Gefällt es den Sozialisten nicht, dass die Masse der Menschen im Kapitalismus wohlhabender wird?

Hundert Jahre „Die Gemeinwirtschaft“ von Ludwig von Mises

Teil 9

Antony P. Mueller

17. März 2023 – von Antony P. Mueller

Dies ist der neunte Teil der Artikelreihe zu Ludwig von Mises‘ Buch „Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus“. In dieser und den nachfolgenden Artikeln folgen wir der zweiten umgearbeiteten Auflage von 1932.

Karl Marx behauptet mit seinem Entwicklungsgesetz des Kapitalismus, dass die Armen immer zahlreicher und ärmer und die Reichen immer reicher werden, aber ihre Anzahl immer geringer wird. Mit dieser These verkennen die Marxisten völlig das Wesen des Reichtums im Kapitalismus.

Reichtum

Um sich mehr Reichtum anzueignen, gibt es zwei Methoden. Den tauschwirtschaftlichen Verkehr und die militaristische Gewaltordnung. In der Zeit vor dem modernen Kapitalismus sind die Vermögen aus militärischen und politischen Bestrebungen hervorgegangen. Dabei gilt, dass die durch Gewalt begründeten Vermögen sich stets auch nur durch Gewalt aufrechterhalten konnten.

Die These, dass auch im Kapitalismus die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer würden, leidet unter dem Fehlurteil, dass sich im Kapitalismus die Gruppe der Reichen immer wieder aus anderen Menschen zusammensetzt und es sich beim Gesamtreichtum um einen festen Betrag handele. Für die Gegner des Kapitalismus ist die Wirtschaft ein Nullsummenspiel. Sie glauben, dass dann, wenn die Reichen reicher werden, dies auf Kosten der Armen ginge. Deshalb müsse man, um die Armen weniger arm zu machen, den Reichen einen Teil ihres Reichtums abnehmen oder sie am besten gleich ganz enteignen.

Im Kapitalismus ist die Summe des Reichtums aber keine eine vorgegebene Größe. In der auf Sondereigentum beruhenden arbeitsteiligen Marktwirtschaft bedingt der Reichtum eines Individuums nicht die Armut der anderen, im Gegenteil, freiwilliger Austausch ist stets für alle Parteien gewinnbringend und führt notwendig zu Win-win-Situationen, sogenannten Pareto-Optima.

Schon die ersten Nachfolger von Marx mussten erkennen, dass das prognostizierte Massenelend der Arbeiterschaft nicht eintrat, und sie fingen entsprechend an, von der „relativen“ Armut im Unterschied zur „absoluten“ zu sprechen. Als auch diese These von der kapitalistischen Entwicklung widerlegt wurde, haben die Neomarxisten sich von der These der materiellen Verelendung der Massen abgewendet und abstruse psychologisierende Pseudo-Verelendungstheorien entwickelt.

Trotzdem werden immer wieder Versuche unternommen, die These, dass die Reichen immer reicher werden, statistisch nachzuweisen. Wie Mises betont (S. 358), stehen aber derartige Untersuchung vor unüberwindbaren Hindernissen bei der Datenerfassung und deren richtiger Analyse. Nicht nur sind die Grundzahlen unvollständig, sie sind auch, soweit sie vorliegen, äußerst unzuverlässig und lassen sehr unterschiedliche Deutungen zu.

Das Problem solcher Berechnungen der Einkommens- und Vermögensverteilung besteht darin, dass sie nur in einer statischen Wirtschaft korrekt erfolgen kann. Im Kapitalismus aber gibt es keinen Stillstand. Weder die Einkommen noch die Vermögen sind konstant. Man denke nur an den Aktien- und Immobilienmarkt und sieht, dass sich die sogenannte Vermögensverteilung – sowohl für Individuen als auch für Gruppen – in kurzer Zeit drastisch ändern kann.

Die Geschichte der gesellschaftlichen Unternehmensformen widerspricht der marxistischen Lehre von der Konzentration des Kapitals. Aus einer Kapitalkonzentration folgt keine Vermögenskonzentration. Mit dem Kauf von Aktien kann jeder sich auch mit kleinen Beträgen an großen Unternehmen beteiligen. So geschieht es auch zunehmend.

Wagniskapital

Es lässt sich nachweisen, dass unter marktwirtschaftlichen Bedingungen gebildeter Reichtum selten über Generationen erhalten bleibt. Vielmehr treten immer wieder Neureiche in Erscheinung, die die Spitzenplätze in den zusammengestellten Reichenlisten eine Zeitlang anführen. Vor hundert Jahren schon konnte Mises beobachten:

Die bürgerlichen Geschlechter steigen aus der Tiefe plötzlich zu Reichtum auf, mitunter so rasch, dass wenige Jahre genügen, um aus einem armen, mit der Not kämpfenden Menschen einen der reichsten seiner Zeit zu machen. (S. 348)

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Dieses Phänomen des raschen Reichtums im marktwirtschaftlichen Wettbewerb gehört wesentlich zum Kapitalismus. Es handelt sich dabei um keine Nebenerscheinung, sondern dieses Phänomen ist begründet im kapitalistischen Unternehmertum. Während in den Medien der Aufstieg der Neureichen viel Beachtung findet und zum Schüren von Neid benutzt wird, findet der gegenteilige Umstand des Vermögensverfalls, der sich weniger spektakulär vollzieht, kaum Beachtung.

Es herrscht weithin die falsche Vorstellung, Finanzkapital stelle eine ewig fließende Rentenquelle dar. Diese naive Wirtschaftsphilosophie macht glauben, es sei das Geld an sich, das die Erträge schafft. Man glaubt, dass die bloße Tatsache, dass man anspart oder in Finanztitel „investiert“, an sich schon die später erwarteten Erträge garantieren würden. Aber dass das Finanzkapital Ertrag abwirft, dass es überhaupt erhalten bleibt, ist nicht selbstverständlich.

Erträge erwachsen aus der Produktion. Die Kapitalgüter, aus denen sich das Sachkapital konkret zusammensetzt, gehen in der Produktion unter, sie werden verbraucht oder nutzen sich über die Zeit ab. Alle wirtschaftliche Betriebsamkeit dient letzten Endes dem Verbrauch und verschwindet so im Konsum. Deshalb müssen die Kapitalgüter, mit denen die Konsumgüter produziert werden, immer wieder erneut hergestellt werden. Das aber bedeutet, dass nicht nur immer neu produziert werden muss, sondern dass diese Produktion notwendigerweise auch wirtschaftlich, das heißt gewinnbringend verlaufen muss. Wirtschaftlich erfolgreiche Produktion heißt, dass durch die Herstellung mehr an Wert erzeugt wird, als in sie hineingesteckt wurde.

Kapitalertrag und Kapitalerhaltung sind stets das Ergebnis einer glücklich verlaufenen Spekulation. Schlägt sie fehl, dann bleibt nicht nur der Kapitalertrag aus, auch die Kapitalsubstanz wird mit hergenommen. (S. 348)

Kapital muss im Herstellungsprozess immer wieder neu geschaffen werden. Die einzelnen Kapitalgüter, die im Produktionsprozess genutzt werden, haben ein zeitlich beschränktes Dasein. Kapitalvermögen zu besitzen, bedeutet, dass man es täglich immer wieder neu erwerben muss.

Kapitalvermögen ist keine Quelle von Rentenbezug, die auf die Dauer in Trägheit genossen werden kann. (S. 349)

Jede Kapitalinvestition ist mit dem Risiko des totalen oder teilweisen Verlustes der Kapitalsubstanz verbunden. Das gilt nicht nur von der unternehmerischen Investition, sondern auch für Finanzinvestitionen der Kapitalisten oder der Kreditgeber. Der Erfolg jeder Investition hängt von der Tüchtigkeit und dem Geschick des Unternehmers ab. Mit der unternehmerischen Leistung gewinnt oder verliert nicht nur der Unternehmer selbst, sondern auch die mit dem Geschäft verbundenen Anleger und Kreditgeber.

