Zuruf aus der Schweiz: „Die Schweiz und Europa“
4. August 2021 – von David Dürr
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Hat die Schweiz ein grundsätzliches Problem mit Europa? Eine Frage, die man zurzeit wieder einmal intensiver diskutiert, vor allem seit dem kürzlichen Scheitern des sogenannten «Institutionellen Rahmenabkommens». Da war man doch seit Jahren zwischen Bern und Brüssel in Verhandlungen, um die verschiedenen rein sektoriellen Freizügigkeitsabkommen in einen institutionellen Gesamtrahmen zu stellen; da hatte man doch den Vertragstext schon unterschriftsbereit ausgearbeitet; als die schweizerische Regierung plötzlich die Reissleine zog und die Verhandlungen als gescheitert bezeichnete. Sie hatte gesehen, dass das Abkommen im innerschweizerischen, direktdemokratischen Meinungsbildungsprozess keine Chance haben würde. Mochte noch die «Politik» mehrheitlich dafür sein, das Volk würde sich querstellen. Dann lieber gleich gar nicht in diesen Meinungsbildungsprozess einsteigen und sich dabei eine blutige Nase holen.
Problemfall «Europäische Union»
Also nochmals: Hat die Schweiz ein grundsätzliches Problem mit Europa? – Nein, mit Europa im Sinn dieses Kontinents mit seinen 750 Millionen Menschen in etwa 50 Ländern, die man aus persönlichen, touristischen, wirtschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen Kontakten kennt und schätzt, hat man in der Schweiz überhaupt kein Problem. Sehr wohl ein Problem gibt es aber mit der doch sehr problematischen Organisation, die sich «Europäische Union» nennt:
Einheitsbrei
Schon nur der Name «Union» ist absurd für einen Kontinent, in dem es nüchterne Nordländer und temperamentvolle Südländer, frankophone Zentralisten und slawische Nationalisten, emsige Arbeitsbienen und bequeme Geniesser, Katholiken und Protestanten, Griechischorthodoxe und Muslime, Russischorthodoxe und Juden, Evangelikale und Atheisten, Staatsgläubige und Anarchisten, Sozialisten und Kapitalisten gibt. Das ist nicht Union, sondern Pluralität, nicht platte Einheit, sondern ausgeprägte Vielfalt. Offenbar bezweckt diese «Europäische Union», aus all dem einen Einheitsbrei zu rühren, was nicht nur den Reichtum der Vielfalt zerstört, sondern vor allem auch die kulturelle, wissenschaftliche und wirtschaftliche Produktivität des permanenten Wettbewerbs ausschaltet.
Demokratiedefizit
Ein weiteres Problem der «Europäischen Union» liegt in ihrem demokratischen Defizit. Gegründet und in verschiedenen Schritten weiterentwickelt wurde sie von keiner einzigen Volksabstimmung; es waren jeweils Regierungen oder Gremien der EU selbst, welche die Entscheidungen trafen. Und soweit es vereinzelt zu EU-bezogenen Volksabstimmungen in europäischen Ländern kam, fielen sie meistens gegen die EU aus. Das heute bekannteste Beispiel ist die Brexit-Volksabstimmung der Briten.
Wirtschaftsbehinderung
Auffällig ist auch die Diskrepanz zwischen der Zielsetzung, mit der die EU angetreten war, und dem, was daraus geworden ist. Das Ziel war wirtschaftliche Freizügigkeit, ein möglichst freies Zirkulieren von Personen, Waren und Dienstleistungen, idealerweise so, wie wenn es keine Landesgrenzen mehr gäbe. Das hätte eigentlich dazu führen müssen, dass im internationalen Verkehr die jeweils weniger weit gehende Regulierung den Benchmark setzt und damit so etwas wie eine Spirale des Regulierungsabbaus einsetzt. Eingetreten ist das Gegenteil, indem die nationalen Regulierungen durch EU-weite Einheitsregulierungen ersetzt wurden mit der Konsequenz, dass mangels Deregulierungswettbewerb nur umso kräftigere Regulierungswucherungen stattfinden.
Finanzproblem
Und um noch ein viertes Problem der «Europäischen Union» zu nennen: Ihre finanzielle Schieflage; nicht nur, dass sie unter ihren Dutzenden von Finanzierungsprogrammen auch so grosse Brocken wie billionenschwere Klima-, Covid- und Katastrophenschutzwohltaten verspricht, sondern dass sie all dieses Geld ja gar nicht hat, nie und nimmer erwirtschaften wird und es deshalb aus dem nichts hervorzaubern wird; sozusagen bei ihrer Hausdruckerei namens Europäische Zentralbank.
