Der Sozialismus ist weder unausweichlich noch wissenschaftlich oder „ethisch höherstehend“. Er ist eine Art Religion

Hundert Jahre „Die Gemeinwirtschaft“ von Ludwig von Mises

Teil 4

23. Januar 2023 – von Antony P. Mueller

Antony P. Mueller

Dies ist der vierte Teil der Artikelreihe zu Ludwig von Mises‘ Buch „Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus“. In dieser und den nachfolgenden Artikeln folgen wir der zweiten umgearbeiteten Auflage von 1932.

Titelfoto (Adobe Stock): Lenin Porträtbüste in Ulan-Ude. Laut Wikipedia die größte Porträtbüste der Welt. Die zweitgrößte ist die Karl-Marx-Büste in Chemnitz.

Der Sozialismus erhält seine besondere Attraktivität daher, dass er ethische, politische und wirtschaftspolitische Forderungen hat: Die ,,unmoralische” kapitalistische Wirtschaft soll notwendigerweise durch eine sozialistische Gesellschaftsordnung ersetzt werden, die höheren sittlichen Ansprüchen genügt.

Unentrinnbarkeit des Sozialismus

Die quasi ,,wirtschaftliche Herrschaft“ der Über- und Unterordnung in der kapitalistischen Wirtschaftsweise soll genossenschaftlichen Ordnungen weichen. Nur so gäbe es wahre Demokratie. Zugleich aber verspricht der Sozialismus, die scheinbar irrationale Privatwirtschaftsordnung, die anarchische Profitwirtschaft, durch eine „vernünftigere“, weil nach einheitlichen Gesichtspunkten geleitete Planwirtschaft zu ersetzen.

Der Sozialismus erscheint damit als ein Ziel, dem wir zuzustreben haben, weil es sittlich und weil es vernünftig ist. Es gilt, die Widerstände zu besiegen, die Unverstand und böser Wille seinem Kommen entgegensetzen. (Ludwig von Mises, Die Gemeinwirtschaft, S. 250)

Neben dieser geschickten vorgeschützten Verbindung von Ethik und Rationalität im Sozialismus wird von seinen Vertreten behauptet, dass die sozialistische Gesellschaft ein notwendiges Ziel und den Endpunkt der geschichtlichen Entwicklung bedeute.

Eine dunkle Macht, der wir uns nicht zu entziehen vermögen, führt die Menschheit stufenweise zu höheren Formen des gesellschaftlichen und sittlichen Daseins. Die Geschichte ist ein fortschreitender Läuterungsprozess, an dessen Ende der Sozialismus als Vollkommenheit steht. (S. 250)

„Wissenschaftlicher Sozialismus“ reklamiert für sich, dass der Sozialismus „ein unentrinnbares und naturnotwendiges Ergebnis der im gesellschaftlichen Leben wirkenden Kräfte (ist).“ Darin besteht der Grundgedanke des evolutionistischen Sozialismus, der sich in seiner marxistischen Form das Etikett ,,wissenschaftlich“ angehängt hat. (S. 251)

Das auf dieser These beruhende Denkgebäude nennt sich „materialistische Geschichtsauffassung“. Es bezeichnet zunächst eine bestimmte Methodik der geschichtssoziologischen Forschung, um die gesellschaftliche Gesamtstruktur der jeweiligen Epoche zu bestimmen. Als soziologische Lehre beinhaltet die materialistische Geschichtsauffassung die Vorstellung, dass die sozialen Klassen und der Klassenkampf die bestimmenden historischen Wirkkräfte seien. Schließlich ist aber auch die marxistische Geschichtsauffassung eine Fortschrittstheorie und als solche „eine Lehre über die Bestimmung des Menschengeschlechts, über Sinn und Wesen, Zweck und Ziel des menschlichen Lebens.“ (S. 251)

Indem der Sozialismus gleichsam „wissenschaftlich“ als unentrinnbar bestimmt wird, entfaltet diese These ihre praktische Wirksamkeit dadurch, dass alle Gegner des Sozialismus als Reaktionäre dastehen und sie es dementsprechend verdienen, gebrandmarkt zu werden.

