Die materialistische Geschichtsauffassung als Methode der „erkenntnistheoretischen Kriegsführung“ gegen das eigene Denken im Ringen um die Meinungshoheit

Hundert Jahre „Die Gemeinwirtschaft“ von Ludwig von Mises

Teil 8

Antony P. Mueller

3. März 2023 – von Antony P. Mueller

Dies ist der achte Teil der Artikelreihe zu Ludwig von Mises‘ Buch „Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus“. In dieser und den nachfolgenden Artikeln folgen wir der zweiten umgearbeiteten Auflage von 1932.

Nicht Karl Marx, sondern bereits Ludwig Feuerbach (1804-1872) hat den philosophischen Idealismus von Hegel „auf die Beine gestellt“, und verkündet, dass das Denken aus dem Sein entstanden ist und nicht das Sein aus dem Denken.

Materialismus

Als „Materialist“ ist Karl Marx ganz ein Kind seiner Zeit. Für ihn ist auch alles Geistige „materieller Natur“. „Materiell“ und „materialistisch“ waren die philosophischen Modewörter in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die Marx kritiklos aufgriff, um seine eigene „materialistische“ Geschichtsphilosophie zu erbauen.

Indem Karl Marx die „materialistische“ Methode zur einzig gültigen wissenschaftlichen Methode erklärt, schwimmt er ganz im Zeitgeist, wenn er davon ausgeht, dass sich mit dem Verweis auf das Körperliche alle geistigen und sozialen Probleme erklären ließen.

Die Materialistische Geschichtsauffassung verweist auch die Ökonomie in den Bereich des Materiellen. Bei Marx ist Wirtschaft der „materielle Unterbau“ des geistigen und sozialen Lebens. Mit diesem Ansatz verfehlt Marx, das Wesen der Wirtschaft als einen Bereich des rationalen Handelns zu erfassen. Marx verkennt, dass die „Wirtschaft als rationales Handeln … vom Denken, nicht das Denken von der Wirtschaft abhängig [ist].“ (S. 329)

Nach der materialistischen Geschichtsauffassung von Karl Marx ist das menschliche Denken aus den Produktionsverhältnissen heraus zu erklären. Es gibt kein eigenständiges Geistesleben, sondern dieses ist stets Reflex der jeweils herrschenden Verhältnisse im Bereich der Produktion des physischen Lebensunterhalts. Sowohl die Philosophie und Wissenschaften als auch Gesellschaft, Politik und Recht kennen gemäß der materialistischen Geschichtsauffassung keine eigenständige Entwicklung. Diese findet nur im Bereich der ökonomischen Produktionsverhältnisse statt. Gemäß dieser materialistischen Gesellschaftsauffassung stellen sie unabhängige Tatsachen dar und sind in diesem Sinn vom menschlichen Denken unabhängig. Für Marx determiniert die jeweils vorherrschende Technologie die Produktionsverhältnisse.

Nach der materialistischen Geschichtsauffassung von Karl Marx ist das menschliche Denken aus den Produktionsverhältnissen heraus zu erklären. Es gibt kein eigenständiges Geistesleben …

Rolle der Produktionsverhältnisse

In seiner Schrift „Das Elend der Philosophie“ schreibt Marx:

Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten. (Karl Marx: Das Elend der Philosophie, geschrieben 1846-47, erstmals veröffentlicht 1885)

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung beruht nach Marx auf der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte. Die Arbeitsmittel der jeweiligen Produktionsstufe bestimmen die Gesellschaftsordnung. In „Das Kapital“ schreibt Karl Marx:

Die Technologie enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozess seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen. (Karl Marx, Das Kapital, 1867, MEW Bd. 23 S. 393)

Die jeweiligen Produktionsverhältnisse bestimmen gemäß der materialistischen Geschichtsphilosophie die Klasseninteressen. In diesem Sinn ist auch die Nationalökonomie eine klassenbedingte Lehre und Marx unterscheidet dementsprechend zwischen einer „bürgerlichen“ und einer „proletarischen“ Volkswirtschaftslehre. Allerdings ist diese Auffassung schon deshalb abwegig, weil die ökonomische Theorie von Karl Marx selbst fast vollständig auf der Preis- und Werttheorie der klassischen („bürgerlichen“) Wirtschaftstheorie aufbaut. (S. 328)

Marx präsentiert mit seiner materialistischen Geschichtsauffassung eine sehr einfache Theorie, die vielleicht gerade deshalb so populär geworden ist. Seine These, dass der „Unterbau“ den „Überbau“ bestimme, ist in ihrer Primitivität kaum zu überbieten. Dabei gelang es den Nachfolgern von Marx, für den politischen Kampf diese These noch weiter zu simplifizieren und noch mehr zu vulgarisieren. Für die Marxisten ist Wissenschaft und marxistischer Sozialismus ein und dasselbe. Für die Anhänger des Marxismus reduziert sich „Wissenschaft“ auf die Exegese der Worte von Marx und Engels. Um etwas zu „beweisen“, zieht man ein bestimmtes Zitat des Lehrmeisters heran und seine sophistische Auslegung ersetzt das vernünftige Argument. Bei dem ganzen Theater wird ein wahrer Kult um das Proletariat (bzw. heute um die sogenannten „Randgruppen“ aller Art) getrieben. Weder damals noch heute gibt es im Marxismus einen Raum für eigenständiges Denken. Die „demagogische Liebdienerei“ (S. 330) der sozialistischen Parteien preist den Proletarier als ein Wesen, das durch alle Vorzüge des Geistes und des Charakters ausgezeichnet ist. Von den marxistischen Demagogen wird dabei von vornherein vorausgesetzt, eine sozialistische Wirtschaftsordnung läge im Interesse der Industriearbeiter bzw. sogenannter „Unterprivilegierter“.