Dass eine solche Organisation der vielfältigen, demokratischen, freiheitlichen und profitablen Schweiz nicht passt, leuchtet doch wohl ein.
Problemfall «Schweizerische Eidgenossenschaft»
Merkwürdig ist allerdings, dass es in der Schweiz eine andere, aber ebenso dominierende Organisation gibt, die genau gleich vereinheitlichend, undemokratisch, freiheitseinengend und wirtschaftlich marode ist wie die EU, nämlich die Organisation «Schweizerische Eidgenossenschaft»:
Einheitsbrei
So klein die Schweiz ist, so hat sie nicht weniger als vier Landessprachen, hat sie viele kleine Kantone, teilweise gar in Halbkantone aufgeteilt, hat sie mehrere Religionen und politische Ansichten, hat sie nüchterne Deutschschweizer und mediterrane Lateinischschweizer. Gänzlich quer zu dieser Vielfalt haben im Jahr 1848 die protestantischen Sieger des damaligen Sonderbundskriegs die katholischen Verlierer mit einem völkerrechtswidrigen Mehrheits- statt Einstimmigkeitsentscheid in einen neuen Bundesstaat gezwungen mit dem Namen «Schweizerische Eidgenossenschaft». Seither wuchert ein uniformierender Zentralismus zulasten kantonaler Vielfalt immer weiter. Am Nationalfeiertag beschönigt man dann die illegitime Zwangseinheit mit der skurrilen Etikette «Willensnation».
Demokratiedefizit
So «direktdemokratisch» sich die Schweiz gern gibt, sie ist es kaum mehr als die EU. Sachabstimmungen gibt es zwar hin und wieder, sie betreffen aber nicht einmal ein Prozent aller staatlichen Erlasse; drei Viertel von diesen werden ohnehin von der Regierung erlassen, die übrigens (auf Bundesebene) nicht etwa vom Volk, sondern von den «Volksvertretern» gewählt wird. Und apropos «Vertreter»: Vertreter im Sinn von Gesandten eines souveränen Volks sind diese Parlamentarier ohnehin nicht. Wenn schon sind sie Vertreter im Sinn von Vormündern, die nicht von den Vertretenen beauftragt werden, sondern diesen ihre Selbst-Zuständigkeit absprechen.
Wirtschaftsbehinderung
So freizügig (mit Ausnahmen) die Personen- und Wirtschaftsmobilität innerhalb der Schweiz auch ist, von einer Spirale des interkantonalen Regulierungsabbaus kann keine Rede sein. Die laufend zunehmenden Bundes- gegenüber den Kantonskompetenzen haben einen mit der EU vergleichbaren Effekt, nämlich dass ein interkantonal deregulierender Wettbewerb weitgehend ausgeschaltet wird. Und wo noch Reste etwa von Steuerwettbewerb zwischen Kantonen und teilweise auch Gemeinden bestehen, setzt der politische Mainstream alles daran, diesen immer weiter abzubauen.
Finanzproblem
Und so stabil auch der Ruf des Schweizer Frankens im Vergleich zu anderen Währungen ist, so unbeschwert lebt auch die Schweizerische Eidgenossenschaft von Geld, das sie mit ihrer Nationalbank selber druckt. Ihre Bilanz, würde sie nach den gleichen Kriterien beurteilt, wie sie das schweizerische Recht für andere Firmen vorschreibt – zum Beispiel mit einer realistischen Rückstellung für künftige Lücken des Rentensystems – müsste sofort dem Konkursrichter vorgelegt werden. Und dieser käme nicht umhin, die konkursamtliche Abwicklung der Schweizerischen Eidgenossenschaft anzuordnen, aller Voraussicht nach mit massiven Ausfällen für die Gläubiger.
Also müsste doch eigentlich die Schweiz nicht nur die nähere Einbindung in die Europäische Union meiden, sondern zügig sich dem Austritt aus der Schweizerischen Eidgenossenschaft zuwenden.
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Prof. Dr. iur. David Dürr lehrt Privatrecht und Rechtstheorie an der Universität Zürich und ist Wirtschaftsanwalt und Notar in Basel. Studiert hat er an den Universitäten Basel und Genf sowie an der Harvard Law School. Er publiziert regelmäßig zu den Themen Privatrecht, Rechtstheorie und Methodenlehre. Nebst zahlreichen Sachbüchern und Artikeln veröffentlichte er unter anderem auch die Politsatire „Staats-Oper Schweiz – wenige Stars, viele Staatisten” (2011) sowie eine Auswahl seiner regelmäßigen anarchistischen Kolumnen bei der Basler Zeitung unter dem Titel „Das Wort zum Freitag” (2014). David Dürr ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des „Ludwig von Mises Institut Deutschland”.
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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.
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