Wenig anderes hat die Verbreitung der sozialistischen Ideen mehr gefördert als der Glaube an die Unentrinnbarkeit des Sozialismus, denn auch viele Gegner des Sozialismus stehen im Bann dieser Lehre und fühlen sich durch sie im Widerstand gelähmt. Der Gebildete fürchtet, unmodern zu erscheinen, wenn er sich nicht vom ,,sozialistischen“ Geist beseelt zeigt, denn nun sei das Zeitalter des Sozialismus, des „vierten Standes“ angebrochen; und da wäre reaktionär, wer noch am Liberalismus festhalte. Jede Errungenschaft des sozialistischen Gedankens, die uns der sozialistischen Produktionsweise naherbringt, wird als Fortschritt gewertet, jede Maßnahme zum Schutze des Sonder- bzw. Privateigentums gilt als Rückschritt. (S. 252)

Heilserwartung

Auch wenn der Gedanke der Notwendigkeit bestimmter geschichtlicher Entwicklungen im Kern metaphysisch ist, da er über die Erfahrung und über das Erfahrbare hinausgeht, fasziniert er die Menschen bis in die heutige Zeit. Nur Wenige können sich dem Bann des Chiliasmus, also der Heilserwartung, entziehen, der in den religiösen Lehren zuhause ist. Die sichtbare Wiederkunft Christi soll ein tausendjähriges irdisches Reich des Heils errichten. Zwar von der Kirche als Ketzerei verdammt, lebt der Chiliasmus als religiöse und politische, vor allem aber als wirtschaftspolitische Revolutionsidee immer wieder auf. Der Marxismus ist ganz in diese Lehre der Heilserwartung eingebettet, die durch die Jahrhunderte mit immer neu erwachender Kraft schreitet und in gerader Linie zum philosophischen Chiliasmus führt. Die jüdisch-christliche Heilserwartung wurde von den Rationalisten des 18. Jahrhunderts in das irdische Heilsgeschehen als Revolution umgedeutet.

Die philosophische anthropozentrische Entwicklungs-Metaphysik gleicht im Wesen der religiösen in jeder Beziehung. Die merkwürdige Mischung von ekstatisch ausschweifender Phantasie und alltäglicher Nüchternheit und grob materialistischem Inhalt ihrer Heilsverkündung hat sie mit den ältesten messianischen Prophezeiungen gemein. (S. 255)

Soweit es sich beim ,,wissenschaftlichen” Sozialismus um metaphysische Heilsverkündigung handelt, wird es vergeblich bleiben, sich mit dieser Lehre wissenschaftlich auseinanderzusetzen.

Gegen mystische Glaubenssätze kämpft man mit den Mitteln der Vernunft vergebens an. Fanatiker kann man nicht belehren. (S. 258)

Die metaphysische Vorstellung der Sozialisten gehört im Übrigen nicht zum Bereich des „apriorischen Wissens“, das ebenfalls nicht erfahrbar ist. Aber das Kennzeichen apriorischen Wissens, wie wir es aus der Mathematik, der Logik und der Praxeologie kennen, ist, dass die Negation der a priori wahren Aussagen oder etwas das im Widerspruch hierzu steht, nicht als wahr gedacht werden kann. Die Negation der Unausweichlichkeit des Sozialismus oder etwas, das im Widerspruch hierzu steht, beispielsweise eine friedliche, herrschaftslose Gesellschaft oder eine weitestgehend freie Verkehrswirtschaft, können jedoch durchaus als wahr gedacht werden.

Im Gegensatz hierzu kann eine friedliche sozialistische Gesellschaft nicht als wahr gedacht werden, denn Sozialismus erfordert erzwungene Kontrolle über die Produktionsmittel in den Händen der Obrigkeit, also des Staates, und damit Herrschaft. Und Herrschaft und Frieden können nicht gleichzeitig bestehen. Denn Herrschaft ist der Einsatz von Drohung, Zwang, und letztlich Gewalt, um die Handlung eines anderen zu bewirken oder an seinen Besitz zu gelangen, wohingegen Frieden gerade die Abwesenheit von Drohung, Zwang und Gewalt ist.

