Wie feindselige Ideologien wie Sozialdarwinismus und Klassenkampf die Gesellschaft zerstören

Hundert Jahre „Die Gemeinwirtschaft“ von Ludwig von Mises

Teil 7

Antony P. Mueller

20. Februar 2023 – von Antony P. Mueller

Dies ist der siebte Teil der Artikelreihe zu Ludwig von Mises‘ Buch „Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus“. In dieser und den nachfolgenden Artikeln folgen wir der zweiten umgearbeiteten Auflage von 1932.

Titelfoto (Adobe Stock):  Karl-Marx-Büste in Chemnitz. Laut Wikipedia die zweitgrößte Porträtbüste der Welt. Die größte ist die Lenin-Büste in Ulan-Ude.

Auf der Grundlage, die Dynamik der Vergesellschaftung über das Prinzip der Arbeitsteilung zu bestimmen, ergibt sich für Mises die Gegenthese zum Sozialdarwinismus.

Vergesellschaftung

Mises bestimmt den Prozess der Vergesellschaftung als in zwei Richtungen verlaufend: Einmal durch die Erweiterung des Menschenkreises, also als Ausdehnung und weiterhin als Vertiefung. Durch Ausdehnung werden immer mehr Menschen in das System der Arbeitsteilung einbezogen. Bei der Vertiefung geht es um immer mehr Ziele. Im Prozess der Vergesellschaftung geht die Selbstgenügsamkeit der Individuen zurück und die Gebiete der Autarkie werden enger. Die Märkte weiten sich aus und zugleich vertiefen sie sich. An die Stelle des Kampfes tritt die Zusammenarbeit.

Vergesellschaftung ist immer Zusammenschluss zu gemeinsamem Wirken; Gesellschaft ist immer Frieden, niemals Krieg. Vernichtungskampf und Krieg sind Entgesellschaftung. (S. 285)

Als Charles Darwin (1809-1882) seine Evolutionstheorie („The Origin of Species, 1859) entwickelte, stand er unter dem Einfluss von Thomas Robert Malthus (1766-1834). Dieser hatte mit seinem Bevölkerungsgesetz („An Essay on the Principle of Population“, Erste Auflage 1798) die These aufgestellt, dass ein dauerhafter Konflikt zwischen dem Bevölkerungswachstum und dem Angebot an Nahrungsmitteln bestünde. Nach Malthus wächst die Bevölkerung in einer geometrischen Reihe (d.h. derselbe Wachstumsfaktor, bzw. exponentielles Wachstum), während die Nahrungsproduktion nur mit arithmetischer Progression (d.h. derselbe Wachstumsbetrag, lineares Wachstum) zunimmt. Gemäß diesem Modell müsste es immer wieder zu schwersten Hungerkrisen und zu zeitweiligem Bevölkerungsrückgang kommen.

Darwin übernahm die Idee des „Kampfes ums Überleben“ von Malthus und entwickelte daraus seine biologische Evolutionstheorie. Von dort kehrte der Gedanke in Form des Sozialdarwinismus wieder in die Sozialwissenschaften zurück. Dabei blieb unbeachtet, was die These ursprünglich bedeutete und wurde als „Kampf ums Überleben“ der Völker und Klassen umgedeutet.

 So entstand jenes Ungeheuer des soziologischen Darwinismus, der, in romantische Verherrlichung des Krieges und des Menschenmordes einmündend, ganz besonders dazu beigetragen hat, die liberalen Ideen in den Köpfen der Zeitgenossen zu verdrängen und damit die geistige Atmosphäre zu schaffen, aus der der Weltkrieg und die sozialen Kämpfe der Gegenwart entstehen konnten. (S. 286)

Malthus war weit entfernt davon, im Kampf ein Prinzip der gesellschaftlichen Entwicklung zu finden, und auch Darwins Begriff des „struggle for life“ bezeichnet keineswegs einen Vernichtungskampf. Dieses Missverständnis wird noch abwegiger, wenn man von der Biologie ausgehend dieses Konzept auf das gesellschaftliche Leben überträgt.

Indem die Gesellschaft als die Vereinigung von Menschen zur besseren Ausnutzung der natürlichen Daseinsbedingungen zu verstehen ist, wird der Widerstreit durch die wechselseitige Hilfe ersetzt.

