Wieso auch alle Abarten des Sozialismus zu Stagnation und Verarmung führen

Hundert Jahre „Die Gemeinwirtschaft“ von Ludwig von Mises

Teil 5

3. Februar 2023 – von Antony P. Mueller

Antony P. Mueller

Dies ist der fünfte Teil der Artikelreihe zu Ludwig von Mises‘ Buch „Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus“. In dieser und den nachfolgenden Artikeln folgen wir der zweiten umgearbeiteten Auflage von 1932.

Marx und Engels sprachen vom „Absterben des Staates“ im Sozialismus und näherten sich hier anscheinend liberalen und anarchistischen Ideen. Es waren aber die Liberalen, die die Beschränkung der Staatsgewalt und die Übergabe der Regierung an die Vertreter des Volkes verlangten. Die Liberalen hatten den freien Staat gefordert und die Anarchisten seine Abschaffung. Marx und Engels suchten beide Gegenpositionen zu übertrumpfen, indem sie das Absterben des Staates durch die „Diktatur des Proletariats“ postulierten.

Staatssozialismus

Die Idee der Vergesellschaftung der Produktionsmittel verkennt, dass der Sozialismus nicht die Aufhebung, sondern eine unendliche Verstärkung des Staates bedeuten muss. (S. 212) Dabei hat das „Ideal des Staatssozialismus“ die sozialistische Ideologie attraktiv gemacht. Staatssozialismus war der Leitstern der meisten europäischen Staaten vor dem Ersten Weltkrieg und er ist das Leitbild, das in den vergangenen Dekaden wieder prominent zur Geltung kommt.

Die Idee der Vergesellschaftung der Produktionsmittel verkennt, dass der Sozialismus nicht die Aufhebung, sondern eine unendliche Verstärkung des Staates bedeuten muss.

Das Hauptziel dieser Abart des Sozialismus ist die Transformation des Staatskapitalismus in den Staatssozialismus. Damit verbreiten die Sozialisten das Bild von einem Gemeinwesen als dem Staat, der Wohlstand und soziale Sicherheit garantiert. Das Ideal ist idyllisch. Es wird eine Welt der loyalen Staatsbeamten gezeichnet, die dafür sorgen, dass die Gewerbetreibenden zusammen mit den größeren und kleineren Bauern und die zahlreichen Arbeiter und Angestellten harmonisch zusammenarbeiten. Dies soll dadurch geschehen, dass der Staat als Eigentümer der Betriebe agiert. Diese Wirtschaftsweise ist das Idealbild der professoralen Kathedersozialisten der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und in diesem Sinne ist heute der Staatssozialismus vielfach das Ideal der Medien und Künstler, der Dichter und der Schriftsteller. Dieser Staatssozialismus ist der Sozialismus, dem die Kirchen aller Bekenntnisse Unterstützung leihen und in dem manche Monarchisten das „Ideal des sozialen Königtums“ finden. (S. 219)

Eng verbunden mit dem Staatssozialismus und dem Staatskapitalismus ist der Militärsozialismus, die Kriegswirtschaft. Der Militärsozialismus ist Staatssozialismus in dem Sinne, dass alle Einrichtungen auf die Kriegführung abgestellt sind. (S. 220)

Die geringe Produktivität, die jeder Variante des Sozialismus innewohnt, führt zum Paradoxon, dass der kommunistischen Kriegsstaat im Nachteil ist, wenn es zu einem Zusammenstoß mit kapitalistischen Ländern kommt, die das Sondereigentum beibehalten. In dem Maße, wie der Sozialismus die Initiative des Einzelnen abtötet, fehlt dem Sozialismus bei kriegerischen Auseinandersetzungen die Flexibilität, da ihm Personen mit Initiative fehlen und er nur über solches Personal verfügt, das Weisungen auszuführen vermag. (S. 223)

Das sozialistische Gemeinwesen ist ein herrschaftlicher Verband, der nach dem Prinzip von Befehl und Gehorchen organisiert ist. Planwirtschaft bedeutet, dass die Wirtschaft zentral gesteuert wird. Sie gleicht so einer Armee, die ebenfalls von einer Zentrale beherrscht wird, hierarchisch organisiert ist und auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam beruht.

