Wider den Werte-Wahn

19. August 2024 – von Rolf W. Puster

Rolf W. Puster

Wie vermeidet man es, für die Freiheit kontraproduktiv zu argumentieren? Spätestens seit David Hume ist es Allgemeingut, dass man daraus, wie die Welt ist, nicht schließen kann, wie sie sein soll. Dieser logisch unzulässige Übergang vom Is zum Ought verlegt ersichtlich auch den Weg, Forderungen bezüglich dessen, wie die Welt sein soll, damit zu begründen, wie die Welt ist.

Da Libertäre in der real existierenden Staatenwelt fast überall gravierende Freiheitsdefizite diagnostizieren, sehen sie gemäß ihrem Selbstverständnis ihren originären Beitrag zum politischen Diskurs in der Forderung nach Freiheit. Daher scheint es nur folgerichtig, wenn logisch aufgeklärte Libertäre ihre Forderung nach Freiheit nicht auf Tatsachen (also auf etwas, das ist) stützen, sondern auf Werte (also auf etwas, dessen Realisierung sein soll).

Als funktional äquivalent zur Aufbietung von Werten kann der bei vielen Libertären beliebte Versuch gelten, besagte Stützung durch Rekurs auf naturrechtlich gegebene Normen zu bewerkstelligen; auch diesem Versuch ist es eigentümlich, zur Fundierung der Freiheitsforderung die Berufung auf gewöhnliche empirische Fakten zu vermeiden, um nicht des Fehlschlusses vom Sein aufs Sollen geziehen werden zu können.

Sowohl der Rückgriff auf Werte wie der Rückgriff auf naturrechtlich gegebene Normen beherzigt nicht nur die eingangs erwähnte logische Lektion Humes. Beide Ansätze eint darüber hinaus das Bestreben, die Forderung nach Freiheit auf etwas Objektivem fußen zu lassen, mithin auf etwas, das — zumindest der Idee nach — der theoretischen Willkür entzogen ist und dem die Feinde der Freiheit nichts Überlegenes entgegenstellen können.

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Mises’ Bedenken gegen die libertäre Standardstrategie

Ludwig von Mises hat gegen die skizzierte Art der Freiheitsfundierung entschieden Bedenken angemeldet:

Die Verteidiger des herrschenden etatistischen und interventionistischen Systems […] glauben, die Anerkennung des Liberalismus […] setze das Bekenntnis zu einer bestimmten Weltanschauung voraus. Liberalismus hat mit Weltanschauung, Metaphysik und Wertung nichts zu tun.

(Ludwig von Mises: Grundprobleme der Nationalökonomie. Untersuchungen über Verfahren, Aufgaben und Inhalt der Wirtschafts- und Gesellschaftslehre. Jena 1933. S. 37 [Hervorhebung von mir])

Der Kerngedanke des Zitats besteht in dem Hinweis, dass man zur Anerkennung bzw. zur Begründung des Liberalismus keinerlei Bewertung benötigt. Mises zufolge ist die politische Befürwortung der Freiheit demnach auf kein normatives oder evaluatives Fundament angewiesen, wie es etwa eine Moral, eine Religion oder ein metaphysisches System wie das Naturrecht liefern könnte.

Die Tatsache, dass die Mises’sche Perspektive auf die Freiheitsfundierung wenig Gehör und noch weniger Verständnis gefunden hat, ist vermutlich dem Umstand geschuldet, dass bislang kein Libertärer eine Antwort auf die folgende Frage hatte, eine Frage, die sich unweigerlich stellt, wenn man versucht, Mises’ Bedenken ernst zu nehmen: Kann man für die Freiheit so eintreten, dass man dabei weder auf eine Wertgrundlage rekurriert noch den Fehlschluss vom Sein aufs Sollen begeht?

