Im kapitalistischen Unternehmen gibt es kein sicheres Einkommen und keine Sicherheit des Vermögens
5. August 2019 – von Ludwig von Mises
[Entnommen aus „Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus“ (1922), S. 346-351]
Die Behauptung, daß auf der einen Seite der Reichtum immer mehr und mehr zunehme, während auf der anderen Seite die Armut immer größer werde, wurde zuerst ohne jede bewußte Verbindung mit einer nationalökonomischen Theorie aufgestellt. Sie gibt den Eindruck wieder, den Beobachter aus der Betrachtung der gesellschaftlichen Verhältnisse gewonnen zu haben glauben. Doch das Urteil des Beobachters ist nicht unbeeinflußt von der Vorstellung, daß die Summe des Reichtums in einer Gesellschaft eine gegebene Größe sei, so daß, wenn einige mehr besitzen, andere weniger besitzen müssen. Da man nun in jeder Gesellschaft immer neuen Reichtum und neue Armut auffällig entstehen sieht, während das langsame Niedersinken alten Reichtums und das langsame Aufsteigen minderbemittelter Schichten zu Wohlstand dem Auge des weniger aufmerksamen Beobachters leicht entgehen, liegt es nahe, voreilig den Schluß zu ziehen, den die sozialistische Theorie unter dem Schlagwort the rich richer, the poor poorer zusammenfaßt.
Es bedarf keiner langen Auseinandersetzung, um zu zeigen, daß die Stützen dieser Behauptung durchaus nicht tragfähig sind. Es ist eine ganz unbegründete Annahme, daß in der arbeitsteiligen Gesellschaft der Reichtum der einen die Armut der anderen bedinge. Das gilt unter gewissen Voraussetzungen von den Verhältnissen militaristischer Gesellschaften, in denen keine Arbeitsteilung besteht; es gilt aber nicht von den Verhältnissen einer kapitalistischen Gesellschaft. Ebensowenig kann man das Urteil, das auf Grund von flüchtigen Beobachtungen jenes engen Ausschnittes der Gesellschaft gefaßt wurde, den der Einzelne durch persönliche Beziehungen kennenlernt, als genügenden Beweis für die Konzentrationstheorie ansehen.
Der Fremde, der, mit guten Empfehlungen ausgestattet, England besucht, findet Gelegenheit, das Leben vornehmer und reicher englischer Häuser kennenzulernen. Will er mehr sehen oder soll er mehr sehen, weil er die Reise nicht bloß als Vergnügungsfahrt angesehen haben will, dann läßt man ihn einen flüchtigen Blick in die Werkstätten großer Unternehmungen werfen. Das bietet für den Laien nichts besonders Anziehendes; der Lärm, das Getriebe und die Geschäftigkeit eines solchen Werkes überwältigen zunächst den Besucher; hat er aber zwei oder drei Betriebe gesehen, dann erscheinen ihm die Dinge, die er zu sehen bekommt, eintönig. Da ist das Studium der sozialen Verhältnisse, wie es der zu kurzem Besuch in England Weilende betreiben kann, anregender. Ein Gang durch die Elendsviertel von London oder anderer englischer Großstädte bringt mehr Sensationen und wirkt auf das Gemüt des Reisenden, der im übrigen von einer Vergnügung zur anderen eilt, doppelt stark. Das Aufsuchen der Quartiere des Elends und des Verbrechens wurde so zu einem beliebten Programmpunkt der obligaten Englandfahrt des Kontinentalbürgers. Hier sammelte der zukünftige Staatsmann und Volkswirt die Eindrücke von den Wirkungen der Industrie auf die Massen, auf die er dann sein ganzes Leben lang seine sozialen Anschauungen aufbaute. Von hier brachte er die Meinung nach Hause, daß die Industrie auf der einen Seite wenige reich, auf der anderen Seite viele arm mache. Schrieb oder sprach er fortan über industrielle Verhältnisse, dann unterließ er es nie, das Elend, das er in den Slums gefunden, mit peinlichster Einzelausführung und nicht selten auch mit mehr oder weniger bewußter Übertreibung auszumalen. Doch mehr als das, daß es Reiche und Arme gibt, können wir aus diesen Schilderungen nicht entnehmen. Dazu aber brauchen wir nicht erst die Berichte von Leuten, die es mit eigenen Augen gesehen haben. Daß der Kapitalismus noch nicht alles Elend aus der Welt geschafft hatte, wußte man schon früher. Was zu beweisen wäre, ist das, daß die Zahl der Reichen immer mehr und mehr abnimmt, daß der einzelne Reiche aber reicher wird, und daß andererseits die Zahl der Armen und die Armut des einzelnen Armen immer mehr wachsen. Das konnte man aber nicht anders als durch eine ökonomische Entwicklungstheorie beweisen.
