Die politische Desintegration ist Europas große Chance

27.01.2016 – von Łukasz Nieroda.

Im Gespräch mit Befürwortern der Europäischen Union, deren Interesse an alltäglicher Politik eher gering ist (und deren Wissen über politisches Denken oberflächlich ist), könnte man zu dem Schluss kommen, dass ihre Unterstützung für das Projekt nur selten von Sympathien für interventionistische Eingriffe getrieben ist, sondern nur ein einfacher Wunsch nach einer engeren Integration der Nationen ist, die nicht durch staatlich festgelegte Regulierungen gehemmt wird, die in einer nationalistischen Denkweise verwurzelt sind. Darüber hinaus steht diese Denkweise im Einklang mit den ursprünglichen Plänen für Europa, die vor langer Zeit von den geistigen Gründungsvätern der EU konzipiert wurden: Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi. Wie Philipp Bagus in „Die Tragödie des Euro“ darlegt, war ihre Vision für Europa zunächst liberal – also zugunsten freien Handels und relativ freier Märkte. Die Perspektive dieser liberalen Fürsprecher für ein vereinigtes Europa war, dass der ganze Kontinent durch die Grundsätze der Freiheit für die Bewegung von Kapital, Menschen, Waren und Dienstleistungen (auch bekannt als die vier Grundfreiheiten) vereint werden sollte.

In den Römischen Verträgen von 1957 wurden diese vier Grundfreiheiten als Ideale zwischen den Mitgliedsstaaten festgelegt, aber im Laufe der Jahre nahm das Projekt Ausmaße an, die heute kein vernünftiger Mensch mehr als „liberal“ bezeichnen kann. Stattdessen haben sich europäische Entscheidungsträger, die die europäischen Institutionen betreiben, den Versuchungen des Interventionismus hingegeben. Gegenwärtig treibt die EU eine Politik voran, die die Volkswirtschaften Europas belastet, welche auf nationaler Ebene ohnehin schon von den nationalen Parlamenten überreguliert sind.

Die ursprünglichen Ansichten von Schuman und den anderen Gründungsvätern der EU waren zu befürworten. Ihre Ausführung lässt jedoch viel zu wünschen übrig.

Obwohl die vier Grundfreiheiten das Ideal waren, wurden die wirtschaftlichen Freiheiten durch zahlreiche Beschränkungen und Verpflichtungen der EU verhindert, die die wirtschaftliche Zusammenarbeit verzerren. Die an dem Projekt beteiligten Politiker entschieden sich für eine internationale Institution, deren Aufgabe darin bestand, durch politische Zentralisierung zur Integration zu führen. Diese Lösung mag auf den ersten Blick vernünftig erscheinen: Wenn einige Länder unter der Schirmherrschaft einer Regierung vereinigt sind, ist es eher unwahrscheinlich, dass die Freizügigkeit zwischen diesen Ländern eingeschränkt wird. In den modernen Staaten sind außerdem Beschränkungen, die der Übertragung von Kapital oder Waren innerhalb der Grenzen eines Staates auferlegt werden, unwahrscheinlich. Daher mag die politische Zentralisierung für einige die beste Methode sein, eine Freihandelszone zwischen den Ländern zu schaffen.

Politische Zentralisierung vs. wirtschaftliche Integration

Die politische Zentralisierung kann aber auch ein Hindernis für die wirtschaftliche Integration sein. Hans-Herman Hoppe argumentiert, dass es – je größer der Staat ist – umso weniger Anreize für eine Liberalisierung gibt. Kleine Staaten – umgeben von zahlreichen Rivalen – fühlen einen starken Druck, mit den Nachbarstaaten im Wettbewerb um Steuerzahler und Investoren zu stehen. Wegen ihrer Größe ist es relativ einfach und billig, ihrer Regierungsgewalt zu entkommen und ins Ausland zu ziehen. Wenn eine ähnliche Kultur in den Nachbarstaaten herrscht – wenn die Sprache und die Religion ähnlich sind, wie es in vielen Gebieten Europas der Fall ist – scheinen die Perspektiven der Emigration noch verführerischer. Daher ist es wahrscheinlich, dass Regierungen, die hohe Steuern und belastende Vorschriften auferlegen, als Konsequenz unter Entvölkerung leiden und ihre Einkommensquellen verlieren. Unter solchen Umständen liegt es im eigenen Interesse der Regierungen, mäßig zu besteuern und zu regulieren. Je kleiner die Staaten sind, desto weniger Ressourcen sind innerhalb ihrer Grenzen zu finden, so dass solche Staaten gut in das System des internationalen Handels und der internationalen Arbeitsteilung integriert werden müssen. Die Mikrostaaten werden dann aus der Not heraus die Zoll- und Freihandelsbeschränkungen aufgeben.

Im Gegensatz hierzu ist es bei großen Staaten wahrscheinlich, dass sie in entgegengesetzter Weise handeln, weil es schwieriger ist, ihnen zu entkommen. Wegen ihrer enormen geographischen Größe ist es schwer, sie zu verlassen. Wenn man gehen will, wird man in vielen Fällen gezwungen sein, in einer völlig neuen Kultur zu leben. Darüber hinaus werden die natürlichen Ressourcen leichter von größeren Staaten kontrolliert, so dass sie weniger von hohen Zöllen beeinträchtig werden. Zwar trifft es zu, dass es in der Regel keinen Zoll zwischen den Ländern gibt, die von derselben Institution beherrscht werden, aber die Regierung kann Personen mit hohen internen Steuern und Zöllen belegen, die außerhalb ihrer Zuständigkeit bleiben.