Die materialistische Geschichtsauffassung ist zirkulär. Der Sozialismus wird kommen, weil sein Kommen vorherbestimmt isst. Da das Denken durch das Sein bestimmt ist, folgt aus diesem Zustand notwendigerweise ein anderer Zustand, nämlich der Sozialismus.

Ein bestimmter Zustand muss kommen, weil die Entwicklung dahin führt; die Entwicklung führt hin, weil das Denken es verlangt; das Denken aber ist durch das Sein bestimmt. Dieses Sein aber kann doch wohl kein anderes sein als das des schon vorhandenen Zustandes. Aus dem durch den bestehenden Zustand bestimmten Denken folgt die Notwendigkeit eines anderen Zustandes. (S. 334/5)

Kapitalkonzentration

Die Unentrinnbarkeit der Entwicklung zum Sozialismus versucht Marx mit dem Nachweis der fortschreitenden Konzentration des Kapitals zu erbringen.

Marx stellt die These auf, dass die kapitalistische Produktionsweise dazu führe, dass sich das produktive Kapital in immer weniger Händen konzentrieren wird. Diese Kapitalkonzentration rücke unaufhaltsam voran, sodass das Heer der Proletarier wächst, während die Anzahl der Kapitalisten schrumpft. Der Prozess der Konzentration steuert auf einem Zustand zu, wo es nur noch ein einziges Riesenunternehmen gibt. Dieses kann dann von den Proletariern einfach übernommen, „expropriiert“, werden. Der Gewinnanteil fällt dann den Arbeitern zu. Es kommt zur „Gleichverteilung“ des wirtschaftlichen Reichtums.

Mit der marxistischen Vorhersage von der zunehmenden Konzentration des Kapitals ist die Monopoltheorie eng verbunden. Die These besagt, dass die Kapitalkonzentration mit der Monopolisierung der Wirtschaft einhergehe. Zum Glaubensbekenntnis der Kommunisten gehört die These, dass sich die kapitalistische Wirtschaft auf einen einzigen Betrieb hin entwickelt.

Der russische Revolutionär Lenin, zum Beispiel, war der Ansicht, im Sowjetstaat ließe sich die gesamte Volkswirtschaft so wie ein einziges Großunternehmen führen. Dabei nahm er wie selbstverständlich an, dass die Produktivität aufgrund der Konzentration höher sei als in der vermeintlich „anarchistischen“, an Markt und Preis orientierten, dezentralen Wirtschaftsordnung. Marx folgend, glaubte Lenin, die moderne Technologie erfordere den Großbetrieb und dafür sei der Kapitalismus weniger geeignet als die sozialistische Planwirtschaft.

Zumindest noch bis zu Beginn der „Neuen ökonomischen Politik“ ab 1921 war Lenin der Ansicht, dass der Aufbau einer vollständig zentralisierten Wirtschaft einfach zu bewerkstelligen sei. Lenin sah in der deutschen Kriegswirtschaft des Ersten Weltkrieges das Modell für die kommunistische Wirtschaft. In der Pariser Kommune von 1871 glaubte er, das Vorbild für das politische System gefunden zu haben.

Mises führt dazu aus, dass die Ausweitung einzelner Betriebsstätten, also das Entstehen von Fabriken, mit der Arbeitsteilung zusammenhängt, da gleichartige Arbeitsprozesse umso mehr zusammengezogen werden müssen, je weiter die Arbeitszerlegung geht. (S. 337) Mit der höheren Produktivität des arbeitsteiligen Produzierens ergibt sich die Spezialisierung, die auch auf die Produktionsmittel übergreift. Arbeitsteilung bringt nicht nur die Spezialisierung der Arbeitskraft mit sich, sondern auch die des Sachkapitals. Betrieb in diesem Sinn ist also ein wirtschaftlicher und kein technischer Begriff.

Die passend Betriebsgröße ergibt sich aus dem Prozess der arbeitsteiligen Produktionsweise. Zwei Kräfte kommen dabei zur Geltung. Neben der höheren Produktivität arbeitsteiligen Wirtschaftens in einem größeren Verband kommt auch das Gesetz der abnehmenden Grenzertrage zur Geltung.

