Cola zu 80% und Bionade zu lediglich 20% in den Index eingehen. Die angepasste jährliche Inflationsrate, unter Verwendung des neuen Gewichtungsschemas, wäre also nicht 3%, sondern nur 1,8%.[4]

Diese Argumentation führte dazu, dass das Gewichtungsschema des HVPI nun fortlaufend angepasst wird mit der Folge, dass die ausgewiesene Preisinflation niedriger ausfällt als es sonst der Fall gewesen wäre. Sehen wir einmal von etwaigen Ungenauigkeiten ab und nehmen an, dass die Anpassungen des Gewichtungsschemas das wechselnde Konsumverhalten perfekt abbilden. Wird dann nicht ein ganz entscheidender Punkt übersehen?

Die Antwort ist ja. Wenn Konsumenten nicht aufgrund von wechselnden Präferenzen auf andere Produkte umsteigen, sondern lediglich deshalb, weil die Preise jener Produkte, die sie eigentlich bevorzugen würden, disproportional gestiegen sind, dann sind die Konsumenten schlechter dran als vorher. Der Ökonom würde hier von einem Wohlfahrtsverlust sprechen. Dieser Wohlfahrtsverlust entspricht einer realen Verteuerung der Lebenshaltung, die in den offiziellen Zahlen nicht widergespiegelt wird. Wenn das Gewichtungsschema im Index, entsprechend der sich verändernden Kaufentscheidungen der Konsumenten, akkurat angepasst wird, dann führt dies zu einer Verzerrung der gemessenen Preisinflation nach unten. Man unterschätzt die Teuerungsrate.

Qualitätsveränderungen

Die zweite wichtige Ursache für Verzerrungen in der amtlichen Inflationsstatistik sind Änderungen in der Qualität von Gütern. Auch hier hatte die Boskin Kommission in Amerika in den 1990er Jahren eine positive Verzerrung von 0.4 Prozentpunkten pro Jahr festgestellt, weil Qualitätsverbesserungen bei den Produkten nicht adäquat eingepreist werden.[5] Die gemessene Inflationsrate sei also abermals zu hoch.

Die theoretische Argumentation ist schlüssig. Nehmen Sie an, dass die Kaufpreise sich über einen gegebenen Zeitraum nicht verändern, aber die Qualität der Güter stetig zunimmt. Dann bekommen die Konsumenten für das gleiche Geld stetig bessere Qualität, und damit verbessern sich die Lebensumstände. Wenn man nun sagt, dass die Teuerungsrate bei 0% liegt, dann übertreibt man. Tatsächlich hat sich die Lebenshaltung vergünstigt: Man bekommt für das gleiche Geld mehr, oder für weniger Geld die gleiche Qualität. Die ausgewiesene Inflationsrate sollte also negativ sein.

In der Folgezeit hat man nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa insbesondere sogenannte hedonische Verfahren der Qualitätsbereinigung eingeführt. Bei vielen Produkten fließen also nicht einfach die beobachteten Kaufpreise in den Index ein, sondern angepasste Preise, die die Qualitätsveränderungen widerspiegeln sollen.[6] Im Folgenden möchte ich lediglich auf zwei grundsätzliche Probleme bei der Qualitätsbereinigung eingehen.

Erstens haben Produzenten einen Anreiz, die qualitativen Verbesserungen bei den hergestellten Produkten in den Vordergrund zu stellen. Wenn ein Auto oder ein Computer leistungsstärker werden, dann ist das an handfesten Kerngrößen feststellbar. Das Auto hat mehr PS. Der Computer hat einen schnelleren Prozessor. Die Hersteller werden diese Kerngrößen offen kommunizieren und damit für ihre Produkte werben. Qualitätsverbesserungen werden also für die Käufer transparent und nachvollziehbar gemacht. Sie können deshalb auch relativ leicht in der amtlichen Statistik berücksichtigt werden.[7]

Andererseits haben Produzenten einen Anreiz, mögliche Qualitätsverschlechterungen vor den Käufern zu verschleiern. Wenn das Gehäuse und die Verkabelung eines Computers aus minderwertigem Material hergestellt werden, dann steht das üblicherweise nicht in der Produktbeschreibung. Will man Qualitätsverschlechterungen feststellen, muss man oft ganz genau hinschauen. Vielfach sind sie nicht ohne weiteres feststellbar und können nicht quantifiziert werden.