Wie in einem Kriegsheer ist im sozialistischen Gemeinwesen alles von den von der Oberleitung ausgehenden Verfügungen abhängig. Jeder hat den Platz einzunehmen, auf den er gestellt wurde, und solange auf dem Platze zu verbleiben, bis er auf einen anderen versetzt wird. Der Mensch ist dabei immer nur Objekt der Handlungen der Vorgesetzten. Man steigt nur auf, wenn man befördert wird, man sinkt, wenn man degradiert wird. (S. 162)

Im sozialistischen Gemeinwesen sind alle Werktätigen Staatsbeamte. Dieser Umstand bestimmt den Geist der sozialistischen Wirtschaftsweise, die durchwegs von der Beamtenmentalität gekennzeichnet ist. Diese „Verstaatlichung des geistigen Lebens“ (S. 167) ist es, die den Fortschritt im Sozialismus lähmt. Diese Lähmung ergreift nicht nur die Wirtschaft und Technik, sondern betrifft das gesamte Geistesleben einschließlich der Künste und der Wissenschaft.

Im sozialistischen Gemeinwesen sind alle Werktätigen Staatsbeamte.

Konservativ-kirchlicher Sozialismus

Auch der Konservatismus neigt zum Sozialismus. (S. 225) Konservatismus ist eine Sonderform des „kirchlichen Sozialismus“. Aber auch dieses Ideal leidet unter der von der Verstaatlichung des Lebens ausgehenden Stagnation. Der kirchliche Sozialismus ist eine Abart des Staatssozialismus und beide sind eng miteinander und dem Konservatismus verwandt. Noch mehr als der Etatismus, also die Lehre, die den Staat als die Zentrale der Gesellschaft sieht, ist der christliche Sozialismus von der Idee getragen, dass die Volkswirtschaft sich in einem harmonischen Gleichgewicht befinden würde, wenn Profitsucht und Eigennutz wegfielen.

Der kirchliche Sozialismus verdammt das Streben auf die Befriedigung materieller Interessen und verurteilt das Streben nach Luxus – im Unterschied zum Kapitalismus, wo der Luxus von heute der Grundbedarf von morgen ist.  In Verbindung mit den in allen Gesellschaften vorhandenen Sittenwächtern entsteht das sozialistische Konsumideal als Entbehrung. Nicht der Überfluss wird gefeiert, sondern die Askese.

In Verbindung mit den in allen Gesellschaften vorhandenen Sittenwächtern entsteht das sozialistische Konsumideal als Entbehrung.

Der kirchliche Sozialismus leugnet nicht die Ersprießlichkeit fortschreitender Verbesserung der Produktionsmethoden, aber es fehlt dieser Denkrichtung die Erkenntnis, dass es diese Neuerungen sind, die die Volkswirtschaft vorantreiben. Im gleichen Sinne ist die Verdammung des Luxus ein sozialistisches Kernanliegen und insbesondere des kirchlichen Sozialismus.

Das Gesellschaftsideal des kirchlichen Sozialismus ist stationär. Seine Vision zeichnet ein Bild von der Wirtschaft, wo es keine Unternehmer gibt, keine Spekulation und keine ,,übermäßigen“ Gewinne. Die Preise und Löhne, die verlangt und gegeben werden, sind ,,gerecht“. Religiös wird begründet, dass in so einem „Sozialismus“ jedermann mit seinem Los zufrieden sein muss, weil Unzufriedenheit eine Auflehnung gegen göttliche und menschliche Gesetze bedeuten würde. Schließlich wird für die Erwerbsunfähigen durch christliche Mildtätigkeit gesorgt. (S. 225)