Allerdings geht der Marxismus noch über den traditionellen Chiliasmus hinaus. Die marxistische Lehre verbleibt nicht in der Metaphysik, sondern zielt seiner Zeit gemäß darauf ab, diese Vorstellung rational zu begründen, auch wenn dies, wie wir gesehen haben, weder theoretisch noch empirisch möglich ist.

Die antiliberalen Ideen des Sozialismus richten sich gegen das System des Freihandels und des Sondereigentums. Es wird behauptet, dass die Verkehrswirtschaft antisozial sei und individualistisch und dass sie den sozialen Körper „atomisiere“. Tatsächlich aber ist es so, dass der marktwirtschaftliche Verkehr nicht auflösend wirkt, sondern verbindend.

Erst die Arbeitsteilung lässt gesellschaftliche Bindung entstehen, sie ist das Soziale schlechthin … Wer durch den Klassenkampf die gesellschaftliche Arbeitsteilung im Innern eines Volkes zu zerstören sucht, ist antisozial. (S. 282)

Obgleich die sozio-ökonomische Theorie des Liberalismus wohl zum ersten Mal in der Geschichte Einsicht in die Gesetze gesellschaftlicher Entwicklung erlangt hat und wir heute wissen, worauf der Kulturfortschritt beruht, sind mit den militaristisch-nationalistischen Ideologien und mit der sozialistisch-kommunistischen Lehre Feinde der zivilisatorischen Entwicklung aufgetreten, deren Ideen gesellschaftsauflösend wirken. Diese Theorien nennen sich zwar sozial, aber beide wirken desorganisierend und antisozial. (S. 281)

Der Untergang der liberalen Gesellschaft auf der Basis der marktwirtschaftlich gesteuerten Arbeitsteilung würde eine Weltkatastrophe darstellen, die sich mit nichts, was die uns bekannte Geschichte enthält, auch nur im Entferntesten vergleichen lässt. Kein Volk bliebe von ihr verschont. Wer sollte die zerstörte Welt wieder aufbauen? (S. 282)

Die hochproduktive arbeitsteilige Produktionsweise, die im Liberalismus und Kapitalismus ihre bisher größte Entfaltung erlebt hat, war stets gefährdet und ist es auch heute noch. Kulturfeindliche Tendenzen erwachsen in der Gesellschaft selbst. Eine Zivilisation wächst, solange es ihr gelingt, die kulturfeindlichen Tendenzen zurückzuweisen. Schafft die Zivilisation dies nicht, wird sie schließlich früher oder später ihr Schicksal ereilen und sie wird dem Geist der Zersetzung erliegen. (S. 281)

Die marxistische Heilserwartung wird noch absurder, wenn man bedenkt, dass sie durch die Austragung des Klassenkampfes verwirklicht werden soll. In der Marxschen Theorie wird „Klasse“ zu einem politischen Kampfbegriff. Als Theorie des Klassenkampfes hat sie eine gewaltige, bis heute andauernde Wirkung entfacht, obwohl ökonomisch betrachtet es diesem Konzept ganz und gar an Substanz mangelt.

Je mehr der liberale Gedanke verblasste, desto starker wurde die Anziehungskraft der marxistischen Verheißung. Dieses Versprechen aber beruht auf einem Fehlurteil. Die frühen Sozialisten glaubten, dass es in der klassenlosen eigentumslosen Zukunftsgesellschaft eine höhere Produktivität als in der auf Sondereigentum beruhenden Gesellschaft gebe. Diese These hat sich sowohl aus theoretischer wir empirischer Sicht als vollkommen falsch erwiesen.

