Wer ist hier der wahre Egoist?

11. Dezember 2023 – von Olivier Kessler

Olivier Kessler

Wann immer sich jemand für liberale Reformen stark macht und für weniger Zwangsumverteilung eintritt, so wird ihm rasch und laut entgegengeschleudert, er sei ein Egoist und würde sich «auf Kosten der Schwachen» bereichern wollen. Die «Egoismus»-Beschuldigung erweist sich als sehr effektiv, um jemanden zu diskreditieren, weil man bei einem «Egoisten» gemeinhin an einen kaltherzigen, rücksichtslosen und asozialen Menschen denkt, der ausschliesslich sein eigenes Wohl im Sinn hat. Ganz gewiss ist ein «Egoist» nicht am Wohl seiner Mitmenschen interessiert. Er ist daher das Gegenteil von «sozial».

Doch der Vorwurf lässt Entscheidendes ausser Acht. Erstens geht es denjenigen, die für liberale Reformen eintreten, nicht darum, andere zu schädigen oder zu schwächen. Vielmehr möchten sie erreichen, dass individuelle Abwehrrechte nicht nur für sich selbst, sondern für alle Menschen gleichermassen gestärkt wird, weil man der Überzeugung ist, dass dies ethisch geboten oder zu besseren Ergebnissen führt. Und die Empirie gibt ihnen recht, z.B. der Index wirtschaftlicher Freiheit, der Jahr für Jahr zum Schluss kommt, dass eine grössere wirtschaftliche Freiheit zu höheren Pro-Kopf-Einkommen für alle führt.

Wer für liberale Reformen eintritt, tut dies also nicht nur für sich selbst. Er tut auch allen anderen Menschen etwas Gutes – insbesondere «den Schwachen». Man könnte also mit Fug und Recht argumentieren, dass liberalen Reformern ein altruistisches Element anhaftet.

Paradox ist auch, dass im heutigen etatistischen Meinungsklima jeder als «Egoist» gebrandmarkt wird, der selbst über sein hart erarbeitetes Geld verfügen möchte, anstatt es sich vom Wohlfahrtsstaat wegnehmen zu lassen. Wer es jedoch auf das Geld der anderen abgesehen hat, ist natürlich kein Egoist, sondern kann sich damit brüsten, auf der Seite der «Gerechten» zu stehen.

Der Begriff des «Egoismus» ist heute sehr negativ geprägt. Dabei ist allerdings oftmals unklar, was damit eigentlich gemeint ist. Denn wie obiges Beispiel gezeigt hat, ist mitnichten immer ein «Egoist», wer auch als solcher bezeichnet wird. Vielmehr dient der Begriff dazu, jemanden moralisch als minderwertig dastehen zu lassen, obwohl der Beschuldigte oftmals gar keinen Anlass dazu liefert.

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Freiheit gibt es nicht umsonst. Sie muss immer wieder neu errungen und bewahrt werden

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Es stellt sich die Frage, wie man den Begriff «Egoismus» sinnvollerweise verwenden kann, damit nicht alle irgendetwas anderes darunter verstehen und er nicht beliebig wird.

Die Schriftstellerin Ayn Rand vertritt in ihrem Buch Die Tugend des Egoismus die Auffassung, dass Egoismus per definitionem lediglich die Verfolgung eigener Interessen bedeute, woran nichts auszusetzen sei, solange diese Interessenverfolgung nach dem Nicht-Aggressions-Prinzip geschehe (solange man also gegen andere keine Gewalt initiiere). Vielmehr sei ein so verstandener Egoismus notwendig für das eigene Überleben: Wer seine eigenen Interessen nicht verfolge, wer also z.B. nicht genügend Güter erwirtschafte oder produziere, um seinen eigenen Konsumbedarf zu stillen, der sei schlichtweg der Gnade anderer oder dem Tod ausgeliefert, was keine nachhaltige Lebensweise sei.

Auch wenn diese Egoismus-Definition einleuchten mag, so erscheint es doch als hoffnungsloses Unterfangen, den im heutigen Altruismus-Zeitgeist stark negativ geprägten Begriff nun in einen positiven umzudeuten. Den Leuten zu erklären, Egoismus sei wichtig und gut, führt in den meisten Fällen zu starkem Widerstand und Widerspruch. Es wird z.B. entgegnet, dass dies gar nicht gemeint sei mit dem gemeinhin verwendeten Egoismus-Begriff. Vielmehr ginge es darum, dass jemand nur auf sich schaue, dabei rücksichtslos vorgehe und so anderen schade.

Daher kann es sinnvoll sein, die negative Konnotation des Begriffs gar nicht zu bestreiten oder in etwas Positives umkehren zu wollen. Vielmehr kann man auf den negativen Assoziationen aufbauen und die Frage stellen, wer denn genau sich nun rücksichtslos um sich selbst kümmere und dabei anderen schade, wer also tatsächlich egoistisch unterwegs sei und getadelt werden sollte.