Über die Betriebsgröße entscheidet die Komplementarität der Produktionsfaktoren. Es wird die optimale Verbindung der Produktionsfaktoren angestrebt, das ist jene, bei der das Höchstmaß von Ertrag herausgewirtschaftet werden kann. Die wirtschaftliche Entwicklung treibt zu immer weitergehender Arbeitszerlegung und damit zur Erweiterung der Betriebsgröße bei gleichzeitiger Einschränkung des Betriebsumfanges. (S. 338)

Abgesehen davon, dass der Begriff des „Monopols“ aufgrund des Abgrenzungsproblems nicht eindeutig gefasst werden kann, kann man aus der Existenz eines Monopols weder auf die Gewinnsituation noch auf die Preissetzung des Monopolisten schließen. Es zeigt sich vielmehr, dass der Unternehmensausweitung zum Monopol ebenso wie der Erweiterung einzelner Betriebsstätten wirtschaftliche Grenzen gesetzt sind. Die Marktwirtschaft selbst funktioniert als Monopolkontrolle.

Marx, wie viele seiner Nachfolger, unterliegen dem Irrtum, dass die Vergrößerung des industriellen Betriebes stets zu einer Kostenersparnis führe. Tatsächlich aber gibt es Grenzen, über die hinaus durch Vergrößerung des Betriebsumfanges keine bessere Ausnutzung der verwendeten Produktionsfaktoren möglich ist. Diese Gesetzmäßigkeit gilt nicht nur für die industrielle, sondern auch für die landwirtschaftliche Produktion und besonders für Dienstleistungen.

Auch bei der horizontalen und vertikalen Unternehmenskonzentration, also der Kartellbildung, ist ihre Rentabilität der entscheidende Faktor. Obwohl hier das Ziel die monopolartige Beherrschung des Marktes ist, bringen diese Zusammenschlüsse selten die erwarteten Produktivitätsvorteile. Derartige Konzentrationsbewegungen sind in der Regel ein Anzeichen, dass die sich kartellierende Industrie im Untergang begriffen ist und die „Vertrustung“ gleichsam der letzte Strohhalm ist, an die sich die betreffenden Unternehmen noch festzuhalten versuchen. Statt Übergewinne werden sie den Weg in die Verlustzone weitergehen und sich schließlich auflösen.

Mit der Vorhersage der zunehmenden Konzentration des Kapitals und der Monopolisierung der Wirtschaft hat die materialistische Geschichtsauffassung, die diese Thesen aufgestellt hat, durch die Wirklichkeit ihre schärfste Widerlegung erfahren. Die materialistische Geschichtsauffassung ist gescheitert. Weder im generellen Sinn der allgemeinen Entwicklung noch im spezifischen der Kapitalkonzentration und Monopolisierung hat Karl Marx Recht behalten.

Bei dem ganzen Theater wird ein wahrer Kult um das Proletariat (bzw. heute um die sogenannten „Randgruppen“ aller Art) getrieben. Weder damals noch heute gibt es im Marxismus einen Raum für eigenständiges Denken.

Fazit

Wir erleben derzeit eine Renaissance der materialistischen Weltauffassung und des dazugehörigen materialistischen Determinismus, also dass die Technologie die Produktionsverhältnisse bestimmt und die Produktionsverhältnisse die Klasseninteressen beziehungsweise das Denken. Obwohl immer wieder widerlegt, ist auch heute wieder oft von Zwangsläufigkeit – „Alternativlosigkeit“ – die Rede. Solche Auffassungen machen passiv, und wenn sie die Massen ergreifen, werden diese leicht zum Spielball der Machthaber. Die materialistische Geschichtsauffassung enthält die These, dass Kollektive, z. B. bestimmte „Klassen“, die Geschicke der Welt bestimmen. Solche Glaubenssätze haben die fatale Wirkung, dass sie die Macht und den Willen des Einzelnen lähmen.

Der Marxismus hat eine ganze Reihe vermeintlicher „Gesetze“ formuliert, so wie die zunehmende „Konzentration des Kapitals“, die sich bis heute in den Köpfen vieler Menschen festgesetzt haben. Die marxistischen Pseudogesetze haben die Einsicht in die marktwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge verdrängt. Man redet von allen möglichen scheinbaren Zwangläufigkeiten, aber negiert dabei das fundamentale Gesetz von Angebot und Nachfrage auf Märkten und die entscheidende Rolle von privaten Eigentumsrechten für Wohlstand und Freiheit.

Die materialistische Geschichtsauffassung enthält die These, dass Kollektive, z. B. bestimmte „Klassen“, die Geschicke der Welt bestimmen. Solche Glaubenssätze haben die fatale Wirkung, dass sie die Macht und den Willen des Einzelnen lähmen.

Dies ist der achte Teil der Artikelreihe zu Ludwig von Mises‘ Buch „Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus“. Den siebten Teil finden Sie hier.

Dr. Antony P. Mueller ist habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg und Professor der Volkswirtschaftslehre an der brasilianischen Bundesuniversität UFS (www.ufs.br). Vor kurzem erschien sein Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie: Chancen einer Gesellschaftsordnung jenseits von Staat und Politik“ . Kontakt: antonymueller@gmail.com

*****

Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.

Titel-Foto: Adobe Stock

Soziale Medien:
Kontaktieren Sie uns

We're not around right now. But you can send us an email and we'll get back to you, asap.

Nicht lesbar? Text ändern. captcha txt

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen