Die ‚Schizophrenie‘ in der Befürwortung von Zöllen
7. April 2025 – von Ludwig von Mises
Im Folgenden lesen Sie einen Auszug aus dem Buch „Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens“ von Ludwig von Mises, Vierter Teil, 2. Kapitel, Abschnitt VIII „Erzeuger und Verbraucher“ (S. 273 – 276).
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Klagen über die Härte und Unbilligkeit des auf dem Markte herrschenden Ausleseverfahrens gehören zu dem volkstümlichsten Bestandteil der landläufigen Anklagen gegen den Kapitalismus. Um die Erzeuger – vor allem die Arbeiter, oft auch die Unternehmer und die Grundbesitzer, mitunter selbst die Kapitalisten – gegen die Tyrannei der Verbraucher zu schützen, sucht die Wirtschaftspolitik das Getriebe des Marktes zu hemmen, indem sie den minderwertigen Erzeuger in die Lage versetzt, sich dem tüchtigeren Erzeuger gegenüber im Wettbewerb zu behaupten. Was man Sozialpolitik nennt, ist oft nichts anderes als Schutz des Erzeugers gegen den Verbraucher. Es will «Produzentenpolitik» sein im Gegensatz zu der «Konsumentenpolitik» des unbehinderten Marktes.
Doch Erzeuger und Verbraucher sind identisch. Sie spielen im Marktgetriebe verschiedene Rollen, sie sind für die Theorie gesonderte Funktionen, doch sie sind im Leben dieselben Menschen. Wenn man einen Erzeuger oder einige Erzeuger durch Privilegien schützt und ihnen damit die Möglichkeit bietet, auch bei weniger vollkommener Bedienung der Verbraucher jener Vorteile teilhaft zu werden, die auf dem durch Eingriffe der schirmenden Obrigkeit nicht behinderten Markte nur den die Wünsche der Verbraucher am zweckmäßigsten befriedigenden Erzeugern zukommen, so geht dieser Schutz zu Lasten der Verbraucher, die nun schlechter versorgt werden. Wenn man die Mehrheit der Erzeuger oder alle Erzeuger auf diese Weise begünstigen will, so schädigt man die Mehrheit der Verbraucher oder alle Verbraucher.
Doch Erzeuger und Verbraucher sind identisch. Sie spielen im Marktgetriebe verschiedene Rollen, sie sind für die Theorie gesonderte Funktionen, doch sie sind im Leben dieselben Menschen.
Wenn der Verbraucher der Meinung ist, es wäre richtig, für inländisches Getreide einen höheren Preis zu bezahlen als für solches, das aus dem Ausland eingeführt wird, oder für Waren, die aus Fabriken stammen, in denen bestimmte Einrichtungen sozialpolitischen Charakters bestehen, mehr zu zahlen als für solche, die aus anderen Fabriken stammen, hindert ihn nichts an der Durchführung dieser Absicht. Er hätte sich nur zu überzeugen, ob die angebotenen Waren jenen Bedingungen entsprechen, die er an die Gewährung eines höheren Preises knüpft. Schutz der Herkunftsbezeichnung der Waren und Schutz der Fabriksmarken würden vollkommen den Zweck erreichen, den man durch Schutzzoll und durch sozialpolitische Zwangsmaßnahmen zu erzielen sucht. Die Tatsache steht aber fest, dass die Verbraucher nicht dieser Meinung sind. Dass eine Ware als solche ausländischer Herkunft gekennzeichnet wird, hindert ihren Absatz nicht, wenn sie billiger oder besser ist. Die Käufer auf dem Markte wollen in der Regel so billig als möglich kaufen, ohne dabei zwischen den Erzeugern Unterschiede zu machen.
Die psychologische Grundlage der Produzentenpolitik, wie sie in den letzten Jahrzehnten in allen Staaten der Welt betrieben wurde, war die Anerkennung von Theorien, die die Belastung der Verbraucher durch die Maßnahmen zum Schutze der minderleistungsfähigen Erzeuger bestritten haben. Man hat es verstanden, den Verbrauchern die Meinung beizubringen, dass Zölle und sozialpolitische Maßnahmen, die die Erzeugungskosten erhöhen, nicht von ihnen bezahlt werden, sondern von anderen Personen oder Personengruppen, oder dass zumindest der zusätzliche Geldaufwand, der ihnen durch solche Verfügungen erwächst, durch andere Vorteile, die sich in ihrem Geldeinkommen oder in ihren Geldausgaben ausdrücken, aufgewogen wird. Wenn die Verbraucher den Maßnahmen dieser Art, die ihre Lebenskosten erhöhen oder, richtiger gesagt, ihre Lebenshaltung herabdrücken, nicht erfolgreich Widerstand entgegengesetzt haben, so geschah das nicht in der Erwägung, dass ihre in der Geldgebahrung der Verbraucher zum Ausdruck gelangenden Nachteile durch Vorteile anderer Art, die sich, für den einzelnen Verbraucher zumindest, nicht in Erhöhung der Geldeinnahmen oder Verringerung der Geldausgaben auswirken, aufgewogen werden. Die Verbraucher haben den Zöllen nicht zugestimmt, weil sie der Ansicht waren, dass die Mehrbelastung ihres Verbrauchs durch den Zollschutz durch nationalpolitische Vorteile ausgeglichen werde, sondern teils, weil sie der Meinung waren, dass der Zollschutz überhaupt keine Verteuerung bringe, teils, weil sie dachten, dass der Zollschutz auf der anderen Seite ihr Geldeinkommen erhöhe oder sonst ihre Lebenshaltung verbessere. Jene Ideologen und Politiker denken folgerichtig, die die Verschlechterung der Lebenshaltung durch die von ihnen empfohlenen staatliche Eingriffe in Kauf nehmen wollen, weil andere – sogenannte nicht reinwirtschaftliche – Vorteile, die sie – ob mit Recht oder mit Unrecht, ist zunächst gleichgültig – vom Zollschutz erwarten, in ihren Augen die Nachteile reinwirtschaftlicher Natur aufwiegen. Doch die Massen, die diese Auffassung nicht teilen, die in den Eingriffen überhaupt keine Schmälerung ihres Wohllebens erblicken, haben die Produzentenpolitik aus Unverstand mitgemacht und nicht in klarer Erkenntnis ihrer Folgen.
Man hat es verstanden, den Verbrauchern die Meinung beizubringen, dass Zölle und sozialpolitische Maßnahmen, die die Erzeugungskosten erhöhen, nicht von ihnen bezahlt werden, sondern von anderen Personen oder Personengruppen …
Hat aber den Verbrauchern das Bewusstsein nicht gefehlt, dass die Eingriffe zu Gunsten der minderleistungsfähigen Erzeuger sie selbst belasten und haben sie nichtsdestoweniger die Maßnahme gefordert und durchgesetzt, so war ihr Bestreben darauf gerichtet, eine Minderheit, die anders denkt und daher anders handeln würde als sie, zu zwingen, sich dem Willen der Mehrheit zu unterwerfen. Denn um sich selbst dazu zu bringen, die Ware ausländischer Herkunft und die inländischer Herkunft verschieden zu behandeln, bedarf es unter dieser Voraussetzung keines gesetzlichen Zwanges. Sie selbst wären ja bereit, für die Ware inländischer Herkunft mehr zu bezahlen, auch wenn kein Gesetz und kein Zwangsapparat sie dazu nötigen würde.
Hat aber den Verbrauchern das Bewusstsein nicht gefehlt, dass die Eingriffe zu Gunsten der minderleistungsfähigen Erzeuger sie selbst belasten und haben sie nichtsdestoweniger die Maßnahme gefordert und durchgesetzt, so war ihr Bestreben darauf gerichtet, eine Minderheit … zu zwingen, sich dem Willen der Mehrheit zu unterwerfen.
Das weist uns auf den grundlegenden Unterschied hin, der zwischen dem, was man die Demokratie des Marktes genannt hat, und der Nachbildung der Marktverfassung in der politischen Demokratie besteht. Auf dem unbehinderten Markt gibt es keine Minderheit, der die Mehrheit ihren Willen aufzudrängen vermag. Jeder Verbraucher hat die Möglichkeit, seine eigene Wahl zu treffen und die Erzeugung auf den Weg zu lenken, der zur Erreichung seiner Ziele führt. Wenn viele dieselben Wünsche erfüllt sehen wollen, wenn viele das gleiche Erzeugnis begehren, dann wird Erzeugung im Großen lohnend und der Wettbewerb der Verbraucher führt nicht zur Verteuerung, sondern zur Verbilligung des begehrten Erzeugnisses. Wer sich dem Geschmack der Übrigen nicht anpasst, wer begehrt, dass für ihn etwas erzeugt werde, was kein anderer begehrt, der muss freilich viel mehr für die Befriedigung seines Sonderwunsches aufwenden als die Befriedigung seines Begehrs durch ein Erzeugnis, das auch von vielen anderen begehrt wird, kostet; der Preisunterschied mag so hoch sein, dass die Befriedigung des Sonderwunsches ihm unmöglich erscheint.
Doch es ist ein Ausnahmefall, dass jemand etwas begehrt, was keiner sonst verlangt. Praktisch von ungleich größerer Bedeutung ist der Fall, dass Minderheiten anderes begehren als die Mehrheit. Hier bewährt sich die Demokratie des Marktgetriebes. Jeder Minderheit ist es möglich, sich das zu beschaffen, was sie begehrt, wenn sie bereit ist, die Opfer zu bringen, die die Erfüllung ihrer Wünsche erfordert. Die Erzeuger arbeiten für die Bedürfnisse der Minderheit nicht anders als für die Bedürfnisse der Mehrheit.
Jeder Minderheit ist es möglich, sich das zu beschaffen, was sie begehrt, wenn sie bereit ist, die Opfer zu bringen, die die Erfüllung ihrer Wünsche erfordert. Die Erzeuger arbeiten für die Bedürfnisse der Minderheit nicht anders als für die Bedürfnisse der Mehrheit.
Wie jedermann als Verbraucher Käufer ist, so ist jedermann auch Verkäufer von Produktionsmitteln – Arbeit oder sachlichen Produktionsmitteln – oder von gebrauchsfertigen Gütern. Die Trennung der Funktionen in der Marktwirtschaft führt zu einer Spaltung des Bewusstseins. Der Einzelne ist sich dessen nicht bewusst, dass er sowohl Käufer als auch Verkäufer, sowohl Verbraucher als auch Erzeuger ist. Er fühlt sich nicht zugleich als Erzeuger und als Verbraucher, als Beauftragter und als Auftraggeber, sondern je nach der Handlung, die er setzt, bald in der einen, bald in der anderen Rolle. Wenn er das gebrauchsfertige Gut erstehen will, ist er nur Käufer, Verbraucher und gestrenger Richter der Leistung der Erzeuger; wenn er als Unternehmer, Kapitalist, Bodenbesitzer, Arbeiter verkaufen, verleihen oder vermieten soll, dann ist er nur Verkäufer, der nicht merkt, dass er in letzter Linie auch an sich selbst verkauft, verleiht oder vermietet. Aus dieser Spaltung ergeben sich wichtige Folgen für die Bildung der Ideologien und der politischen Parteiungen. Die politischen Kämpfe des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts wurden im Zeichen von Lehren ausgefochten, die nur die Spaltung der Funktionen gesehen haben und die Einheit der Gesellschaft hinter ihrer Gliederung nicht zu entdecken vermochten.
Die Trennung der Funktionen in der Marktwirtschaft führt zu einer Spaltung des Bewusstseins. Der Einzelne ist sich dessen nicht bewusst, dass er sowohl Käufer als auch Verkäufer, sowohl Verbraucher als auch Erzeuger ist.
Es gibt keinen Gegensatz der Interessen zwischen Erzeugern und Verbrauchern. Der Einzelne hat im Einzelakt, den er setzt, Interessen, die denen der anderen Geschäftspartei entgegenstehen. Doch die Gesamtheit der Verkäufer und die Gesamtheit der Käufer haben die gleichen Interessen, weil sie eben identisch sind.
Der Einzelne hat im Einzelakt, den er setzt, Interessen, die denen der anderen Geschäftspartei entgegenstehen. Doch die Gesamtheit der Verkäufer und die Gesamtheit der Käufer haben die gleichen Interessen, weil sie eben identisch sind.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens“ von Ludwig von Mises, Vierter Teil, 2. Kapitel, Abschnitt VIII „Erzeuger und Verbraucher“ (S. 273 – 276).
Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.
Ludwig von Mises (1881 – 1973) hat bahnbrechende und zeitlose Beiträge zum systematischen Studium in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaft geleistet. Vor allem hat er die wissenschaftstheoretische Begründung für das System der freien Märkte geliefert, das auf unbedingter Achtung des Privateigentums aufgebaut ist, und er hat jede Form staatlicher Einmischung in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben als kontraproduktiv entlarvt und zurückgewiesen.
„Jeder trägt einen Teil der Gesellschaft auf seinen Schultern,” schrieb Ludwig von Mises, „niemandem wird sein Teil der Verantwortung von anderen abgenommen. Und niemand kann einen sicheren Weg für sich selbst finden, wenn die Gesellschaft sich im Untergang befindet. Deshalb muss sich jeder, schon aus eigenem Interesse heraus, mit aller Kraft in den geistigen Kampf begeben.“
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