Es kommt deshalb zu einer systematischen Verzerrung. Qualitätsverbesserungen sind sichtbar und werden berücksichtigt. Die Preise der betreffenden Produkte werden in der amtlichen Statistik heruntergerechnet. Qualitätsverschlechterungen bleiben unentdeckt und die Preise der betroffenen Produkte werden nicht entsprechend hochgerechnet. Es ist also wahrscheinlich, dass auch hier durch die vorgenommenen Anpassungen eine entgegengesetzte Verzerrung nach unten entsteht. Die amtliche Statistik weist dann eine zu niedrige Preisinflationsrate aus.

Der zweite Punkt, den ich anfügen möchte, hat bislang überhaupt noch keine Berücksichtigung in der einschlägigen Literatur gefunden. Nehmen wir einmal an, dass alle Qualitätsveränderungen akkurat von der amtlichen Statistik eingepreist werden. Selbst wenn das der Fall wäre, würde man eine Verzerrung der ausgewiesenen Preisinflation nach unten erzeugen. Der Grund dafür ist, dass eine gegebene Qualitätsverbesserung bei einem bestimmten Produkt bereits, ohne dass überhaupt irgendeine Anpassung vorgenommen wird, einen deflationären Preisdruck auf andere Güter erzeugt. Dieser Druck entsteht insbesondere bei den bisher gängigen und nun minderwertigen Vorgängern des neuen Produktes.

Als Apple z.B. mit dem iPhone das allererste Smartphone auf den Markt gebracht hat, ist ein negativer Preisdruck auf herkömmliche Mobiltelefone entstanden, weil Apple mit dem neuen Produkt Marktanteile von den konkurrierenden Mobiltelefonherstellern abgegraben hat. Die Konkurrenz sah sich daraufhin gezwungen niedrigere Preise für ihre Produkte zu verlangen als es sonst der Fall gewesen wäre. Nur durch günstigere Preise konnte man wenigstens einige Käufer davon überzeugen, nicht auf das neue iPhone umzusteigen.

Dieser negative Preisdruck auf Konkurrenzprodukte, der durch Innovation entsteht, verringert die gemessenen Inflationsraten bereits. Das bedeutet, dass sich eine gegebene Qualitätsverbesserung teilweise in fallenden Preisen für andere Güter widerspiegelt. Bereinigt man den Preis des qualitätsverbesserten Gutes zudem (angenommen es sei einwandfrei möglich), so schießt man über das Ziel hinaus. Man unterschätzt die Preisinflation.

Schlussfolgerung

Es steht außer Frage, dass sowohl die Substitutionseffekte als auch die Qualitätsveränderungen bei den Gütern und Dienstleistungen die amtliche Inflationsstatistik vor praktisch unlösbare Probleme stellen. Qualitätsveränderungen können nicht objektiv quantifiziert werden. Allein dieser Umstand eröffnet der amtlichen Preisstatistik einen enormen diskretionären Spielraum, der sich nicht zuletzt auch auf die Geldpolitik überträgt. Die Geldmenge M1 in der Eurozone wurde seit ihrer Gründung mehr als verfünffacht.[8] Dies konnte auch deshalb politisch gerechtfertigt werden, weil die ausgewiesene Preisinflation relativ niedrig war. Die Preise in der Eurozone sind seit 1999 offiziell nur um etwas mehr als 40% gestiegen. Wird die Preisinflation systematisch unterschätzt? Der Verdacht liegt nahe.

