Wie aus Feinden Freunde werden und aus Krieg Frieden

Hundert Jahre „Die Gemeinwirtschaft“ von Ludwig von Mises

Teil 6

13. Februar 2023 – von Antony P. Mueller

Antony P. Mueller

Dies ist der sechste Teil der Artikelreihe zu Ludwig von Mises‘ Buch „Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus“. In dieser und den nachfolgenden Artikeln folgen wir der zweiten umgearbeiteten Auflage von 1932.

Für Ludwig von Mises ist das Schlüsselkonzept zum Verständnis der Gesellschaft das Konzept der Arbeitsteilung.

Arbeitsteilung

„Die Arbeitsteilung ist ein Grundprinzip alles Lebens.“ (S. 260) Dabei besteht jedoch eine grundsätzliche Verschiedenheit zwischen der Arbeitsteilung im tierischen und pflanzlichen Organismus einerseits und der im Zusammenleben der Menschen andererseits. (S. 260) Die menschliche Gesellschaft wird gedacht und gewollt. Das gesellschaftliche Sein liegt im Menschen begründet, nicht in der Umwelt. Gesellschaft kommt nicht von außen, sondern sie wird „von Innen nach Außen projiziert“. Gesellschaft ist Mithandeln, sie besteht in der Gemeinschaft des menschlichen Handelns “ (S. 261)

Gesellschaft ist erst dort vorhanden, wo ein Wollen zum Mitwollen, ein Handeln zum Mithandeln wird. In Gemeinschaft Zielen zuzustreben, die man allein überhaupt nicht oder jedenfalls nicht in gleich wirksamer Weise erreichen konnte, kooperieren, das ist Gesellschaft. (S. 267)

Am Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Arbeitsteilung stehen zwei natürliche Tatsachen: Auf der einen Seite die individuelle Ungleichheit der menschlichen Anlagen und die Verschiedenheit der äußeren Lebensbedingungen auf der Erdoberflache auf der anderen Seite. In diesem Kontext ist die Entwicklung der menschlichen Vernunft und die der menschlichen Gesellschaft ein und derselbe Prozess. Der moderne Mensch ist Gesellschaftsmensch. Das gilt nicht nur in Bezug auf die Güterversorgung, sondern auch insofern, dass die Entwicklung der menschlichen Vernunft und des menschlichen Empfindungsvermögens nur in der Gesellschaft möglich ist. (S. 261)

Der moderne Mensch ist Gesellschaftsmensch. Das gilt nicht nur in Bezug auf die Güterversorgung, sondern auch insofern, dass die Entwicklung der menschlichen Vernunft und des menschlichen Empfindungsvermögens nur in der Gesellschaft möglich ist.

Wenn einmal die Arbeitsteilung einsetzt, wirkt sie selbst weiter und wirkt differenzierend auf die Fähigkeiten der vergesellschafteten Menschen ein. Die Arbeitsteilung ermöglicht die Ausbildung der individuellen Begabung und macht so die Arbeitsteilung immer ergiebiger.

Die höhere Produktivität der arbeitsteilig verrichteten Arbeit ist es, die die Menschen dazu bringt, einander nicht mehr als Konkurrenten im Kampfe ums Dasein anzusehen, sondern als Genossen zur gemeinschaftlichen Forderung ihrer Wohlfahrt. Sie macht aus Feinden Freunde, aus Krieg Frieden, aus den Individuen die Gesellschaft. (S. 264)

In der arbeitsteiligen Gesellschaft kommt das Prinzip der relativen Vorteile zur Entfaltung, was zuerst für den internationalen Handel entdeckt wurde, aber ein universelles Prinzip der Assoziation darstellt. Dieser Grundsatz lautet, dass aus der Arbeitsteilung nicht nur die Begabteren und Fähigeren Vorteile erzielen, sondern auch die weniger Begabten, Unfähigeren, und sogar Faulen. Der Nutzen der Arbeitsteilung ist stets wechselseitig. Arbeitsteilung bedeutet nicht nur, dass durch sie Werke geschaffen werden, die der isoliert Arbeitende nie hervorbringen könnte.

Dieser Grundsatz lautet, dass aus der Arbeitsteilung nicht nur die Begabteren und Fähigeren Vorteile erzielen, sondern auch die weniger Begabten, Unfähigeren, und sogar Faulen.

Gesellschaft ist Mittel, nicht Zweck

Gesellschaft als Organismus existiert aus dem lebendigen Willen der Menschen. Indem die Gesellschaft auf Arbeitsteilung, also auf Zusammenarbeit beruht, ist sie nicht eine Organisation, sondern ein Organismus. Organisation wäre ein herrschaftlicher Verband, Organismus aber ist ein genossenschaftlicher. Organisation kann sich nur insoweit erhalten, als sie auf den Willen der Organisierten aufbaut und ihren Zwecken dient. Eine Organisation ist nur insoweit möglich, wie sie sich nicht gegen das Organische richtet. (S. 267)

Gesellschaft ist nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel. Die Gesellschaft dient jedem einzelnen Gesellschaftsmitglied, die eigenen Ziele zu erreichen. Gesellschaft entsteht dadurch, dass der Wille des einen und der des anderen zusammenfinden. Aus der Willensgemeinschaft entspringt die Arbeitsgemeinschaft. Indem der Einzelne das erreicht, was er will, während auch andere Mitglieder das erreichen, was sie wollen, dienen die Gesellschaftsmitglieder sich untereinander als Mittel, um das Wollen jedes Einzelnen, die eigenen Ziele zu erreichen. (S. 267)

Man kann die Gesellschaft nicht top-down organisieren. Dies wäre nicht anders, wie wenn man eine lebende Pflanze zerstückeln wollte, um aus den toten Teilen eine neue zu machen. Will man im Sinne des Kollektivismus die Gesellschaft organisieren, so muss zuerst alles gesellschaftliche Leben abgetötet werden. Genau darin bestand das Werk der Bolschewiken, nachdem sie 1917 die Macht in Russland ergriffen hatten. Sie machten sich als erstes folgerichtig daran, alle überkommenen gesellschaftlichen Bindungen aufzulösen. Sie mussten den aufgerichteten Gesellschaftsbau niederreißen, um auf den Trümmern den Neubau ausführen. So wie alle Kollektivisten scheiterten auch die Kommunisten bei ihrem Plan, denn was natürlich als Organismus besteht, lässt sich nicht organisieren.

Man kann die Gesellschaft nicht top-down organisieren.

Gesellschaft ist nicht lediglich Wechselwirkung. „Gesellschaft ist erst dort vorhanden, wo ein Wollen zum Mitwollen, ein Handeln zum Mithandeln wird“. Gesellschaft ist un-erzwungene, freiwillige Kooperation, man strebt in der Gemeinschaft Zielen zu. „Darum ist Gesellschaft nicht Zweck, sondern Mittel, Mittel jedes einzelnen Genossen zur Erreichung seiner eigenen Ziele.“ (S. 267)

In diesem Sinne ist die Grundtatsache des gesellschaftlichen Lebens, dass Gesellschaft überhaupt möglich ist, darauf zurückzufuhren, dass der Willen des einen Menschen sich mit dem Willen des anderen in einem gemeinsamen Streben finden und so aus der Willensgemeinschaft eine Arbeitsgemeinschaft wird. Weil der Einzelne sein individuelles Streben nur erreichen kann, wenn auch der Mitmensch das erreicht, was dieser will, wird das Wollen und Handeln des Mitmenschen ein Bestandteil des eigenen Handelns, um das persönliche Ziel zu erreichen. „Weil notwendigerweise mein auch sein Wollen miteinschließt, kann es gar nicht meine Absicht sein, seinen Willen zu brechen.“ (S.  268)

Aus dieser Einsicht ergibt sich der Grundsatz, dass es keinen Raum für die Antithese Individuum oder Gesellschaft, Individual- oder Sozialprinzip gibt. (S. 269)

Von allen Beschuldigungen, die man gegen das System des Freihandels und des Sondereigentums erhoben hat, ist keine törichter als die, dass es antisozial und individualistisch sei und dass es den sozialen Körper atomisiere. Der Verkehr wirkt nicht auflösend, wie die romantischen Schwärmer für Autarkie kleiner Teile der Erdoberflache behaupten, sondern verbindend. Erst die Arbeitsteilung lässt gesellschaftliche Bindung entstehen, sie ist das Soziale schlechthin. Wer für nationale und staatliche Wirtschaftsgebiete eintritt, sucht die ökumenische [umfassende] Gesellschaft zu zersetzen. Wer durch den Klassenkampf die gesellschaftliche Arbeitsteilung im Innern eines Volkes zu zerstören sucht, ist antisozial. (281)

Gesellschaftlicher Fortschritt

Die Entwicklung der Arbeitsteilung vollzieht sich gemäß der Erkenntnis, dass jeder ihrer Fortschritte die Produktivität der Arbeit steigert. Die Erweiterung und Vertiefung der Arbeitsteilung ist die Triebkraft des wirtschaftlichen Fortschritts. Dieser ökonomische Fortschritt ist auch zugleich gesellschaftlicher Fortschritt. Die Arbeitsteilung ist der Treibsatz der Vergesellschaftung. (S. 269)

Die Erweiterung und Vertiefung der Arbeitsteilung ist die Triebkraft des wirtschaftlichen Fortschritts.

Allerdings schreitet diese Entwicklungsrichtung nicht linear voran. Das liberale Prinzip der friedlichen Ausdehnung der Arbeitsteilung wurde historisch immer wieder durch das militärisch-imperialistische Prinzip durchbrochen. Dieses besteht darin, die Arbeitsteilung gewaltsam niederzuhalten.

Immer wieder erlangt das imperialistische Prinzip die Oberhand. Das liberale vermag sich ihm gegenüber nicht zu behaupten, solange die tief in den Massen verankerte Neigung zur friedlichen Arbeit sich nicht zur vollen Erkenntnis ihrer eigenen Bedeutung als Prinzip der Gesellschaftsentwicklung durchgerungen hat. Soweit das imperialistische Prinzip gilt, ist Frieden immer nur in zeitlich und örtlich beschränktem Umfange zu erreichen: er dauert nie länger als die Tatsachen, die ihn geschaffen. (S. 272)

Der menschliche Fortschritt beruht auf der Arbeitsteilung und diese braucht Freiheit und Frieden. Die imperialistischen und sozialistischen Doktrinen stehen diesem Prinzip entgegen. Aber die Ausgestaltung der Technik hängt von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab. Jedes Zeitalter kommt in der Technik so weit, als es ihm die erreichte Stufe der gesellschaftlichen Arbeitsteilung gestattet.

Technische Fortschritte sind nur möglich, wo durch die Arbeitsteilung die Voraussetzung ihrer Anwendung geschaffen wurde. (S. 273)

Nichts ist verkehrter als die marxistische These vom technologischen Unterbau der Gesellschaft. Wenn man die geschichtliche Entwicklung durch die Entwicklung der Technik zu erklären sucht, wird das Problem nur verschoben, denn die treibenden Kräfte der technischen Entwicklung bedürften dann erst recht einer besonderen Erklärung. Vielmehr ist so, dass die Ausgestaltung der Technik von den gesellschaftlichen Verhältnissen abhängt. Die bedeutet, dass jedes Zeitalter in der Technik nur so weit kommt, wie es ihm die erreichte Stufe der gesellschaftlichen Arbeitsteilung gestattet. (S. 273)

Mit der Ablehnung der Arbeitsteilung setzen die Marxisten, Sozialisten, Nationalisten, Militaristen und Öko-Sozialisten den Kampf fort, der von den Romantikern begonnen wurde. Bei diesen wird der arbeitsteiligen Gesellschaft, die jeden Menschen zu einem Geschäftsmann macht, das Bild des scheinbaren harmonisch mit der Natur verbundenen „Agrariers“ entgegengestellt und bestenfalls noch gediegenes Handwerk gelten gelassen.

Mit der Ablehnung der Arbeitsteilung setzen die Marxisten, Sozialisten, Nationalisten, Militaristen und Öko-Sozialisten den Kampf fort, der von den Romantikern begonnen wurde.

So wie die Romantiker ignorieren auch die Marxisten und Sozialisten aller Ausprägungen den Umstand, dass die Arbeit auf einem niedrigeren Niveau der Teilung nicht nur ebenfalls Anstrengung, Verzicht und Mühsal bedeutet, sondern dass, ohne das Arbeitsleid zu mindern, auch die Erträge der Arbeit niedriger sind. Jede Rückentwicklung der Arbeitsteilung bedeutet, dass die Produktivität der Arbeit herabgesetzt wird.

Es ist eine Illusion zu glauben, man konnte ohne Verminderung der Ergiebigkeit der Arbeit zur Rückbildung der Arbeitsteilung schreiten. (S. 275)

Mises betont, dass gesellschaftliche Entwicklung als Entwicklung der Arbeitsteilung zu betrachten ist und so vom Willen der Menschen abhängt. Wenn dieser Wille fehlt, zerfällt die Gesellschaft, sie desintegriert. Wirtschaftlicher Niedergang und gesellschaftlicher Zerfall kommen durch die Rückbildung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zustande. Völker sterben, wenn der Wille zum gesellschaftlichen Zusammenleben schwindet.

Der soziale Geist, der Geist der gesellschaftlichen Kooperation, ist es, der Gesellschaften bildet, weiterentwickelt und zusammenhält. Sobald er schwindet, fällt auch die Gesellschaft wieder auseinander. Völkertod ist gesellschaftliche Rückbildung, ist Entwicklung von der Arbeitsteilung zur Selbstgenügsamkeit. Der Gesellschaftsorganismus zerfällt wieder in die Zellen, aus denen er entstanden ist. Die Menschen bleiben, die Gesellschaft stirbt. (S. 280)

Insofern wie die Scheidung der Individuen in Eigentümer und Nichteigentümer ein Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist, ist sie auch das Ergebnis der höheren Produktivität der Arbeitsteilung. Wer das marktwirtschaftlich entstandene Einkommen umverteilt, muss eine Minderung der Produktivität in Kauf nehmen. Am Ende ist es so, dass auch die scheinbar durch die Umverteilung bevorzugten Klassen zu Verlierern werden. Die Idee des Klassenkampfes ist nicht nur schädlich, sie ist von vornherein unsinnig, weil sie über das Wesen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung hinwegsieht.

Das liberale Prinzip der friedlichen Ausdehnung der Arbeitsteilung wurde historisch immer wieder durch das militärisch-imperialistische Prinzip durchbrochen. Dieses besteht darin, die Arbeitsteilung gewaltsam niederzuhalten.

Fazit

In der heutigen Öffentlichkeit ist das Bewusstsein für die Bedeutung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung immer weniger präsent und eine der wichtigen Ursachen für die Fehlleistungen der Wirtschaftspolitik beziehungsweise dafür, dass nicht erkannt wird, wozu diese Wirtschaftspolitik führt, wenn es sich nicht um „Fehler“ handelt, sondern die Auswirkungen aus Sicht der politischen Akteure beabsichtigt sind. Anstatt den Wert der gesellschaftlichen Kooperation hervorzuheben, betont man in den Leitmedien und der Politik den Konflikt. Selbst in der Volkswirtschaftslehre werden die absoluten und relativen Vorteile der Arbeitsteilung nur für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen systematisch erörtert. Dabei ist die Arbeitsteilung das Grundprinzip des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Ihr wirtschaftlicher Nutzen besteht darin, dass die marktlich geleitete Ausweitung der Arbeitsteilung gesamtwirtschaftliche Produktivitätsgewinne hervorruft. Der Arbeitsertrag steigt selbst ohne zusätzlichen Ressourceneinsatz. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung legt so auch den Grundstock für die Kapitalbildung und den technischen Fortschritt. Man kann somit sagen, dass die Arbeitsteilung die hauptsächliche Quelle des Wohlstands darstellt. Im Umkehrschluss gilt, dass solche Maßnahmen, angefangen von der Steuerpolitik bis zu Sanktionen, die die nationale und internationale Arbeitsteilung einschränken, zur Verarmung beitragen.

Dies ist der sechste Teil der Artikelreihe zu Ludwig von Mises‘ Buch „Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus“. Den fünften Teil finden Sie hier.

Dr. Antony P. Mueller ist habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg und Professor der Volkswirtschaftslehre an der brasilianischen Bundesuniversität UFS (www.ufs.br). Vor kurzem erschien sein Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie: Chancen einer Gesellschaftsordnung jenseits von Staat und Politik“ . Kontakt: antonymueller@gmail.com

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.

Titel-Foto: Adobe Stock

 

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