Innerhalb der Gesellschaft gibt es keinen Kampf, nur Frieden. Jeder Kampf hebt für den Bereich, in dem er wirksam wird, die gesellschaftliche Gemeinschaft auf. Die Gesellschaft als Ganzes, als Organismus, steht im Kampfe ums Dasein gegen die ihr feindlichen Kräfte. Doch soweit die Vergesellschaftung — räumlich und sachlich — reicht, gibt es nur Zusammenwirken. Denn Gesellschaft ist eben nichts anderes als Zusammenwirken. (S. 287)

Das Sondereigentum an den Produktionsmitteln ist das regulierende Prinzip, das innerhalb der Gesellschaft den Ausgleich trifft. Es besteht so ein Bindeglied zwischen der Beschränktheit der der Gesellschaft zur Verfügung stehenden Unterhaltsmittel auf der einen Seite und der weniger beschränkten Vermehrungsfähigkeit der Nahrungsmittelverbraucher auf der anderen Seite. In diesem Sinne kann es in der Gesellschaft keinen „Kampf ums Dasein“ geben. (S. 288)

Gesellschaftlicher Wettbewerb

Der Darwinismus hat die Theorien entstehen lassen, die den Kampf der Individuen, der Rassen, der Völker und der Klassen zum Grundelement der Gesellschaft erhoben. Im Sozialdarwinismus wurde die Idee des Überlebenskampes aufgegriffen und sollte als geistige Grundlage solcher Irrwege dienen wie denen des Imperialismus, des Nationalismus, des Marxismus und der Rassenkampftheorien.

Wenn aber der Krieg der Vater aller Dinge sein sollte und es der Kampf sei, der den geschichtlichen Fortschritt herbeiführt, dann ist es nicht zu erklären, weshalb überhaupt innerhalb von gesellschaftlichen Verbänden und so auch innerhalb von Nationen, Friede und arbeitsteilige Zusammenarbeit möglich sein kann. Ebenso wenig wie der Sozialdarwinismus den Frieden innerhalb von bestimmten Gesellschaften erklären kann, ist es ihm möglich, einen Überlebenskampf zwischen Nationen oder Rassen zu postulieren.

Die einzige Theorie, die erklärt, wie zwischen den Individuen Frieden möglich ist und aus den Individuen Gesellschaft wird, ist die liberale Sozialtheorie der Arbeitsteilung. Hat man diese Theorie aber einmal angenommen, dann ist es nicht mehr möglich, die Feindschaft der Kollektivgebilde als notwendig anzusehen.  Wenn Brandenburger und Hannoveraner friedlich in der Gesellschaft nebeneinander leben, warum können es nicht auch Deutsche und Franzosen? (S. 289)

Der Sozialdarwinismus ist nicht imstande, das Phänomen der Vergesellschaftung zu erklären. Als solcher bietet dieser Typ von Sozialtheorie keine Gesellschafstheorie, sondern liefert nur ,,eine Theorie der Ungeselligkeit”. (S. 290)

Die antiliberalen Gesellschaftstheorien versuchen, das Friedensprinzip des Liberalismus dadurch in Verruf zu bringen, dass sie den grundsätzlichen Unterschied zwischen Kampf und Wettbewerb verwischen. Kampf im ursprünglichen Sinn zielt auf die Vernichtung des Gegners ab. Der Wettbewerb im Wirtschaftsverkehr hingegen sorgt dafür, dass die Produktion in rationellster Weise betrieben wird. Wettbewerb ist ein gewaltloses Ausleseprinzip und fungiert als ein Grundprinzip des gesellschaftlichen Zusammenwirkens.

Der Kampf im eigentlichen und ursprünglichen Sinne des Wortes ist antisozial; er macht zwischen den Kämpfenden die Arbeitsgemeinschaft, das Grundelement der gesellschaftlichen Vereinigung, unmöglich; er zerstört die Arbeitsgemeinschaft, wo sie schon besteht. Der Wettbewerb ist ein Element des gesellschaftlichen Zusammenwirkens. Er ist das ordnende Prinzip im gesellschaftlichen Verband. Kampf und Wettkampf sind, soziologisch betrachtet, die schärfsten Gegensätze. (S. 292)

Weder Klassenkampf noch Rassenkampf oder Nationalitätenkampf können als aufbauendes Prinzip dienen. Zerstörung und Vernichtung stehen dem Erbauen entgegen. Das Prinzip der Arbeitsteilung gilt national und international und übergreift alle Rassen und Sprachgruppen.