Es gibt so wenig eine ewige Kapitalanlage wie es eine sichere gibt. Jede Kapitalanlage ist ein spekulatives Wagnis, dessen Erfolg im Vorhinein nicht mit Bestimmtheit abzusehen ist … Im kapitalistischen Unternehmen gibt es kein sicheres Einkommen und keine Sicherheit des Vermögens. (S. 349 f.)

Kapital kann nicht von selbst wachsen. Zu seinem bloßen Erhalt schon, geschweige denn zu seiner Vermehrung ist immer wieder eine erneute erfolgreiche Spekulation nötig, so dass von einer gleichsam automatischen Tendenz des Vermögens, immerzu anzuwachsen, nicht die Rede sein kann. „Vermögen können überhaupt nicht wachsen, sie werden gemehrt.“ (S. 350) Und dazu ist stets erfolgreiche Unternehmertätigkeit nötig.

Nur solange die Wirkungen einer erfolgreichen Investitionstätigkeit anhalten, wird das Kapital reproduziert und bringt Erträge. Je schneller sich die Bedingungen der Wirtschaft ändern, desto kürzer ist die Dauer der Ertragsperiode. Um immer wieder neue Anlagen zu erstellen und die bestehenden Produktionseinrichtungen umzustellen und auf die neuen Umstände auszurichten, bedarf es besonders befähigter Menschen. Nur wenige sind zum Unternehmertum in der Lage. Manchmal vererben sich die Fähigkeiten und den Nachkommen gelingt es, das von ihren Vorfahren überkommene Vermögen zu erhalten, vielleicht sogar zu mehren. Aber in der Regel werden die Nachkommen nicht den Anforderungen gewachsen sein, die das Leben an einen Unternehmer stellt. Dann wird der ererbte Wohlstand schnell schwinden.

Im Kapitalismus lässt sich dauerhaft kein Vermögen immer weiter vermehren. Es wird immer wieder Reiche und Superreiche geben, aber es sind immer wieder andere Menschen und andere Familien. Man kann bestenfalls versuchen, einigermaßen das Vermögen zu erhalten. Aber dann ist man nicht mehr Teil der kapitalistischen Wirtschaft. Man weicht auf den Grundbesitz aus.

Verelendung

Marx spricht von einer absoluten Verelendung der Massen. Sie verlaufe parallel zur Akkumulation des Kapitals und sei gleichsam ihr Gegenstück. Nach der marxistischen Theorie hat die kapitalistische Produktion einen ,,antagonistische Charakter“ – der Akkumulation von Reichtum stehe die Anhäufung von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degeneration gegenüber. Aber schon die unmittelbaren Nachfolger von Marx mussten bei dieser Behauptung zurückrudern. Der Revisionismus der Neo-Marxisten behauptet nicht mehr die absolute Verelendung, obwohl diese These in der kommunistischen Propaganda immer wieder verwendet wird.

Weil die Neo-Marxisten und Sozialisten das Konzept der „relativen Verelendung“ jedoch nicht mehr überzeugend darlegen konnten, kam die Idee der „absoluten Gerechtigkeit“ ins Spiel. Demnach geht es nicht mehr darum, dass sich die Lage der Benachteiligten verbessert, sondern dass man absolute Gleichheit herstellen müsste. Die moderne Gerechtigkeitsbewegung (social justice movement) stellt damit eine Forderung auf, die niemals und nirgendwo zu erfüllen ist. Der existierende Kapitalismus steht so unter einer beständigen Anklage. Schon bei Karl Kautsky („Bernstein und das Sozialdemokratische Programm“ 1899) klingt diese ewige Anklage an, wenn er vom „sozialen Elend“ spricht, dass die Nichtbefriedigung der „sozialen Bedürfnisse“ soziales Elend hervorruft.