Syndikalismus und Solidarismus

Auch der Syndikalismus ist Sozialismus in dem Sinn, dass er eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel fordert. Seine Eigentümlichkeit besteht darin, dass die Produktion durch die Arbeiter der einzelnen Produktionszweige geleitet werden soll. Die Gesamtheit der Arbeiter beruft die Vorarbeiter, Werkmeister und die übrigen Geschäftsführer. Die Arbeiter regeln mittelbar und unmittelbar die Arbeitsbedingungen und weisen der Produktion Weg und Ziel. Diesen Syndikaten oder Gilden als Organisationen der Arbeiter in den einzelnen Industriezweigen steht als Organisation der Konsumenten der Staat gegenüber. Der Staat hat das Recht, die Gilden zu besteuern, und ist befähigt, ihre Preis- und Lohnpolitik zu regulieren. Das bedeutet, dass auch im Gesellschaftsideal des Syndikalismus die Leitung der Produktion dem Staat zufällt. Auch dieser sogenannte „Gildensozialismus“ kann die Grundprobleme des sozialistischen Wirtschaftens nicht lösen. (S. 231)

Nicht weniger trifft dies auch auf den von Mises als „Solidarismus“ (S. 234) bezeichneten Sozialismus zu, der heute als „Kommunitarismus“ wieder auflebt. Was dem Solidarismus auszeichnet, ist, dass er eine hohe Strahlkraft ausübt und dass er so „viele der besten und edelsten Manner und Frauen unserer Zeit beeinflusst hat.“ (S. 234)

In der Tat gibt es Parallelen zwischen Liberalismus und Kommunitarismus. Beide gehen davon aus, dass die Interessen aller Glieder der Gesellschaft harmonieren und dass Sondereigentum an den Produktionsmitteln eine gesellschaftliche Einrichtung ist, deren Erhaltung nicht nur im Interesse der Besitzenden ist, sondern im Interesse aller. Es wäre für alle von Schaden, wenn man das Sondereigentum an Produktionsmitteln ersetzten wollte durch das die Ergiebigkeit der gesellschaftlichen Arbeit gefährdende Gemeineigentum.

Allerdings kommt es an diesem Punkt zu einem Bruch zwischen Kommunitarismus und Liberalismus. Die Theorie des Solidarismus geht davon aus, dass in einer auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Gesellschaftsordnung der Grundsatz der gesellschaftlichen Solidarität noch nicht verwirklicht sei. Man müsse weitergehen. Solidarität sei in der arbeitsteiligen Gesellschaft durch die Einrichtung des Sondereigentums an den Produktionsmitteln noch nicht erreicht. Um solidarisches Handeln zu ermöglichen, müssten zusätzliche Vorkehrungen getroffen werden.

Dabei weicht der mehr etatistisch denkende Flügel des Solidarismus vom kirchlichen Zweig ab. Die etatistische Richtung des Solidarismus will die „Solidarität“ durch staatlichen Zwang herbeiführen. Die Gesetzgebung soll den Besitzenden Lasten zugunsten der ärmeren Schichten des Volkes und zugunsten der ,,Allgemeinheit” auferlegen. Der mehr kirchlich gesinnte Flügel des Solidarismus will desgleichen durch Einwirkung auf das Gewissen der Menschen erzielen. Nicht Staatsgesetze, sondern Moralvorschriften, die christliche Liebe, sollen den Einzelnen zur Erfüllung seiner sozialen Pflichten anhalten. (S. 235)

Unlösbarkeit des wirtschaftlichen Grundproblems im Sozialismus

Sowohl der Sozialismus in Reinform als auch seine Varianten sind zur wirtschaftlichen Stagnation verurteilt. Keine dieser Abarten löst das Grundproblem des Wirtschaftens.

Der Sozialismus steht vor zwei fundamentalen Problemen, die er nicht bewältigen kann. Erstens fehlt die Möglichkeit zur rationalen Wirtschaftsrechnung, so dass es unmöglich wird, Aufwand und Erfolg einer wirtschaftlichen Handlung zu ermitteln und das Ergebnis der Rechnung zum Richtmaß des Handelns zu machen. Zweitens erweist es sich im Sozialismus als unmöglich, eine Organisationsform zu finden, die die Anreize bereitstellt, welche das einzelne Verhalten anteilmäßig mit dem Gesamtsystem verbindet. Als Werkzeug eines zentralen Plans können die Wirtschaftsführer auf der unteren Ebene von sich heraus weder innovativ noch expansiv tätig werden und dazu die entsprechende Initiative ergreifen.

