Negative Zinsen sind das Rezept für eine Katastrophe
23.5.2016 – von Louis Rouanet.
Es scheint, als hätte Martin Wolf, Chefkommentator für Wirtschaftsfragen bei der „Financial Times“, vergessen, was es mit dem Zins und seiner koordinierenden Rolle auf sich hat. So schreibt er am 12. April, man könne die Zentralbanken nicht für die niedrigen oder sogar negativen Zinsraten verantwortlich machen: „Wir sollten die sehr niedrigen Zinsen als Symptom der Krankheit betrachten, nicht als deren Ursache“
Wolf behauptet, die negativen Zinssätze seien nicht die Schuld der Zentralbanken. Es fällt allerdings schwer, ihm das zu glauben. Niemals unter dem Goldstandard, niemals im einem freien Bankensystem und niemals in einer freien Marktwirtschaft waren die Zinsen negativ. Stattdessen spiegelt der Zins auf einem freien Markt die Zeitpräferenz der Menschen wider, gleichwie den „Preis der Zeit“. Da das allgemeine Gesetz des menschlichen Handelns besagt, dass die Zeitpräferenz stets positiv ist, kann es auf einem freien Markt keine negativen Zinsen geben.
Angesichts der falschen und trügerischen Argumentation des Artikels, wäre es an sich notwendig, ihn Zeile für Zeile durchzugehen. Trotzdem werde ich mich im Folgenden nur auf einige Punkte beziehen. Insbesondere werde ich folgende Thesen behandeln:
- Die Existenz von Zentralbanken hat nichts mit negativen Zinsen zu tun.
- Es wird momentan zu viel gespart, bzw. zu wenig investiert.
- Niedrige Zinsen sind ein Resultat niedrigen Produktivitätswachstums.
Was verursacht negative Zinsen?
Es gibt keine marktwirtschaftliche Erklärung für negative Zinsen. Dennoch können wir im zweiten Abschnitt von Wolfs Artikel lesen:
Die Weltwirtschaft leidet unter einer massiven Einsparungswelle bei Investitionen. Die Währungsbehörden helfen, das Zinsniveau mit dieser Tatsache in Einklang zu bringen. Letztendlich bestimmen also Marktkräfte, was Sparer für ihr angelegtes Geld bekommen. Der Markt zeigt also, dass ihre Ersparnisse nicht viel wert sind.
Dieser Absatz weist mehrere Fehler auf. Erstens wird behauptet, der Markt würde das Zinsniveau bestimmen. Das stimmt aber nicht in einer Welt, in der das Kreditwesen größtenteils von der Politik der Währungsbehörden bestimmt wird. Mit Hilfe von Offenmarktgeschäften können Zentralbanken das Zinsniveau deutlich unter das Level eines freien Marktes senken. Daraus resultieren Fehlinvestitionen und schlussendlich Wirtschaftskrisen.
Was Herr Wolf damit jedoch meinen könnte, ist, dass sich der Markt an die von den Zentralbanken verursachten Bedingungen anpasst. Diese Argumentation trifft aber nicht auf alle Zentralbanken und Negativzinsen zu. Der Markt passt sich praktisch allem an: Verbrechen, Vorschriften, Inflation.
Wenn es zu einem Anstieg der Kriminalität in einer bestimmten Stadt kommt und in Folge die Preise von Immobilien absinken, sollten wir dann sagen, dass die Kriminalität nicht verantwortlich für diesen Rückgang ist, da ja „letztlich die Marktkräfte die Preise für Immobilien bestimmen“?
Die Tatsache, dass Marktkräfte sich der Geldpolitik der Regierung anpassen, rechtfertigt diese nicht, genauso wenig wie sie Raub, Tötung oder andere Verbrechen rechtfertigt.
Die nicht existierende Schwemme an Ersparnissen
Der zweite Fehler liegt darin, dass – gäbe es diesen enormen Trend zum Sparen wirklich – daraus resultieren müsste, dass das Zinsniveau automatisch absinken würde, ganz ohne die Hilfe von Zentralbanken. So lange keine massive Intervention des Staates in einem freien Markt erfolgt, kann es nicht zu einer Schwemme an Ersparnissen kommen. Martin Wolf behauptet das Gegenteil und argumentiert analog dem führenden Keynesianer der Nachkriegsära, Alvin Hansen.
Gemäß Hansens Theorie sind Depression und Stagnationen ein Resultat aus Mangel an Investitionen. Sogar die Weltwirtschaftskrise 1929 und die anschließende Depression sollen auf nachlassende Investitionen, bedingt durch ein langsames Wachsen der Bevölkerung und das Ausbleiben von Innovationen, zurückzuführen sein. Diese Theorie ist mittlerweile mithilfe der säkularen Stagnationshypothese wiederaufgelebt. Einer ihrer prominentesten Vertreter, Laurence H. Summer, schreibt dazu:
Alvin Hansen verkündete das Risiko einer säkularen Stagnation Ende der 1930er Jahre, nur um dann während und nach dem zweiten Weltkrieg einen Wirtschaftsboom mitzuerleben. Es ist durchaus möglich, dass ein großes exogenes Ereignis auftritt, das den Konsum erhöht bzw. die Sparquote so senkt, dass daraus Vollbeschäftigung und ein hoher Realzins resultieren und damit meine Bedenken irrelevant werden. Außer Krieg fällt mir aber kein derartiges Ereignis ein. Im Gegenteil, die meisten Gründe, die für fallende Beschäftigung und Zinsen sorgen, werden auch noch in den nächsten Jahrzehnten fortbestehen.
Murray Rothbard kritisiert in seinem Buch „America’s Great Depression“ (Seite 68-72) die Theorie, dass mangelnde Investitionen für säkulare Stagnationen verantwortlich wären. Es sei einfach, daraus zu schließen, dass nur Änderungen der Ausgangsgrundlagen, wie ein Wachstum der Bevölkerung, zu neuen Investments führe und dies mit dem Walrasianischen allgemeinen Gleichgewichtsmodell, in dem Präferenzen und Bedingungen konstant gehalten werden, zu begründen. Wenn also neue Investitionen als wichtigste Erklärung für Wohlstand und Depression in Betracht gezogen werden, folgt daraus, dass nur Änderungen wie Krieg, Innovation und Bevölkerungswachstum neue Investitionsmöglichkeiten eröffnen können.
Das Problem mit dieser Theorie, die von Hansen, Summers und Wolf vertreten wird, ist, dass sie völlig die Rolle der Zeitpräferenz als Einflussgröße von Investmententscheidungen außer Acht lässt. Weil es immer menschliche Bedürfnisse zu befriedigen gibt, existieren auch immer Investitionsmöglichkeiten. Da aber alle Ressourcen, also auch Ersparnisse, begrenzt sind, ist es notwendig, Investitionen anhand der Zeitpräferenz zu priorisieren. Oder wie es Rothbard ausdrückte: „Es ist die Zeitpräferenz (die „Vorliebe“ der Gesellschaft für die Gegenwart gegenüber der Zukunft), die entscheidet, was das einzelne Individuum spart und investiert.“
Daher fährt Rothbard fort:
„Kurzum: Was wir brauchen, sind Ersparnisse – sie sind der Faktor, der Investitionen begrenzt. Ersparnisse werden durch die Zeitpräferenz beeinflusst, also wie weit man die Gegenwart der Zukunft vorzieht. Investitionen erfolgen immer, indem der Produktionsprozess verlängert wird, nachdem zunächst die kürzeren Produktionsprozesse entwickelt werden müssen. Die längeren Produktionsprozesse, die unerschlossen bleiben, wären dagegen profitabler, werden aber nicht genutzt, da sie durch die Zeitpräferenz limitiert sind. Ein Investment in neue Maschinen wird z.B. nicht getätigt, da nicht genug Ersparnisse vorhanden sind.“
Daher können wir festhalten, dass es sowas wie eine Schwemme an Ersparnissen nicht gibt.
Die Notwendigkeit des Sparens
Im Gegenteil: Wir benötigen mehr echte Ersparnisse, die das Wirtschaftswachstum fördern. Was wir stattdessen haben, sind Scheinersparnisse, die aus der Inflationspolitik der Zentralbanken resultieren. Eine solche Politik wird den Boom-Bust-Zyklus nur verschärfen. Darüber hinaus werden die Zentralbanken mit ihrer ultra-niedrigen Zinspolitik Unternehmer dazu veranlassen, auch weniger profitable Projekte zu beginnen und sich nicht an den Bedingungen eines freien Marktes zu orientieren, nämlich der Befriedigung von Verbraucherbedürfnissen.
Wie es Mises in seinem Buch „Human Action“ ausdrückt, hindert der Zinssatz auf dem freien Markt den Unternehmer an der Durchführung von Projekten, welche von der Öffentlichkeit aufgrund der langen Wartezeit abgelehnt werden. Er wird gezwungen, den verfügbaren Bestand an Investitionsgütern in einer solchen Art und Weise zu verwenden, die am besten geeignet ist, die dringendsten Bedürfnisse der Verbraucher zu befriedigen. Negative Zinsen sind ein Rezept für eine Katastrophe. Falsche Investition sind eine wesentliche Ursache wirtschaftlicher Stagnation und Depression.
Die Idee, den Mangel an Investitionsmöglichkeit dafür verantwortlich zu machen, führt zu weiteren grundlegenden Fehlern, besonders in Bezug auf den Zins. Martin Wolf schreibt dazu:
Der Überschuss an Ersparnissen (oder Investitionsmangel) ist das Ergebnis der Entwicklungen sowohl vor, als auch nach der Krise. Schon vor 2007 waren die realen langfristigen Zinsen rückläufig. Seitdem sorgt das Zusammenwirken schwacher privater Investitionen, der Kürzungen der öffentlichen Mittel, eine Verlangsamung des Produktivitätswachstums und die krisenbedingten Schulden dafür, dass das reale Zinsniveau absinkt. Für eine Weile schafften es die starken Schwellenländer nach der Krise, durch ihre Nachfrage diesen Trends teilweise zu kompensieren. Aber jetzt hat sich dieser Trend auch abgeschwächt.
Der auffälligste Irrtum in diesem Absatz ist die völlig falsche Behauptung, dass zwischen der Produktivität und dem Zinsniveau ein kausaler Zusammenhang besteht. Die Österreichische Schule beweist das Gegenteil. Die Zinssätze sind nicht abhängig von der Produktivität, wie von vielen klassischen Ökonomen behauptet wird, sondern von der Zeitpräferenz. Es ist nicht die höhere Produktivität längerer Produktionsumwege, die den Zinssatz treibt, sondern es ist umgekehrt.
Der Zins hängt von der sozialen Zeitpräferenz ab und er erklärt, warum kurze Produktionsprozesse trotz der Existenz von längeren Prozessen verwendet werden, obwohl diese einen höheren Output pro Input erzeugen. Wie es Israel Kirzner ausdrückte: „Keine Produktionsüberlegung kann alle Aspekte berücksichtigen.“
Wir müssen die Nachfrage fördern
Es ist offensichtlich, dass Herr Wolfs Versuch, die Zentralbanken ihrer Verantwortung in Bezug auf negative Zinsen zu entbinden, auf dem keynesianischen Modell basiert, das starke Zentralbanken fordert. Martin Wolf glaubt, dass die Stabilität unserer Volkswirtschaften sich auf Regierungen und Zentralbanken stützt, dass die Zinsen „in Einklang gebracht werden“ werden müssen und dass die Gesamtnachfrage ausgeglichen sein muss. Er ist nicht bereit zu erkennen, dass die aktuelle Situation der negativen Zinsen ein direktes Resultat aus den Aktionismus der Zentralbanken ist.
Er schreibt:
Einige werden einwenden, dass der Rückgang der Realzinsen allein das Ergebnis der Geldpolitik der Zentralbanken ist, nicht der Marktkräfte. Das ist falsch. Die Geldpolitik beeinflusst zwar kurzfristig und langfristige nominale Zinssätze, aber das Ziel der Preisstabilität bedeutet, dass die Politik auf einen Ausgleich der Nachfrage mit dem Angebot ausgerichtet ist. Die Zentralbanken haben lediglich festgestellt, dass sehr niedrige Zinssätze notwendig sind, dieses Ziel zu erreichen.
Nachdem wir diesen letzten Absatz gelesen haben, kann man einen enormen Selbstwiderspruch seitens Herrn Wolf festhalten. Tatsächlich behauptet er, dass die Zentralbanken nichts mit negativen Zinsen zu tun haben, und gleichzeitig, dass die Zentralbanken im Sinne ihrer Politik eine aktive Niedrigzinspolitik betreiben. Unbeabsichtigt macht Herr Wolf dem Leser auf diese Weise deutlich, dass die Zentralbanken sehr wohl verantwortlich für negative Zinssätze sind.
Außerdem sollten wir betonen, dass die Preisstabilität, die Martin Wolf fordert, ein illusorisches Ziel ist. Eine wachsende Wirtschaft kann sehr gut mit Preisdeflation funktionieren. Die Idee, dass die Regierungen die Gesamtnachfrage oder das Angebot beeinflussen sollen, um wirtschaftliche Stabilität zu gewährleisten, ist trügerisch. Wenn wir etwas aus der klassischen Ökonomie gelernt haben, dann dies, dass Angebot und Nachfrage zwei Seiten derselben Medaille sind. Schon Ricardo schrieb: „In einer Volkswirtschaft gibt es keinen Mangel an Nachfrage.“ Es gibt absolut keine Notwendigkeit für eine politische Autorität, die sich in dieses Gefüge einmischt. Daher ist auch Herr Wolfs letztes Argument nichtig.
Die Behauptung, dass negative Zinsen „irgendwie“ natürlich oder im Sinne der Wirtschaft wären, ist absurd.
Ohne die Einmischung von Zentralbanken und Regierungen wäre das Thema „Negativzins“ nicht existent.
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Aus dem Englischen übersetzt von Martin Ziegner. Der Originalbeitrag mit dem Titel Free Markets Do Not Need Negative Interest Rates ist am 5.5.2016 auf der website des Mises-Institute, Auburn, US Alabama erschienen.
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Louis Rouanet ist Student am Institute of Political Studies in Paris und studiert dort Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften.
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