Nicht besser als mit diesen gefühlsmäßigen Beweisen steht es mit den Versuchen, durch statistische Erhebungen den Nachweis für die fortschreitende Verelendung der Masse und das Anwachsen des Reichtums einer an Zahl immer mehr abnehmenden Klasse von Reichen zu erbringen. Die Geldausdrücke, die für eine derartige Ermittlung zur Verfügung stehen, sind unbrauchbar, weil die Kaufkraft des Geldes Veränderungen unterworfen ist. Damit aber ist schon gesagt, daß jede Grundlage für die rechnerische Vergleichung der Einkommensgestaltung im Ablauf der Jahre fehlt. Denn sobald es nicht möglich ist, die verschiedenen Sachgüter und Dienstleistungen, aus denen sich die Einkommen und Vermögen zusammensetzen, auf einen gemeinsamen Ausdruck zuruckzuführen, kann man aus der Einkommens- und Vermögensstatistik keine Reihen für die geschichtliche Vergleichung bilden.
Die Aufmerksamkeit der Soziologen ist schon oft auf die Tatsache gelenkt worden, daß bürgerlicher Reichtum, das heißt Reichtum, der nicht in Grundbesitz und Bergwerkseigentum festgelegt ist, sich selten längere Zeit in einer Familie erhält. Die bürgerlichen Geschlechter steigen aus der Tiefe plötzlich zu Reichtum auf, mitunter so rasch, daß wenige Jahre genügen, um aus einem armen, mit der Not kämpfenden Menschen einen der reichsten seiner Zeit zu machen. Die Geschichte der modernen Vermögen ist voll von Erzählungen von Betteljungen, die es zu Besitzern vieler Millionen gebracht haben. Von dem Vermögensverfall der Wohlhabenden wird wenig geredet. Er vollzieht sich meist nicht so rasch, daß er auch dem Auge des oberflächlichen Beobachters sichtbar werden konnte. Wer aber genauer zusieht, wird ihn überall bemerken. Selten nur erhält sich bürgerlicher Reichtum länger als zwei oder drei Generationen in einer Familie, es sei denn, daß er rechtzeitig seinen Charakter gewandelt hat und durch Anlage in Grund und Boden aufgehört hat, bürgerlicher Reichtum zu sein. Dann aber ist er Grundbesitz geworden, dem, wie gezeigt wurde, keine weitere werbende Kraft mehr innewohnt.
Vermögen, die in Kapital angelegt sind, stellen keine ewig fließende Rentenquelle dar, wie sich dies die naive Wirtschaftsphilosophie des gemeinen Mannes denkt. Daß das Kapital Ertrag abwirft, ja daß es überhaupt nur erhalten bleibt, ist nicht eine selbstverständliche Sache, die sich schon aus der Tatsache seiner Existenz erklärt. Die Kapitalgüter, aus denen sich das Kapital konkret zusammensetzt, gehen in der Produktion unter; an ihre Stelle treten andere Güter, in letzter Linie Genußgüter, aus deren Wert der Wert der Kapitalsmasse wieder hergestellt werden muß. Das ist nur möglich, wenn die Produktion erfolgreich verlaufen ist, das heißt, wenn durch sie mehr an Wert erzeugt wurde, als in sie hineingesteckt worden war. Nicht nur der Kapitalgewinn, auch die Reproduktion des Kapitals hat den erfolgreichen Produktionsprozeß zur Voraussetzung. Kapitalsertrag und Kapitalserhaltung sind stets das Ergebnis einer glücklich verlaufenen Spekulation. Schlägt sie fehl, dann bleibt nicht nur der Kapitalertrag aus, auch die Kapitalssubstanz wird mit hergenommen.
