Sozialismus: Der Mythos vom Paradies

20. April 2020 – von Rainer Fassnacht

Rainer Fassnacht

In der Nachfolge von Carl Menger (1840-1921) haben mehrere Generationen der Österreichischen Schule daran gearbeitet, alle ökonomischen Phänomene widerspruchsfrei erklären zu können. Heute verfügen wir über ein schlüssiges Gesamtkonzept, das den Gesetzen der Logik folgt und nicht im Widerspruch zu sprunghaftem und subjektivem Handeln der Menschen steht.

Außerdem konnte die Österreichische Schule aufzeigen, dass und warum es keinen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus gibt. Wird zu interventionistischen Maßnahmen gegriffen, führt dies geradewegs in den Sozialismus. Dabei ist es unbedeutend, mit welcher Absicht oder mit welcher Intensität die ersten Eingriffe erfolgen.

Diesem Erkenntnisstand zum Trotz wird immer wieder auf Interventionismus und Sozialismus gebaut. Und wie zu erwarten treten immer wieder aufs Neue jene unerwarteten und unerwünschten Nebenwirkungen ein, die damit verbunden sind. Im Laufe der Zeit wurden von Ludwig von Mises (1881-1973), Friedrich August von Hayek (1899-1992) und weiteren Vertretern der Österreichischen Schule Versuche unternommen, dieses Paradox zu erklären.

Eine Erklärung zieht die Verbindung zum Leben in der Familie und der Übertragung der dort funktionierenden Mechanismen auf größere gesellschaftliche Strukturen. Ein anderer Erklärungsansatz führt die stete Wiederkehr sozialistischer Ideen darauf zurück, dass es einen Zyklus aus Versuch, Scheitern und Neuetikettierung gibt.

Die häufigsten Erklärungsversuche setzen bei der Politik und den Intellektuellen an. Politiker haben einen unmittelbaren Nutzen – konkreten Machtzuwachs –, wenn der Markt zurückgedrängt wird. Vertreter der Medien-, Wissenschafts- und Kulturlandschaft sowie unterschiedlichster Interessengruppen hoffen, die Macht der Politik in ihrem Sinne beeinflussen zu können.

Meines Erachtens sind diese Erklärungsversuche nicht ausreichend. Sicher ist der Einfluss „von oben“ nicht zu leugnen, doch dauerhaft ist dieser ohne Minimalakzeptanz „von unten“ nicht aufrecht zu erhalten. Und es sind eben nicht nur Politiker, die nach mehr Staat rufen, sondern auch einfache Menschen ohne Macht und Einfluss.

Mit diesem Artikel schlage ich eine neue Erklärung vor, eine Erklärung, die tief in die Geschichte der Menschheit eintaucht: Es ist der Mythos vom Paradies, der entscheidenden Einfluss darauf hat, dass immer wieder aufs Neue sozialistische Ideen aufkommen.

Der Mythos vom Paradies ist in diversen Kulturkreisen verbreitet. Alle fünf Weltreligionen (Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus und Judentum) kennen das Paradies. Hinduisten und Buddhisten verstehen unter dem Paradies das Nirwana, einen Zustand seelischen Gleichgewichts, der von allen Gedanken, Gefühlen und Bedürfnissen befreit ist.

Die abrahamitischen Religionen verbinden mit dem Paradies einerseits einen Ort ohne Knappheit, aus dem die Menschheit vertrieben wurden, und andererseits einen Ort der Erfüllung, in welchen rechtschaffende und gläubige Menschen nach dem Tode gelangen können.

Demnach ist das Paradies ein Ort, in welchem die Bedürfnisse erfüllt sind. Im Unterschied zum echten Leben geschieht dies im Paradies „einfach so“ – beispielsweise ohne Arbeit und menschliches Zusammenwirken durch Arbeitsteilung und Tausch.