Nur wenige Jahre nach dem kommunistischen Umsturz im Oktober 1917 musste der Sowjetführer Lenin zugeben:

Die Diktatur des Proletariats in Russland hat größere Opfer, größeres Elend und größere Mühen mit sich gebracht, als es je in der Geschichte bekannt war … Wir müssen sie verteilen, um die Macht des Proletariats zu bewahren. Das ist unser einziges Prinzip. (Lenin, 1921)

Die Sowjetunion ist am 26. Dezember 1991 zusammengebrochen. Sowjetkommunismus war Verwaltung des Mangels und ist nicht annähernd an das herangekommen, was die Sozialisten einst versprachen. Im Gegenteil: Der Kommunismus brachte Not und Tod. Die sowjetische Wirtschaft existierte im Wesentlichen als Kriegswirtschaft, also als Kommando- und Befehlswirtschaft. Der Sowjetkommunismus war ein unnötiges Experiment. Schon 1920 hatte Ludwig von Mises in seinem Aufsatz zur „Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen“ den Nachweis erbracht, dass ohne Preise, frei Märkte und ohne Privateigentum an den Produktionsmitteln eine rationale Wirtschaftslenkung nicht möglich ist.

Hätten die Sozialisten die Argumentation von Mises beachtet, wären sie auch vor den Folgen der Kollektivierung der Landwirtschaft gewarnt worden. Der Holodomor zu Beginn der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts mit seinen Millionen von Toten war die Konsequenz dieses sozialistischen Irrtums, von der Aufhebung der Eigentumsrechte und der Betriebsausweitung eine höhere Produktivität zu erwarten.

Marktwirtschaftliche Volksabstimmung

Die politische Propaganda der Marxisten besteht in der Verbreitung des Glaubensbekenntnisses, der Sozialismus sei sowohl produktiver als auch sittlich höherstehend und dass er mit Sicherheit kommen wird. In all diesen Punkten ist der Sozialismus praktisch gescheitert und theoretisch widerlegt worden.

Was die Sozialisten in abstrakter Weise ihrem utopischen Idealmodell zusprechen, geschieht in der kapitalistischen Praxis. In der Marktwirtschaft findet die demokratische Abstimmung tagtäglich statt.

Der Herr der Produktion ist der Konsument. Die Volkswirtschaft ist, unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, eine Demokratie, in der jeder Pfennig einen Stimmzettel darstellt. Sie ist eine Demokratie mit jederzeit widerruflichem imperativem Mandat der Beauftragten. (S. 412)

Der freie Wettbewerb sorgt dafür, dass sich die Produktion nach den Wünschen der Verbraucher richtet. Fehlt die Befriedigung der Kundenwünsche, wird die Produktion unrentabel. Unternehmer, die bei dieser Aufgabe versagen, werden von der Konkurrenz überflügelt. Die aus Sicht der Konsumenten unfähigen Unternehmer verlieren das Eigentum an den Produktionsmitteln und diese gelangen in die Hände jener, die besser imstande sind, die Produktion im Sinne der Kunden zu leiten. Kapitalismus bedeutet Verbraucherdemokratie.

Sozialismus hingegen bedeutet Produzentendiktatur, selbst dann, wenn darüber abgestimmt wird, wer die Produktion leitet, weil die Durchführung und die Finanzierung der Produktion erzwungen werden. Der Konsument in der Marktwirtschaft kann Angebote der Produzenten schadlos ablehnen. Er wird nicht gezwungen, eine bestimmte Produktion zu finanzieren, von der er sich keinen Vorteil verspricht.

Demokratie ohne Liberalismus bedeutet, dass nurmehr das Mehrheitsprinzip übrigbleibt, aber der andere wesentliche Inhalt, für den der Begriff „Demokratie“ auch steht, geht verloren, nämlich Selbstbestimmung und Selbstverwaltung im Gegensatz zu Fremdbestimmung und Fremdverwaltung.

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Dies ist der vierte Teil der Artikelreihe zu Ludwig von Mises‘ Buch „Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus“. Den dritten Teil finden Sie hier.

Dr. Antony P. Mueller ist habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg und Professor der Volkswirtschaftslehre an der brasilianischen Bundesuniversität UFS (www.ufs.br). Vor kurzem erschien sein Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie: Chancen einer Gesellschaftsordnung jenseits von Staat und Politik“ . Kontakt: antonymueller@gmail.com

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.

Titel-Foto: Adobe Stock

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