Man beachte genau den Unterschied der zwischen den Kapitalgütern und dem Produktionsfaktor ,„Natur“ besteht. In der Land- und Forstwirtschaft bleibt die im Grund und Boden steckende Naturkraft bei einem Mißerfolg der Produktion erhalten. Die Bodenkräfte können nicht verwirtschaftet werden. Sie können wohl wertlos werden durch Änderungen des Bedarfes, aber sie können in der Produktion selbst keine Werteinbuße erleiden. Anders in der verarbeitenden Produktion. Da kann alles verloren gehen, Früchte und Stamm. Das Kapital muß in der Produktion immer wieder neu geschaffen werden. Die einzelnen Kapitalgüter, aus denen es sich zusammensetzt, haben ein zeitlich beschranktes Dasein; dauernden Bestand gewinnt das Kapital nur durch die Art und Weise, in der es der Wille des Eigners in der Produktion einsetzt. Wer Kapitalvermögen besitzen will, muß es täglich immer wieder neu erwerben. Kapitalvermögen ist keine Quelle von Rentenbezug, der auf die Dauer in Trägheit genossen werden kann.
Es wäre verfehlt, diese Ausführungen mit dem Hinweis auf den ständigen Ertrag, den ,,gute“ Kapitalsanlagen abwerfen, zu bekämpfen. Die Kapitalsanlagen müssen eben ,,gut“ sein, und das sind sie stets nur als Ergebnis einer erfolgreichen Spekulation. Rechenmeister haben ermittelt, zu welchem Betrag ein Heller, der zu Christi Zeiten angelegt wurde, mit Zins und Zinseszins bis heute angewachsen wäre. Ihre Schlußfolgerungen klingen so bestechend, daß man sich nur fragen muß, warum denn niemand so klug gewesen war, diesen Weg zum Reichtum seines Hauses einzuschlagen. Doch ganz abgesehen von allen anderen Schwierigkeiten, die die Wahl dieses Weges zum Reichtum unmöglich machen müssen, stünde ihr schon der Umstand entgegen, daß jede Kapitalinvestition mit dem Risiko des völligen oder teilweisen Verlustes der Kapitalsubstanz verbunden ist. Das gilt nicht nur von der Investition des Unternehmers, sondern auch von der des an Unternehmer leihenden Kapitalisten. Denn naturgemäß ist ja dessen Investition ganz und gar von der des Unternehmers abhängig. Sein Risiko ist ein geringeres, weil ihm gegenüber der Unternehmer auch mit seinem übrigen, außerhalb der Unternehmung befindlichen Vermögen haftet; doch es ist qualitativ von dem des Unternehmers nicht verschieden. Auch der Geldgeber kann sein Geld verlieren und verliert es oft.
Es gibt so wenig eine ewige Kapitalsanlage wie es eine sichere gibt. Jede Kapitalsanlage ist ein spekulatives Wagnis, dessen Erfolg im vorhinein nicht mit Bestimmtheit abzusehen ist. Nicht einmal die Vorstellung ,,ewigen und sicheren“ Kapitalsertrages hätte entstehen können, wenn man die Begriffe über Kapitalsanlage stets aus der Sphäre des Kapitals und der Unternehmung hergenommen hätte. Die Ewigkeits- und Sicherheitsvorstellungen kommen von der auf Grundeigentum sichergestellten Rente und von der ihr verwandten Staatsrente her. Es entspricht ganz den tatsächlichen Verhältnissen, wenn das Recht als mündelsichere Anlage nur die anerkennt, die in Grundbesitz besteht oder in Geldrente, die auf Grundbesitz sichergestellt oder vom Staat und anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts geleistet wird. Im kapitalistischen Unternehmen gibt es kein sicheres Einkommen und keine Sicherheit des Vermögens. Man denke daran, wie unsinnig die Vorstellung eines außerhalb der Land- und Forstwirtschaft und des Bergbaues in Unternehmungen angelegten Familienfideikommisses wäre.