Während in der kapitalistischen Produktionsweise die Verteilung gemäß dem marginalen Beitrag der Produktionsfaktoren geschieht, gibt es im Sozialismus keinen vergleichbaren Mechanismus. Im Sozialismus fehlt, im Unterschied zum Kapitalismus, die direkte Verbindung zwischen Produktion und Verteilung.

Den Planungsbehörden stehen vier Optionen zur Verfügung, die allesamt Stagnation begünstigen, sei es die gleiche Verteilung per Kopf, die Verteilung nach Maßgabe der dem Gemeinwesen geleisteten Dienste, die Verteilung nach den Bedürfnissen und die Verteilung nach der Würdigkeit, wobei diese Grundsätze auch in verschiedener Weise verbunden werden können. (S. 130)

Im Kapitalismus hingegen wird dieses Interesse aller und der Gesamtheit durch das Gewinnstreben jedes einzelnen Unternehmers wirksam. Der Unternehmer sucht sowohl nach neuen Absatzgebieten als auch, seine Konkurrenten mit billigeren und besseren Waren zu unterbieten. In diesem Sinne besitzt der Kapitalismus seine spezifische inhärente Dynamik und darin besteht die Expansionstendenz des Kapitalismus. (S. 207)

Als Folge der Stagnationswirtschaft kommt ein sozialistisches Gemeinwesen in allen Abarten nicht darum herum, eine Bevölkerungskontrolle durchzuführen. Das Konzept der zentral geplanten Wirtschaft schließt mit ein, dass auch das Bevölkerungswachstum geplant werden muss.

Resümee

Auch wenn sich heute kaum noch eine politische Partei offen für den Sozialismus ausspricht, beherrschen seine Abarten die politische Vorstellungswelt. In Deutschland dominiert seit Gründung der Bundesrepublik die Idee der „Sozialen Marktwirtschaft“, die immer mehr sozialistisch transformiert wurde, sodass man das Wirtschaftssystem heute eher als eine „Sozialistische Wirtschaft mit Markt-Resten“ bezeichnen müsste oder als „Staatskapitalismus“. Im Hinblick auf die politisch erzwungene Abkehr von günstigen und zuverlässigen Energiequellen zu teuren und wetterabhängigen und der damit einhergehenden Deindustrialisierung, der Einschränkung des Individualverkehrs und der ideologisch propagierten Umstellung der Ernährung auf vegetarisch, vegan und – neuerdings – Insektenproteine ist auch die Bezeichnung „Ökosozialismus“ treffend.

Und wenn heutzutage zur „Solidarität“ aufgerufen wird, kommt nahezu ausschließlich die etatistische Richtung des Solidarismus zur Geltung: Die „Solidarität“ soll staatlich erzwungen werden.

Was vor über hundert Jahren Ludwig von Mises in seiner Analyse der Gemeinwirtschaft nachgewiesen hat, dass die Konsequenzen dieser Abkehr von der Marktwirtschaft ceteris paribus in mehr Armut und schließlich in zunehmender Unfreiheit bestehen, kommt immer deutlicher zum Vorschein.

Dies ist der fünfte Teil der Artikelreihe zu Ludwig von Mises‘ Buch „Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus“. Den vierten Teil finden Sie hier.

Dr. Antony P. Mueller ist habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg und Professor der Volkswirtschaftslehre an der brasilianischen Bundesuniversität UFS (www.ufs.br). Vor kurzem erschien sein Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie: Chancen einer Gesellschaftsordnung jenseits von Staat und Politik“ . Kontakt: antonymueller@gmail.com

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.

Titel-Foto: Adobe Stock

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