Dem Mythos folgend wurde der Mensch erst durch die Vertreibung aus dem Paradies gezwungen, seinen Lebensunterhalt im Schweiße seines Angesichts zu bestreiten oder anders ausgedrückt: dafür zu arbeiten. So ist über den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies im ersten Buch Mose (Genesis) (1. Mose 3,17) zu lesen: „Mit Mühsal sollst du dich von ihm [dem Acker] nähren dein Leben lang.“

Interessanterweise stammt das Wort Arbeit etymologisch vom Wort Acker ab, und wir verwenden das Verb „ackern“, um das Leisten schwerer Arbeit zu beschreiben. Wie tief der Mythos vom Paradies verankert ist, zeigt sich auch darin, dass wir das Wort Paradies oder dessen Synonyme relativ häufig in alltäglichen, nicht religiösen Zusammenhängen verwenden.

All dies deutet darauf hin, dass der Mythos vom Paradies tiefe Wurzeln und eine feste Verankerung in unserem Denken hat. Dieser Umstand hilft bei der Verbreitung sozialistischer Ideen, weil die Idee vom Paradies Leistung ohne Arbeit oder die Überwindung der Knappheit „machbar“ erscheinen lässt.

Am Beispiel des bedingungslosen Grundeinkommens wird der Zusammenhang zwischen sozialistischen Ideen und dem Paradies-Mythos besonders deutlich. Zu Ende gedacht bedeutet dessen Einführung, dass die Menschen Geld vom Staat erhalten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, aber nicht arbeiten müssen.

Dabei ist einerseits zu bedenken, dass der Staat kein Geld hat – außer jenem, welches er den Bürgern zuvor über Steuern und Abgaben genommen hat. Wird nicht mehr gearbeitet, fallen diese Steuern und Abgaben weg und damit auch die Möglichkeit, ein bedingungsloses Grundeinkommen zu zahlen.

Andererseits fehlen ohne Arbeit auch die Güter und Dienstleistungen. Doch Geld allein dient weder der Ernährung noch kleidet man sich damit. Und noch mehr Geld löst das Problem ebenfalls nicht. In Zeiten der Hyperinflation werden Scheine zwar verheizt oder als Klopapier verwendet, aber hier kommt nur die Gütereigenschaft als Papier zu tragen.

In der echten Welt ist die Bedürfnisbefriedigung ohne Arbeit unmöglich. Wir sind zwar längst nicht mehr im Paradies, können uns aber trotzdem vorstellen, dass es solche Umstände gegeben hat und glauben daher leichtfertig daran, dass es sie auf Erden geben könnte – geschaffen als Ergebnis menschlicher Planung. Wir trauen dem sozialistischen Planer oder dem interventionistischen Politiker gottgleiche Fähigkeiten zu, ohne uns dessen bewusst zu sein.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die besonders eifrigen Befürworter des Sozialismus, die in der Religion Opium für das Volk sehen, bei der Verbreitung und regelmäßigen Wiedergeburt ihrer Ideen auf die sublime Wirkung des religiösen Mythos vom Paradies vertrauen können.

Aus dem Gesagten ergibt sich ein Ansatzpunkt für die Vermittlung der Erkenntnisse der Österreichischen Schule:

Es macht Sinn, die Verbindung zwischen Paradies und Sozialismus explizit anzusprechen. Die meisten Menschen sind sich im Grunde bewusst, dass wir nicht (mehr) im Paradies leben. Und den meisten Menschen ist auch bewusst, dass im echten Leben menschliche Bedürfnisse und natürliche Knappheit aufeinandertreffen. Unter diesen nicht sehr paradiesischen Umständen ist der Markt die beste Lösung – und das hat die Österreichische Schule bewiesen.

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Rainer Fassnacht ist gelernter Kaufmann, Diplom-Ökonom und Wirtschaftspraktiker. Er lebt in Berlin und ist familiengeschichtlich mit Österreich verbunden, genau wie als Vertreter der von Carl Menger begründeten Österreichischen Schule. Mit seinem Buch „Unglaubliche Welt: Etatismus und individuelle Freiheit im Dialog“ möchte er, auch Social-Media-geprägten Lesern, die Ideen der österreichischen Schule näherbringen. Auch in seinen sonstigen, unter anderem vom Austrian Economics Center in Wien veröffentlichten Texten, setzt er sich für die Bewahrung der individuellen Freiheit ein.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

Foto: Adobe Stock

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