Alles in allem bleibt das Ausmaß der wirtschaftlichen Integration innerhalb eines riesigen Staates kleiner als bei Menschen, die in zahlreichen kleinen Mikrostaaten verstreut sind, welche nicht politisch integriert sind.

Auch wenn die EU noch kein Staat ist, nimmt sie allmählich immer mehr Merkmale eines Staates an. Letztendlich basiert die Finanzierung auf Beiträgen, die die Mitgliedsstaaten von ihren Bürgern erpressen. Daher erklärt die oben zusammengefasste Analyse von Hoppe, warum die EU von den liberalen Absichten ihrer prominentesten Gründer abwich und nicht die Werte des klassischen Liberalismus fördert und stattdessen lieber die Sozialdemokratie wählen würde. Es liegt auf der Hand, dass das Saatgut des künftigen Versagens zu Beginn geplant wurde, als entschieden wurde, dass der Weg, die Ziele von Schuman, Adenauer und Gasperi zu erreichen, am besten durch politische Zentralisierung erreicht werde. Schon im Jahre 1952 wurde bekanntgegeben, dass das endgültige Ergebnis die „Vereinigten Staaten von Europa“ sein soll.

Wie die Europäische Integration hätte aussehen sollen

Anstatt Zentralisierung zu fördern, hätten die Politiker der Nachkriegszeit eine völlig andere Strategie verfolgen sollen. Um die vier Grundfreiheiten zu garantieren, hätte es genügt, einen Kongress einzuberufen, bei dem sich die teilnehmenden Nationalstaaten verpflichtet hätten, die Bewegung von Personen, Gütern, Dienstleistungen und Kapital zwischen den Staaten, welche dem Abkommen beitreten, nicht zu regulieren. Es wäre nichts weiter als ein Vertrag gewesen – ohne die Gründung einer formalen Institution. Die Mitgliedstaaten hätten Milliarden von Euro für die Aufrechterhaltung der europäischen Bürokratie gespart.

Wenn die europäischen Beziehungen so organisiert worden wären, wäre schnell klargeworden, dass die daraus resultierenden Vorteile der wirtschaftlichen Integration, nicht der politischen Planung zuzuschreiben sind. Auch wenn man die Vorteile einer nichtpolitischen Wirtschaftsintegration mit einer großen Zahl von Nationalstaaten betrachtet hätte, wäre es wahrscheinlicher, dass Europa die Sezession eher als eine wettbewerbsintensivierende Lösung betrachtet. Schließlich gibt es kein zwingendes Argument, warum Staaten auf einem Prinzip der nationalen Identität basieren sollten. Tatsächlich ist der Nationalismus, wie wir ihn heute kennen, eine moderne Ideologie, die vor dem 19. Jahrhundert unbekannt war.

Manchmal wird behauptet, dass die nationale Souveränität eine der Grundlagen des Liberalismus ist. In Wirklichkeit aber hält die liberale Doktrin fest, dass das Selbstbestimmungsrecht kein für alle Völker exklusiv reserviertes Recht ist, sondern für jede Gemeinschaft, die so klein ist, dass sie als unabhängiger Staat (wenn nicht sogar als ein Mikrostaat) besteht, unabhängig von ihrer nationalen Identität. Wie Ludwig von Mises es ausdrückte:

„Das Selbstbestimmungsrecht, von dem wir sprechen, ist jedoch nicht Selbstbestimmungsrecht der Nationen, sondern Selbstbestimmungsrecht der Bewohner eines jeden Gebietes, das groß genug ist, einen selbständigen Verwaltungsbezirk zu bilden. Wenn es irgend möglich wäre, jedem einzelnen Menschen dieses Selbstbestimmungsrecht einzuräumen, so müßte es geschehen. Nur weil dies nicht durchführbar ist, da die staatliche Verwaltung eines Landstrichs aus zwingenden verwaltungstechnischen Rücksichten einheitlich geordnet sein muß, ist es notwendig, das Selbstbestimmungsrecht auf den Mehrheitswillen der Bewohner von Gebieten einzuschränken, die groß genug sind, um in der politischen Landesverwaltung als räumliche Einheiten aufzutreten.“

Auf einem Kontinent, in dem jede Region sich abspalten könnte, müssten die Regierungen äußerst vorsichtig sein, ihre produktiven Staatsbürger, die in einem geschäftsfreundlichen Umfeld leben wollen, nicht zu verlieren. Die Regierungen, die sich dadurch veranlasst sähen, eine marktfreundliche Haltung einzunehmen, würden die gesamteuropäische Wirtschaftsintegration durch interne Reformen weiter vertiefen: Bürokratieabbau, Steuersenkung und Regulationsabbau.

Die große Herausforderung, mit der die europäischen Liberalen konfrontiert sind, ist, all jene Menschen zu überzeugen, die die EU bei einer engeren Integration zwischen den Nationen unterstützen, dass die politische Dezentralisierung – und nicht die politische Integration – die geeignetste Methode ist, dieses edle Ziel zu erreichen.

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Aus dem Englischen übersetzt von Martin Ziegner. Der Originalbeitrag mit dem Titel What European Integration Should Look Like ist am 12.1.2017 auf der website des Mises-Institute, Auburn, US Alabama erschienen.

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Łukasz Nieroda hält einen MA-Abschluss in Englischer Philologie (Interdisciplinary specialization of history and civilization of English-speaking countries). Er ist Absolvent der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań, Polen, und arbeitet derzeit an seiner Dissertation über die Darstellung Polens in der britischen Literatur des 19. Jahrhunderts.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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