Die meisten Regierungen und politischen Parteien wollen den Kapitalismus zerstören
23. September 2019 – von Ludwig von Mises
Das charakteristische Merkmal des modernen Kapitalismus ist die Massenproduktion von Gütern, die für den Verbrauch durch die Massen bestimmt sind. Das Resultat ist eine Tendenz zu einer ständigen Verbesserung des durchschnittlichen Lebensstandards, das heißt eine fortschreitende Bereicherung der Vielen. Der Kapitalismus entproletarisiert den „gewöhnlichen Menschen“ und erhebt ihn zu dem Rang eines „Bürgerlichen“.
Auf dem Markt einer kapitalistischen Gesellschaft ist der gewöhnliche Mensch der souveräne Verbraucher, dessen Entschluß zu kaufen oder vom Kaufen abzusehen letzlich darüber entscheidet, was und in welcher Quantität und Qualität produziert werden soll. Jene Läden und Anlagen, die ausschließlich oder vorwiegend damit beschäftigt sind, die Nachfrage der reicheren Klassen nach verfeinerten Luxusgütern zu befriedigen, spielen lediglich eine untergeordnete Rolle in der ökonomischen Struktur der Marktwirtschaft. Sie erreichen nie den Umfang der Großbetriebe. Großbetriebe dienen immer – direkt oder indirekt – den Massen.
Eben in diesem Aufsteigen der Menge besteht die radikale soziale Umwälzung, die die industrielle Revolution hervorgerufen hat. Jene Untergeordneten, die in allen vorhergehenden Zeitaltern der Geschichte die Herden der Sklaven und Leibeigenen, der Almosenempfänger und der Bettler bildeten, sind zu dem kaufenden Publikum emporgestiegen, um dessen Gunst die Geschäftsleute werben. Sie sind die Kunden, die „immer im Recht“ sind, die Schutzherren, die die Macht haben, arme Fabrikanten und Kaufleute reich und reiche arm zu machen.
In der Struktur einer Marktwirtschaft, die nicht durch die Praktiken von Regierungen und Politikern sabotiert wird, gibt es keine vornehmen Herren und Junker, die die Bevölkerung in Unterwerfung halten, indem sie Tribute und Abgaben einsammeln, und die fröhlich schmausen, während die Leibeigenen sich mit Brosamen begnügen müssen. In dem „Profitsystem“ können nur diejenigen gedeihen, denen es gelungen ist, die Bedürfnisse der Menschen auf die bestmögliche und billigste Weise zu befriedigen. Reichtum kann nur durch Zufriedenstellung der Verbraucher erworben werden. Die Kapitalisten verlieren ihr Kapital, sobald sie versäumen, es in denjenigen Produktionszweigen zu investieren, in welchen sie die allgemeine Nachfrage am besten befriedigen können. In einem täglich sich wiederholenden Volksentscheid, in welchem jeder Pfennig mit dem Wahlrecht verbunden ist, bestimmen die Verbraucher, wer die Fabrikanlagen, Läden und Landgüter besitzen und verwalten soll. Die Kontrolle der materiellen Produktionsmittel ist eine soziale Funktion, die der Bestätigung oder dem Widerruf des souveränen Verbrauchers unterworfen ist.
Dies ist es, was die moderne Auffassung von Freiheit bedeutet. Jeder erwachsene Mensch ist frei, sein Leben nach seinen eigenen Plänen zu formen. Er wird nicht gezwungen, nach den Wünschen einer planenden Autorität zu leben, die ihren Einheitsplan durch die Polizei, das heißt durch Zwang und Zwangsherrschaft durchsetzt. Was die Freiheit des Individuums beschränkt, ist nicht die Gewalttätigkeit oder die Gefahr der Gewalttätigkeit von Seiten anderer Menschen, sondern die physiologische Struktur seines Körpers und die unausweichbare, naturgegebene Knappheit der Produktionsfaktoren. Es ist offensichtlich, daß die Verfügungsfreiheit des Menschen, sein Schicksal zu formen, niemals die Grenzen, die durch die sogenannten Naturgesetze gezogen sind, überschreiten kann.
Die Feststellung dieser Tatsachen stellt keine Rechtfertigung der individuellen Freiheit vom Standpunkt irgendwelcher absoluten Maßstäbe oder metaphysischen Begriffe dar. Es wird hier kein Urteil gefällt über die geläufigen Dogmen der Verteidiger des Totalitarismus, ganz gleich ob diese „rechts“ oder „links“ stehen. Zu ihrer Behauptung, daß die Massen zu dumm und unwissend sind, um zu verstehen, was ihren wahren Bedürfnissen und Interessen am besten dient, und daß sie unbedingt eines Vormunds bedürfen, das heißt der Regierung, um nicht benachteiligt zu werden, wird hier nicht Stellung genommen. Die Behauptung, daß es Übermenschen für das Amt einer solchen Vormundschaft gibt, wird hier auch nicht weiter untersucht.