Ist der Liberale wirklich ein Egoist, nur weil er verlangt, dass gegen ihn keine Gewalt angewendet werden soll, wenn er selbst keine Gewalt initiiert, und dass niemand ihm sein Eigentum streitig machen dürfe? An dieser Forderung ist zumindest nichts «Rücksichtsloses» zu erkennen. Ganz im Gegenteil. Er verlangt von seinen Mitmenschen kein aktives Tun, sondern lediglich jene Zurückhaltung, die für eine friedliche und prosperierende Gesellschaft nötig ist. Er verlangt Rücksicht und friedliches Handeln.

Rücksichtslos und schädigend verhalten sich nicht jene, die verlangen, dass das rechtmässige Eigentum geschützt werden müsse, sondern jene, welche Angriffe auf ihre Mitbürger gutheissen oder initiieren. Wer also illiberalen Parteien seine Stimme gibt oder in Volksabstimmungen gutheisst, dass seinen Mitbürgern ihre Besitztümer abgenommen werden, der ist – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Egoist.

Wer anderen Güter oder Leistungen anbietet, deren Finanzierung diese nicht ablehnen können, sondern ihnen ein Übel androht für den Fall, dass sie diese ablehnen, fügt anderen einen Schaden zu und verhält sich rücksichtslos. Er bezieht die Interessen seiner Mitmenschen nicht in die eigenen Handlungen mit ein, sondern verfolgt aggressiv und rücksichtslos seine eigenen Interessen und verletzt damit die Interessen anderer. Wer sich so verhält oder wer diese unethischen Handlungen aktiv befürwortet oder durch konkludentes Handeln implizit gutheisst, ist durch und durch ein Egoist.

Wenn also – um ein Beispiel zu nennen – bestimmte Gruppen den Staat auffordern, unter Androhung oder Anwendung von Busse und Haft für auserwählte Medien Zwangsgebühren einzutreiben, sind sie unmoralisch handelnde Egoisten. Journalisten, die für ein solches zwangsfinanziertes Medium arbeiten, heissen das egoistische Gebaren durch konkludentes Handeln mindestens implizit gut (sie beziehen ihren Lohn aus einem Geldtopf, der sich aus Zwangsabgaben speist) und können daher ebenfalls mit Fug und Recht zur Gattung der Egoisten gezählt werden.

Egoistisch ist es auch, wenn jemand auf Kosten der Gesellschaft lebt und selbst keinen Beitrag zum Wohle anderer leistet (völlige Arbeitsunfähigkeit ohne eigenes Verschulden sei hier selbstverständlich ausgeklammert). So schreibt etwa der Bestsellerautor Robert Greene: «Tatsächlich ist es der Gipfel des Egoismus, nur zu konsumieren, was andere schaffen und sich selbst in das Schneckenhaus begrenzter Ziele und sofortiger Vergnügen zurückzuziehen.» Wer mehr konsumiert als er selbst produziert – oder in anderen Worten: wer mehr Werte vernichtet, als er selbst schafft – der schadet seinen Mitmenschen.

Er verhält sich rücksichtslos, weil er sich zu sehr der Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse widmet und zu wenig der Befriedigung der Bedürfnisse seiner Mitmenschen. Es ist folglich ironisch, wenn Staatsangestellte, Sozialhilfebezüger oder Funktionäre (die auf Kosten anderer leben – nämlich auf Kosten der Steuerzahler) rechtschaffenen Unternehmern, die im freien Markt nachweislich Werte geschaffen haben, Egoismus unterstellen, wenn diese sich z.B. ein ihnen zustehendes Gehalt auszahlen. Man sollte ihre Verwirrtheit argumentativ postwendend auflösen und die rhetorische Frage nach dem wahren Egoisten aufwerfen.

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Olivier Kessler ist Ökonom, Publizist und Direktor des Liberalen Instituts in Zürich. Zuvor war er für mehrere Public Affairs- und Medienunternehmen tätig. Kessler hat an der Universität St. Gallen International Affairs & Governance studiert. Er ist Mitglied der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft und der Jury zur Vergabe der Roland Baader Auszeichnung. Er leitete als Präsident des Vereins zur Abschaffung der Medienzwangsgebühren die Kampagne der liberalen No-Billag-Initiative in der Schweiz. Er veröffentlichte Beiträge unter anderem in der Neuen Zürcher Zeitung, Finanz und Wirtschaft, Weltwoche, Basler Zeitung, im TagesAnzeiger, Nebelspalter, in CH-Media-Publikationen, auf Finews und im Schweizer Monat.

Seine letzten Buchveröentlichungen: 64 irreführende Politikbegrie (2023), Wissenschaft und Politik: Zuverlässige oder unheilige Allianz? (2022), Verlockung der Macht: Die Kunst, die oene Gesellschaft zu verteidigen (2022), Liberalismus 2.0: Wie neue Technologien der Freiheit Auftrieb verleihen (2021).

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.

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