Wenn nun aber Kapitalien nicht von selbst anwachsen, wenn zu ihrer bloßen Erhaltung, geschweige denn zu ihrer Fruchtbarmachung und Mehrung beständiges Eingreifen erfolgreicher Spekulation erforderlich ist, dann kann von einer Tendenz der Vermögen, immer mehr und mehr anzuwachsen, nicht die Rede sein. Vermögen können überhaupt nicht wachsen, sie werden gemehrt. Dazu bedarf es aber erfolgreicher Unternehmertätigkeit. Nur solange die Wirkungen einer erfolgreichen glücklichen Anlage anhalten, wird das Kapital reproduziert, tragt es Früchte, mehrt es sich. Je schneller sich die Bedingungen der Wirtschaft ändern, desto kürzer ist die Dauer ihrer Güte. Zu neuen Anlagen, zu Umstellungen der Produktion, zu Neuerungen bedarf es aber immer wieder jener Fähigkeiten und Begabungen, die nur wenigen eigen sind. Vererben sie sich ausnahmsweise von Geschlecht zu Geschlecht, dann gelingt es den Nachkommen, das von ihren Voreltern überkommene Vermögen zu erhalten, vielleicht sogar, trotz der Erbteilung, noch zu mehren. Entsprechen, was wohl die Regel sein wird, die Nachkommen nicht den Anforderungen, die das Leben an einen Unternehmer stellt, dann schwindet der ererbte Wohlstand schnell.
Wenn reich gewordene Unternehmer ihren Reichtum in der Familie verewigen wollen, dann flüchten sie in den Grundbesitz. Die Nachkommen der Fugger und der Welser leben noch heute in beträchtlichem Wohlstand, ja Reichtum; doch sie haben schon längst aufgehört, Kaufleute zu sein, und haben ihr Vermögen in Landbesitz umgewandelt. Sie wurden deutsche Adelsgeschlechter, die sich in keiner Weise von anderen süddeutschen Adelsgeschlechtern unterscheiden. Die gleiche Entwicklung haben in allen Ländern zahlreiche Kaufmannsgeschlechter genommen; reich geworden im Handel und im Gewerbe, haben sie aufgehört, Händler und Unternehmer zu sein, und wurden Grundbesitzer, nicht um das Vermögen zu mehren und immer größeren Reichtum anzuhäufen, sondern um es zu erhalten und auf Kinder und Kindeskinder zu vererben. Die Familien, die es anders gehalten haben, sind bald im Dunkel der Armut verschwunden. Es gibt nur ganz wenige Bankiersfamilien, deren Geschäft seit hundert Jahren oder mehr besteht; sieht man aber genauer zu, so findet man, daß auch bei diesen die geschäftliche Tätigkeit sich im allgemeinen auf die Verwaltung von in Grundbesitz und in Bergbau festgelegten Vermögen beschrankt. Alte Vermögen, die in dem Sinne werbend wären, daß sie sich immerfort vergrößern, gibt es nicht.
Ludwig von Mises, geb. 1881 in Lemberg, war der wohl bedeutendste Ökonom und Sozialphilosoph des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer hat er die (wissenschafts)theoretische Begründung für das System der freien Märkte, die auf unbedingter Achtung des Privateigentums aufgebaut sind, und gegen jede Form staatlicher Einmischung in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben geliefert. Seine Werke sind Meilensteine der Politischen Ökonomie. Das 1922 erschienene “Die Gemeinwirtschaft” gilt als erster wissenschaftlicher und umfassender Beweis für die “Unmöglichkeit des Sozialismus”. Sein Werk “Human Action” (1949) hat bei amerikanischen Libertarians den Rang einer akademischen “Bibel”. Mises war Hochschullehrer an der Wiener Universität und Direktor der Österreichischen Handelskammer. Ab 1934 lehrte er am Institut des Hautes Etudes in Genf. 1940 Übersiedlung nach New York, wo er nach weiteren Jahrzehnten der Lehr- und Gelehrtentätigkeit 1973 im Alter von 92 Jahren starb.