Dank dem Kapitalismus stehen dem gewöhnlichen Menschen Annehmlichkeiten zur Verfügung, die in früheren Zeiten unbekannt und deshalb sogar den reichsten Leuten nicht zugänglich waren. Aber natürlich machen diese Autos, Fernsehapparate und Kühlschränke den Menschen nicht glücklich. In dem Augenblick, in dem er sie erwirbt, mag er glücklicher sein als zuvor. Sobald aber einige seiner Wünsche erfüllt sind, hat er plötzlich neue Wünsche. So ist die menschliche Natur.
Es gibt wenige Amerikaner, die sich der Tatsache bewußt sind, daß ihr Land den höchsten Lebensstandard genießt, und daß der Lebensstil des Durchschnittsamerikaners der größten Mehrzahl der in den nicht-kapitalistischen Ländern lebenden Menschen als phantastisch und unerreichbar erscheint. Die meisten Menschen schätzen nicht, was sie besitzen und möglicherweise erwerben können; sie sehnen sich nach den für sie unerreichbaren Dingen. Es wäre nutzlos, diesen unersättlichen Appetit nach mehr und immer mehr Gütern zu bedauern. Diese Gier ist genau der Impuls, der den Menschen auf den Weg der wirtschaftlichen Verbesserung führt. Es ist keine Tugend, mit dem zufrieden zu sein, was man hat oder leicht erwerben kann und apathisch von irgendwelchen Versuchen, seine eigenen materiellen Verhältnisse zu verbessern, abzusehen. Eine solche Einstellung entspricht eher dem Verhalten von Tieren als dem Betragen von vernünftigen Menschen. Es ist eine der charakteristischen Eigenschaften des Menschen, unentwegt bemüht zu sein, seine Wohlfahrt durch zielbewußte Tätigkeit zu fördern.
Die Bemühungen müssen jedoch dem Endzweck angepaßt sein. Sie müssen geeignet sein, die gewünschten Wirkungen zu erzielen. Der Hauptfehler unserer Zeitgenossen ist nicht, daß sie sich leidenschaftlich nach einem größeren Angebot der verschiedenen Güter sehnen, sondern daß die von ihnen gewählten Mittel für die Erreichung dieses Zieles ungeeignet sind. Sie sind irregeführt durch unechte Ideologien. Sie begünstigen eine Politik, die ihren eigenen, lebenswichtigen und richtig verstandenen Interessen entgegenwirkt. Zu schwerfällig, die unausbleiblichen langfristigen Folgen ihres Verhaltens einzusehen, finden sie Freude an den vorübergehenden kurzfristigen Wirkungen. Sie befürworten Maßnahmen, die am Ende zu einer allgemeinen Verarmung, zu einer Auflösung der sozialen Zusammenarbeit nach den Prinzipien der Arbeitsteilung und zur Rückkehr in die Barbarei führen müssen.
Es gibt nur ein einziges Mittel, die materiellen Bedingungen der Menschheit zu verbessern: Das Wachstum des angesammelten Kapitals muß das Wachstum der Bevölkerung übersteigen. Je höher der Betrag des investierten Kapitals auf den einzelnen Arbeiter gerechnet ist, desto mehr und bessere Güter können produziert und konsumiert werden. Dies ist, was der Kapitalismus, das so oft beschimpfte Profitsystem, bewirkt hat und täglich von neuem bewirkt. Dennoch sind die meisten augenblicklichen Regierungen und politischen Parteien eifrig bemüht, dieses System zu zerstören.
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[Entnommen aus: „Die Wurzeln des Antikapitalismus“ (1958)]
Ludwig von Mises, geb. 1881 in Lemberg, war der wohl bedeutendste Ökonom und Sozialphilosoph des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer hat er die (wissenschafts)theoretische Begründung für das System der freien Märkte, die auf unbedingter Achtung des Privateigentums aufgebaut sind, und gegen jede Form staatlicher Einmischung in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben geliefert. Seine Werke sind Meilensteine der Politischen Ökonomie. Das 1922 erschienene “Die Gemeinwirtschaft” gilt als erster wissenschaftlicher und umfassender Beweis für die “Unmöglichkeit des Sozialismus”. Sein Werk “Human Action” (1949) hat bei amerikanischen Libertarians den Rang einer akademischen “Bibel”. Mises war Hochschullehrer an der Wiener Universität und Direktor der Österreichischen Handelskammer. Ab 1934 lehrte er am Institut des Hautes Etudes in Genf. 1940 Übersiedlung nach New York, wo er nach weiteren Jahrzehnten der Lehr- und Gelehrtentätigkeit 1973 im Alter von 92 Jahren starb.
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