Ebenso wenig wie der Sozialdarwinismus den Frieden innerhalb von bestimmten Gesellschaften erklären kann, ist es ihm möglich, einen Überlebenskampf zwischen Nationen oder Rassen zu postulieren. … Die antiliberalen Gesellschaftstheorien versuchen, das Friedensprinzip des Liberalismus dadurch in Verruf zu bringen, dass sie den grundsätzlichen Unterschied zwischen Kampf und Wettbewerb verwischen. 

Klassenkampf

Karl Marx (1818-1883) übernimmt in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ (1. Bd. 1867) die Klassentheorie von David Ricardo (1772-1823), die dieser allerdings in dem ganz anderen Zusammenhang der Bestimmung der Einkommensverteilung hinsichtlich der Produktionsfaktoren entwickelt hat. Der gravierende Irrtum der ökonomischen Klassenlehre von Marx und seinen Nachfolgen besteht in dem Postulat, es gebe eine gleichsam naturgegebene „Leistungsverwandtschaft“ in einer bestimmten Klasse, die diese im Sinne einer Zusammengehörigkeit definiert. Eine solche Homogenität gibt es nicht einmal bei den Produktionsfaktoren selbst, wo, man denke nur an Boden und Arbeit, ganz erhebliche Qualitätsunterschiede zutage treten. Da es keine einheitlich gleiche Arbeit gibt, gibt es auch keinen „Universalarbeiter“. Nicht einmal die sogenannte „unqualifizierte Arbeit“ ist einheitlich.

Im Lichte der modernen Verteilungstheorie erfolgt die Aufteilung des gesamten Sozialprodukts in Arbeitslohn, Grundrente, Kapitalzins und Unternehmergewinn durch die jeweilige Zurechnung des Ertrages und ist nicht durch „Klassen“ bestimmt. Außerdem leidet die Marx’sche Lehre darunter, dass sie den Begriff „Klasse“ nicht präzise definiert. Die rechtliche Unfreiheit bestimmter Gruppen – z. B. der Sklaven oder der Leibeigenen – hat keineswegs den Weg zur arbeitsteiligen gesellschaftlichen Produktion bereitet. Im Gegenteil: sie hat den Weg zu ihr versperrt. Erst nachdem die persönliche Unfreiheit beseitigt worden war, konnte sich die moderne industrielle Gesellschaft als ein weitreichendes System der Arbeitsteilung entfalten.

Das Sondereigentum an den Produktionsmitteln ist die einzige gesellschaftliche Voraussetzung der Entwicklung der Arbeitsteilung; es bedurfte nicht der Unfreiheit des Arbeiters, um Arbeitsteilung zu schaffen. (S. 305/6)

Die Theorie des Klassenkampfes besagt, dass es in der Gesellschaft unüberbrückbare Klassengegensätze gebe. Dabei wird eine grobe Aufteilung vorgenommen, die hauptsächlich die Proletarier den Kapitalisten gegenüberstellt. Man unterstellt der jeweiligen Gruppe gemeinsame Interessen und verkennt, dass diese sofort verschwinden, wenn man das künstliche Postulat der Homogenität der jeweiligen Klasse verlässt. Dann zeigt sich sehr schnell, dass von einem gemeinsamen Interesse oder gar von einem bestimmten „Klassenbewusstsein“ keine Rede sein kann. Sowohl unter den Arbeitern als auch unter den Unternehmenseignern gibt es Wettbewerb. Logisch weitergedacht kommt man bei der Klassenkampftheorie nicht weniger als bei der sie umfassenden allgemeinen sozialdarwinistischen Theorie zum Kampf aller gegen alle, zur „Entgesellschaftung“:

Eine durch die Gemeinschaft von Sonderinteressen geeinte Klasse gibt es nicht. Nicht in der Klasse, sondern in der Gesellschaft wird der Gegensatz der Einzelinteressen überwunden. Es ist mit der Klassenideologie nicht anders als mit der nationalen. Auch zwischen den Interessen der einzelnen Völker und Stämme bestehen keine Gegensätze. Erst die nationalistische Ideologie erzeugt den Glauben an sie und schließt die Volker zu Sondergruppen zusammen, die sich gegenseitig bekämpfen. Die nationalistische Ideologie zerschneidet die Gesellschaft in vertikaler, die sozialistische in horizontaler Richtung. Die beiden schließen sich gegenseitig aus. Bald hat die eine, bald die andere die Oberhand. (S. 314)

Die marxistische Klassenkampftheorie hat ihren Einfluss weit über die Kreise der Sozialisten hinaus ausgeübt und hat die liberale Lehre von der Solidarität aller Glieder der Gesellschaft in den Hintergrund gedrängt. Das Verdrängen des liberalen Gedankengutes wurde durch das Wiedererwachen der imperialistischen und protektionistischen Ideen noch verstärkt. Wer nach Art der Nationalisten, Rassentheoretiker oder Protektionisten der Meinung ist, dass die Interessengegensätze zwischen den Völkern nicht zu überbrücken seien, leugnet damit, dass es überhaupt die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens geben könne.

Man unterstellt der jeweiligen Gruppe gemeinsame Interessen und verkennt, dass diese sofort verschwinden, wenn man das künstliche Postulat der Homogenität der jeweiligen Klasse verlässt. … Sowohl unter den Arbeitern als auch unter den Unternehmenseignern gibt es Wettbewerb.

Fazit:

Weder der Sozialdarwinismus noch die Klassenkampftheorie in ihren verschiedenen sozialistischen Ausprägungen taugen als Sozialtheorien. Ihr Ansatz ist von vorherein verfehlt, weil sie den eigentlichen Sinn der Vergesellschaftung verkennen. Gesellschaft ist nicht Kampf, sondern freiwillige, d.h. nicht-erzwungene Zusammenarbeit. Dieser Grundsatz gilt auch für das Verhältnis zwischen den Nationen. Der Liberalismus mit dem Grundgedanken der Arbeitsteilung steht den imperialen Vorstellungen eines Kriegs der Nationen entgegen. Deshalb muss der Liberalismus als Idee von all denjenigen auf das Schärfste bekämpft werden, deren Ziel nicht die freiwillige Kooperation der Menschen ist, sondern Drohung, Zwang und letztlich Gewalt als Mittel einzusetzen, um an die Leistungen und den Besitz ihrer Mitmenschen zu gelangen. All diesen feindseligen Ideologien ist zu eigen, dass sie letztlich zu einer „Entgesellschaftung“ führen, wie Ludwig von Mises es bestimmte, zu einer Degeneration der friedlichen Gesellschaft und Zivilisation und ihrer Transformation in einen Gewaltverband.

Mises’ „Die Gemeinwirtschaft“ hat bis heute nichts an Aktualität verloren. Auch in dieser Zeit versuchen ideologisch, finanziell und/oder machtpolitisch orientierte Sonderinteressengruppen, ihre Mitmenschen zu einem bestimmten Verhalten zu nötigen. Auch wenn die postmodernen Narrative des Öko-Sozialismus oder der Bewegungen „Environmental and Social Corporate Governance“ (ESG) oder „Global Governance“ andere sind, als die der klassischen Sozialisten, die zentralen Mittel, um an die Kooperation der Mitmenschen und deren Besitz zu gelangen, sind dieselben, nämlich durch politischen Aktivismus, Einfluss in den Medien und in den Bildungseinrichtungen sowie Lobbyismus Anordnungen „von oben“ durchzusetzen, also die Machtkonzentration beim Staat für die eigenen Ziele einzuspannen.

Dies ist der siebte Teil der Artikelreihe zu Ludwig von Mises‘ Buch „Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus“. Den sechsten Teil finden Sie hier.

Dr. Antony P. Mueller ist habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg und Professor der Volkswirtschaftslehre an der brasilianischen Bundesuniversität UFS (www.ufs.br). Vor kurzem erschien sein Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie: Chancen einer Gesellschaftsordnung jenseits von Staat und Politik“ . Kontakt: antonymueller@gmail.com

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.

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