Der Subjektivismus der Werte

Um die letztgenannte Frage zu beantworten — und ich werde am Ende eine positive Antwort auf sie geben —, werfen wir zunächst einen Blick auf den Subjektivismus, der als Markenzeichen der Österreichischen Schule gilt. Auf einen knappen Nenner gebracht, besagt er, dass Werte nicht zum objektiven, empirisch aufweisbaren Inventar der Welt gehören, sondern auf subjektive Wertungen zurückzuführen sind. Dieser Gedanke war zwar von Carl Menger in einem engen ökonomischen Sinne konzipiert worden, doch hat Mises zu Recht gesehen, dass er auf alles Werthafte übertragbar und verallgemeinerbar ist.

Dass Werte (ebenso wie naturrechtliche oder moralische Normen) keine mit den üblichen erfahrungswissenschaftlichen Methoden aufspürbaren Phänomene sind, hat eine triviale und dennoch höchst bedeutsame Konsequenz: Wo immer von Werten die Rede ist, haben wir nichts anderes in der Hand als die Auskünfte von Subjekten, die uns erklären, dies oder jenes sei in ihren Augen werthaft oder sein-sollend.

Ungeachtet dieses fraglos richtigen Befundes ist es rein theoretisch denkbar, dass es tatsächlich objektive — das heißt: nicht von subjektiven Wertungen abhängige — Werte gibt. Doch auch dieser Fall ist dem ‚österreichischen‘ Subjektivismus der Werte nicht abträglich. Denn es liegt auf der Hand, dass Werte kausal impotent sind und dass sie ohne die Hilfe von wollenden und handelnden Subjekten nicht in den Weltverlauf eingreifen können. Deshalb bleibt uns in Wertdebatten nichts anderes übrig, als uns an die subjektiven Wertüberzeugungen derer zu halten, die Werte in Debatten geltend machen.

Die Einsicht in die Triftigkeit des Wertsubjektivismus ist so allgemein, dass sie vor moralischen Normen nicht Halt macht. Denn letztere spezifizieren lediglich den Sinn, in dem etwas sein soll, etwas näher — nämlich moralisch—, ohne jedoch verständlich zu machen, wie dieses Sollen ohne den Beitrag von Subjekten in die Welt kommt. Die These, dass es etwas gibt, das objektiv sein soll, bleibt somit auch dann eine nicht explizierbare und damit ungedeckte metaphysische Behauptung, wenn sie im Jargon der Moral formuliert wird.

Es ist nicht zu leugnen, dass die meisten Philosophen die Subjektivität moralischer Normen vehement bestreiten und ihnen einen objektiven Gehalt attestieren. Dieses Mehrheitsvotum wiegt allerdings nicht schwer, da es die bereits genannte Einsicht außer Acht lässt bzw. ignoriert, dass sich objektive Werte und moralische Normen nicht aus eigener Kraft in diejenigen Handlungen verwandeln können, durch die das Werthafte oder Normentsprechende realisiert wird.

Daraus erhellt: Wo immer jemand davon spricht, dass ein Akteur einen objektiven Wert realisiert oder eine objektiv geltende moralische Norm erfüllt, haben wir es mit einem Handeln zu tun, das Ausfluss einer subjektiven Werthaltung oder einer subjektiven moralischen Überzeugung ist. Für das Haben solcher Werthaltungen oder Überzeugungen ist die Existenz objektiver Werte und moralischer Normen nicht erforderlich; sie haben einen ähnlichen Status wie Götter, an die man glauben kann, ohne dass es sie tatsächlich gibt. Die Annahme ihrer Objektivität ist mithin theoretisch überflüssig und kann daher auch keine Beweislasten in einem politischen Diskurs tragen.

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Zwang und seine Legitimierung

Alle Wirksamkeit des Staates geht letztlich auf seine Fähigkeit zurück, Zwang auf seine Bürger auszuüben – er ist in diesem Sinne ein One-Trick-Pony. Aus diesem Grunde kreist die Staatsphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart immer wieder um die Frage, wie die Zwangsausübung des Staates gerechtfertigt werden könne.

Bemerkenswerterweise hat der einfachste, geradlinigste und unmittelbar einleuchtende Rechtfertigungsansatz in der Geschichte der Staatsphilosophie fast nur Gegner und nur wenige Befürworter gefunden. Es ist dies der Ansatz, dem zufolge allein derjenige Zwang gerechtfertigt ist, dem jeder Zwangsunterworfene zugestimmt hat. Da die besagte Zustimmung historisch immer als eine Art Vertragsschluss gedacht wurde, ist dieser Rechtfertigungsansatz der Tradition des Kontraktualismus zuzurechnen, wenngleich er kaum je in aller Konsequenz vertreten wurde (am nächsten ist ihm wohl John Locke gekommen).

Von der eben erwähnten Ausnahme kontraktualistischer Ansätze abgesehen, berufen sich alle konkurrierenden Rechtfertigungen staatlichen Zwangs direkt oder indirekt auf objektive Werte oder moralische Normen. Da jedoch deren – tatsächliche oder vermeintliche – Objektivität sich (wie bereits gesehen) nicht als solche offenbart, sondern uns lediglich im Spiegel subjektiver Einstellungen begegnet, laufen alle nicht-kontraktualistischen Zwangsrechtfertigungen auf subjektive Selbstermächtigungen zur Zwangsausübung hinaus: Zwang, der sich subjektiv als sein-sollend darstellt, wird als objektiv legitim deklariert. Spätestens hier wird klar, dass die Idee der Zwangslegitimierung nicht dadurch eingelöst werden kann, dass der Zwangsbefürworter in sich einen Seelenzustand vorfindet, der den befürworteten Zwang als werthaft erlebt oder moralisch gutheißt. Die Zwangsausübung des Staates unter Rekurs auf objektive Werte und moralische Normen zu rechtfertigen, bedeutet daher, eine Täuschung zu begehen oder einer Täuschung zu erliegen.

Alle Wirksamkeit des Staates geht letztlich auf seine Fähigkeit zurück, Zwang auf seine Bürger auszuüben – er ist in diesem Sinne ein One-Trick-Pony.

Zwang und Zustimmung

Die oben umrissene (kontraktualistische) Legitimierungstheorie des Zwangs, die auf die Zustimmung der Zwangsunterworfenen abhebt, ist für Libertäre akzeptabel, da sie dem aus dem Privatrecht geläufigen Modell folgt, dass die Einhaltung freiwillig eingegangener (vertraglicher) Verpflichtungen notfalls erzwungen werden darf. Selbst ein weitgehend anarchisch konzipierter Libertarismus würde eine in diesem Sinne legitime Zwangsausübung vorsehen, und er würde auch eine Instanz vorsehen, die einen solchen Zwang mit Zustimmung der Zwangsunterworfenen ausübt. Wäre der Staat nichts anderes als der Exekutor allein solcher Zwangsmaßnahmen, denen sich jeder Bürger (etwa zum Zwecke der Sicherung seines Lebens und seines Eigentums) freiwillig durch seine Zustimmung unterwirft, dann wäre er ein Staat, der allen realen Staaten aus libertärer Sicht haushoch überlegen wäre.

Dass die Zustimmungstheorie der Legitimität nur selten ernsthaft erwogen wurde, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass sie kein Einfallstor dafür bietet, staatlichen Zwang über die Köpfe der Zwangsunterworfenen hinweg für legitim zu erklären. Demgegenüber verrät die intellektuelle Energie, die bis auf den heutigen Tag in die Ersinnung wert- und normbasierter Legitimitätstheorien für staatliche Zwangsausübung geflossen ist, den etatistischen Bias einer langen Reihe von politischen Philosophen, die bei Platon beginnt und bei John Rawls nicht endet.

Die Irrelevanz des Sein-Sollen-Problems für Libertäre

Der bisher zurückgelegte Gedankengang versetzt uns nunmehr in die Lage, auf die im zweiten Abschnitt offen gebliebene Frage – Kann man für die Freiheit so eintreten, dass man dabei weder auf eine Wertgrundlage rekurriert noch den Fehlschluss vom Sein aufs Sollen begeht? – eine Antwort zu geben. Sie ergibt sich nämlich aus dem Umstand, dass nur derjenige, der auf andere ohne deren Zustimmung Zwang ausübt, einer Legitimierung bedarf, nicht aber derjenige, der Zwang entweder gar nicht oder nur mit Zustimmung der Zwangsunterworfenen ausübt. Da Libertäre in politischen Debatten typischerweise für den Verzicht auf (ohne Zustimmung ausgeübten) staatlichen Zwang plädieren, treten sie für nichts ein, das legitimierungsbedürftig wäre. Aus diesem Grund kommt ihr Plädoyer auch ohne Rückgriff auf objektive Werte und moralische Normen aus.

Angesichts dieser Sachlage sollten Libertäre ihre politischen Debattenbeiträge in einem neuen Licht sehen. Denn für die Freiheit einzutreten, folgt einer gänzlich anderen Logik, als sich für ihr Gegenteil, den Zwang, stark zu machen: Libertäre argumentieren für die Freiheit, indem sie die Subjektivität und damit die Untauglichkeit aller Legitimierungsversuche von ungebilligtem Zwang aufdecken. Ihre Argumente sind negativ: Sie weisen nach, dass der Schluss des Gegenspielers auf die Zulässigkeit oder Gebotenheit von ungebilligtem Zwang nicht tragfähig ist. Wären sie positiv, strebten sie also ebenfalls einen Zulässigkeits- oder Gebotenheitsnachweis (nämlich zugunsten der Freiheit) an, so hätten sie ähnliche und ähnlich unbehebbare Schwächen wie die Pro-Zwangs-Argumente der Freiheitsfeinde.

Der wohlverstandene Libertarismus ist demnach in der komfortablen Situation, dem Sein-Sollen-Problem gar nicht ausgeliefert zu sein: Denn er selbst nimmt keinen Schluss auf ein Sollen vor (nämlich auf die Gesolltheit von Freiheit), sondern er weist lediglich die gegnerischen Schlüsse (zugunsten von ungebilligtem Zwang) zurück. Somit wird nicht dem Freund der Freiheit die logische Klippe des Übergangs vom Is zum Ought zum Verhängnis, sondern dem Feind der Freiheit.

Die vorstehenden Klärungen lassen ins Auge springen, dass Libertäre, die für die Freiheit wert- oder normbasiert eintreten, etwas ganz und gar Überflüssiges tun. Schlimmer noch, sie erteilen dadurch den Feinden der Freiheit die Lizenz, es ihnen gleich zu tun, und rüsten sie so mit einer Waffe aus, die sie de facto unbesiegbar macht. Denn in der diskursiven Praxis des politischen Diskurses wird sich ein Fairness und Menschenwürde ins Feld führender Umverteilungsverfechter durch den Verweis auf Freiheit und Eigentum schwerlich beeindrucken lassen, und ein Kräftemessen zwischen Etatisten und Libertären bezüglich der Frage, wie der Wert der Gerechtigkeit adäquat zu interpretieren sei, scheint mir im günstigsten Fall eine intelligente Art der Zeitverschwendung zu sein.

Da Libertäre in politischen Debatten typischerweise für den Verzicht auf (ohne Zustimmung ausgeübten) staatlichen Zwang plädieren, treten sie für nichts ein, das legitimierungsbedürftig wäre.

Freiheit — ein Wert?

Ich kann und will niemanden davon abhalten, Freiheit für einen Wert zu halten. Ich hoffe aber verdeutlicht zu haben, dass die evaluativ oder normativ begründete Hochschätzung der Freiheit der Anbetung eines Gottes gleicht, an den die Feinde der Freiheit nicht glauben, nicht glauben müssen und vermutlich niemals glauben werden. Und es gibt kaum eine schlechtere Grundlage, um andere argumentativ zu erreichen und zu überzeugen, als auf eine Prämisse zu bauen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht geteilt wird.

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Dieser Beitrag ist zuerst am 14.08.2024 bei „Der Sandwirt“ erschienen. Wir bedanken uns für die Gestattung der Wiederveröffentlichung!

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Rolf W. Puster war von 2003 bis 2022 Professor der Philosophie an der Universität Hamburg. Dort hat er zusammen mit seinem Kollegen Dr. Michael Oliva Córdoba das „Theory of Freedom Research Project“ gegründet, auf dessen Agenda eine neuartige, nämlich philosophische Erschließung des Werks von Ludwig von Mises einen herausragenden Platz einnimmt.

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