Mit dem Konzept der „sozialen Verelendung“ beginnt eine neue Etappe des Marxismus, die in der Frankfurter Schule ihren bisherigen Höhepunkt hat. Politisch ist es der Versuch, dem Ressentiment der Massen eine anti-kapitalistischen Grundlage zu verleihen.  „Soziale Gerechtigkeit“ ist der Schlachtruf der neuen Sozialisten, die sich „demokratische Sozialisten“ nennen.

Die sogenannten „Demokratischen Sozialisten“ von heute behaupten, Gleichheit und Wohlstand für alle würde man durch staatlichen Interventionismus und Vergesellschaftung der Industrie erreichen. Viele Menschen lassen sich täuschen, weil sie nicht zwischen Sozialismus als Ziel und Sozialismus als Mittel unterscheiden. Es wird der Glaube verbreitet, dass man den Sozialismus als Wirtschaftssystem installieren muss, um das sozialistische Ideal von Gleichheit und Wohlstand für alle zu erreichen. Aber dieser Glaube ignoriert alle historischen Beweise. Die Aufhebung des Sondereigentums an Produktionsmittel führt zum Gegenteil des erwarteten Wohlstands. Statt eines besseren Lebens ist systemische Misere die Folge.

Schlussbetrachtung

Entgegen jeder vernünftigen Erwartung hat die Analyse von Mises nichts an Aktualität verloren. Im Gegenteil: Gerade in jüngster Zeit melden sich die Anti-Kapitalisten wieder lautstark zu Wort und können mit größter Aufmerksamkeit und Wohlwollen der Medien rechnen. Nachdem die marxistische Prognose über die Verelendung der Massen im Kapitalismus sich nicht bewahrheitet hat, muss man die Verminderung des Wohlstandes der Massen eben top-down im Ökosozialismus organisieren. Den Kapitalismus beschuldigt man nunmehr als den Zerstörer der Umwelt, gerade weil er den Wohlstand der Massen hebt, woraus folgt, dass man den Kapitalismus abschaffen muss, um die Umwelt zu schützen und – noch extremer – „das Klima zu retten“.

Nachdem die marxistische Prognose über die Verelendung der Massen im Kapitalismus sich nicht bewahrheitet hat, muss man die Verminderung des Wohlstandes der Massen eben top-down im Ökosozialismus organisieren.

Genauso wie die Prognose der Verarmung der Massen im Kapitalismus nicht eingetreten ist, wird sich auch die ökologisch-sozialistische Variante des Anti-Kapitalismus als Unsinn erweisen. Das Gegenteil ist nämlich richtig: Kapitalismus überwindet nicht nur die Armut, sondern mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung wird man auch imstande sein, mit dem Klimaproblem – in welcher Form es sich auch immer stellen mag – besser zurechtzukommen und ebenso mit allen anderen etwa dräuenden Naturveränderungen und -katastrophen, als man dies mit staatlichen Zwangsmaßnahmen könnte. Diese Tatsache ändert aber nichts daran, dass die ökologischen Anti-Kapitalisten, soweit sie politische Macht erringen können, enormen Schaden anrichten. Die zentralwirtschaftlichen Verordnungen zur „Klimarettung“ bewirken das Gegenteil des von der Masse der Menschen Erwünschten. Sie schwächen die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft und damit auch die Quelle des Wohlstandes, mit der man die Herausforderungen der Zukunft – worin sie immer auch bestehen mögen – am besten bewältigen kann.

Diese Tatsache ändert aber nichts daran, dass die ökologischen Anti-Kapitalisten, soweit sie politische Macht erringen können, enormen Schaden anrichten.

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Dies war der neunte Teil der Artikelreihe zu Ludwig von Mises‘ Buch „Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus“. Den achten Teil finden Sie hier.

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Dr. Antony P. Mueller ist habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg und Professor der Volkswirtschaftslehre an der brasilianischen Bundesuniversität UFS (www.ufs.br). Vor kurzem erschien sein Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie: Chancen einer Gesellschaftsordnung jenseits von Staat und Politik“ . Kontakt: antonymueller@gmail.com

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.

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