Selbst wenn die praktischen Probleme der Inflationsmessung, die durch Substitutionseffekte und Qualitätsveränderungen auftreten, hinreichend gut gelöst werden könnten, würde die Anwendung der heute gängigen Verfahren in der amtlichen Statistik zu einer systematischen Unterschätzung der Preisinflation führen. Die einst identifizierten positiven Verzerrungen, die zweifelsohne relevant sind, werden mit den neuen Methoden in negative Verzerrungen umgekehrt. In beiden Punkten – Substitutionseffekten und Qualitätsveränderungen – schießt man über das Ziel hinaus, selbst wenn man die gängigen Methoden akkurat und einwandfrei anwenden könnte.

Hinzu kommen weitere Lücken in der offiziellen Inflationsmessung. Vermögenspreise werden nicht berücksichtigt. Aber gerade bei langfristigen Vermögenswerten wie Immobilien und Aktien findet in den letzten Jahrzehnten eine disproportionale Preisinflation statt. Es ist nicht verwunderlich, dass der Median der subjektiv empfundenen Preisinflationsraten in der Eurozone pro Jahr 5 Prozentpunkte höher ist, als die offiziell ausgewiesene Inflationsrate.[9]

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[1] Sie ist daher auch intransparent für den außenstehenden Beobachter. Die statistischen Ämter stellen zwar viele der benutzten Daten zur Verfügung, aber bei weitem nicht alle. Insbesondere geben Sie keine Auskunft über die verwendeten Rohdaten, d.h. über die tatsächlich beobachteten und dokumentierten Preise bevor sie nach verschiedenen Anpassungen in die Statistik einfließen.

[2] Die 12 Teilindizes sind CP01: Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke; CP02: Alkoholische Getränke, Tabak und Narkotikum; CP03: Bekleidung und Schuhe; CP04: Wohnung, Wasser, Elektrizität, Gas und andere Brennstoffe; CP05: Hausrat und laufende Instandhaltung des Hauses; CP06: Gesundheit; CP07: Verkehr; CP08: Nachrichtenübermittlung; CP09: Freizeit und Kultur; CP10: Bildungswesen; CP11: Restaurants und Hotels; und CP12: Verschiedene Waren und Dienstleistungen.

[3] Für Deutschland hatte man kurz darauf eine etwas schwächere Verzerrung festgestellt (0,1 Prozentpunkte). Siehe hierzu Hoffmann (1998): „Probleme der Inflationsmessung in Deutschland“, Discussion Paper, Deutsche Bundesbank.

[4] In diesem Beispiel ergibt sich die angepasste Inflationsrate aus dem neu gewichteten Durchschnitt der einzelnen Teuerungsraten: 0,8 * 1 + 0,2 * 5 = 1,8; im Gegensatz zur ursprünglichen Gewichtung: 0,5 * 1 + 0,5 * 5 = 3.

[5] Für Deutschland lag die geschätzte Verzerrung durch Qualitätsverbesserungen bei 0,45 Prozentpunkten.

[6] Von den zuständigen Ämtern wird keine Auskunft über das Ausmaß der Qualitätsanpassungen gegeben. Rohdaten vor der Qualitätsanpassung werden nicht öffentlich zur Verfügung gestellt.

[7] Das Wörtchen „relativ“ ist wichtig. In letzter Konsequenz ist es unmöglich Qualitätsverbesserungen, zu quantifizieren und einzupreisen, denn sie sind subjektiv.

[8] Ab Januar 1999, als der Euro als Buchgeld eingeführt wurde, stieg M1 von 1.807.005 Millionen € auf 9.335.181 Millionen € im März 2020. M1 stieg in der Zeit also um einen Faktor von 5,17.

[9] Siehe Why Has There Been So Little Consumer Price Inflation? 

Dr. Karl-Friedrich Israel hat Volkswirtschaftslehre, Angewandte Mathematik und Statistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, der ENSAE ParisTech und der Universität Oxford studiert. Er wurde 2017 an der Universität Angers in Frankreich bei Professor Dr. Jörg Guido Hülsmann promoviert. An der Fakultät für Recht und Volkswirtschaftslehre in Angers unterrichtete er von 2016 bis 2018 als Dozent. Seit Herbst 2018 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

Foto: Adobe Stock

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