Wo ist die Preisinflation und woher kommt sie?
23.08.2021 – von Karl-Friedrich Israel
Preise für Güter und Dienstleistungen bilden sich aus Angebot und Nachfrage. Bei einem gegebenen Angebot und steigender Nachfrage steigt der Preis eines Gutes. Bei steigendem Angebot und gleichbleibender Nachfrage sinkt er. Das ist das kleine Einmaleins der mikroökonomischen Preisbildung. Für einzelne Güter und Dienstleistungen ist das Wechselspiel aus Angebot und Nachfrage noch recht überschaubar. Fasst man jedoch mehrere Märkte oder gar die gesamte Volkswirtschaft ins Auge, wird es sehr schnell kompliziert.
Angebot und Nachfrage von Gütern und Dienstleistungen sind keine unabhängigen Größen. Die Nachfrage nach einem Gut kommt immer in Relation zum Angebot und zur Nachfrage nach anderen Gütern zum Ausdruck. Zum Beispiel hängt die private Nachfrage nach Küchenzubehör von den Angebots- und Nachfragebedingungen in der Gastronomie ab. Wenn Restaurantbesuche als zu teuer empfunden werden oder gar unmöglich sind, werden Speisen vermehrt am heimischen Herd vorbereitet, was die private Nachfrage nach Küchengeräten und -zubehör erhöht.
Wenn das am Markt verfügbare Bauholz durch Lieferengpässe im Verhältnis zur herrschenden Nachfrage knapp wird und sein Preis entsprechend steigt, dann kann sich die Nachfrage hin zu anderen Baustoffen verschieben. Es handelt sich um sogenannte Substitute, in diesem Fall zum Beispiel bestimmte Kunststoffe und Metalle. Die Preise dieser Substitute werden dann durch die erhöhte Nachfrage tendenziell steigen. So kann sich ein Angebotsengpass bei einem Baustoff auch steigernd auf die Preise anderer Baustoffe auswirken. Bei Gütern, die hingegen komplementär zum Baustoff Holz sind – die also oft in Verbindung mit Holz verwendet werden, zum Beispiel Nägel – gibt es den gegenteiligen Effekt. Da aufgrund des Angebotsengpasses weniger Holz verwendet wird, geht der Bedarf und die Nachfrage nach Nägeln zurück, und daher sinkt tendenziell ihr Preis.
Manche Güter und Dienstleistungen stehen innerhalb des komplexen Marktgefüges in engerer Beziehung zueinander als andere. Aber sie haben allesamt ein verbindendes Element. Das Angebot und die Nachfrage nach jedem Gut stehen in direkter Beziehung zum Angebot und zur Nachfrage nach Geld. Das Geld einer Volkswirtschaft ist das Bindeglied, das alle Märkte zusammenhält. Die Nachfrage nach einem Gut drückt sich typischerweise in Form einer Zahlungsbereitschaft aus, also einer Bereitschaft, Geld zu zahlen bzw. im Tausch anzubieten. Das Angebot eines Gutes drückt sich wiederum in einer Geldforderung oder Nachfrage nach Geld aus. Ein Verkäufer oder Käufer bewertet ein Gut also immer in Relation zum Wert des Geldes, das er dafür erhält oder zahlen muss. Und der Wert des Geldes bemisst sich wiederum maßgeblich am eigenen Geldbestand, dem erwarteten zukünftigen Einkommen, dem allgemeinen Preisniveau – also den Preisen aller Güter und Dienstleistungen – und der erwarteten zukünftigen Preisentwicklung. Wieviel Geld man für die Zukunft halten möchte, hängt also maßgeblich mit den Fragen zusammen, was und wieviel man damit kaufen kann, und wie lange noch.
Damit sollte klar sein, dass jede beobachtbare Veränderung im Preisniveau eine Vielzahl möglicher Ursachen haben kann, insbesondere dann, wenn wir von kurzfristigen Veränderungen sprechen. So ist es auch mit der seit Jahresbeginn ansteigenden Preisinflation, die im harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) zutage tritt und bereits einige Wellen in der öffentlichen Diskussion geschlagen hat. Sie ist der kombinierte Effekt vieler verschiedener Ursachen.
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Eine wichtige Nachwirkung der Lockdowns sind in der Tat Angebotsengpässe. Diese zeigen sich im Moment noch sehr viel stärker im Erzeugerpreisindex, wo es im Mai 2021 bei Vorleistungsgütern (Produktionsfaktoren, die man manchmal auch intermediäre Kapitalgüter nennt) eine Teuerungsrate von fast 11% im Vergleich zum Vorjahr gegeben hat. Diese Engpässe werden sich kurz- bis mittelfristig sehr wahrscheinlich auch auf die Konsumgüter und -dienstleistungen übertragen und auch dort zu höheren Teuerungsraten führen.[1] Dort beobachten wir bislang, gemessen am HVPI, zwar steigende, aber immer noch relativ moderate Inflationsraten. Im Juli stieg der HVPI auf ein Niveau, das 2,1% über dem Vorjahreswert liegt. Einige Experten erwarten Steigerungsraten von bis zu 4% bis Jahresende.
Ein weiterer Aspekt ist die erhöhte Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen, die sich nach einer längeren Phase der Konsumzurückhaltung über die letzten Monate entfaltet hat und sich in einer nun höheren Zahlungsbereitschaft ausdrückt. Auch dies erklärt einen Teil der sich beschleunigenden Preisinflation.
Hinzu kommen zahlreiche statistische Sondereffekte, die auf die Berechnungsweise des Indizes zurückzuführen sind. So gelten zum Beispiel seit Beginn des Jahres 2021, mit wenigen Ausnahmen, wieder die alten Mehrwertsteuersätze, die in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 temporär gesenkt wurden. Die Senkung hat im zweiten Halbjahr 2020 die gemessenen Inflationsraten zunächst nach unten gedrückt. In der ersten Hälfte des Jahres 2021 hatte die Wiedereinführung der alten Mehrwertsteuersätze den gegenteiligen Effekt.
All diese Erklärungsansätze haben einen wahren Kern. Sie täuschen aber über den Elefanten im Porzellanladen hinweg. Sie können kleinere kurzfristige Ausreißer im HVPI erklären. Sie können aber nicht erklären, warum es in so vielen Bereichen der Volkswirtschaft gleichzeitig zu Inflationsraten kommt, die noch weit über die Konsumentenpreisinflation hinausgehen. Der Elefant ist die durch das Eurosystem vorangetriebene Geldmengenausweitung. Zwischen Februar 2020 und Juni 2021 ist die Geldmenge M1, die aus Bargeld in Zirkulation (außerhalb der Bankreserven) und Sichteinlagen bei Geschäftsbanken besteht, um 18,9% gestiegen. Auf ein Jahr umgerechnet, entspricht dies einer Wachstumsrate von 13,8%. Die Geldmenge, die für direkte Ausgaben zur Verfügung steht und jederzeit in die Nachfrage von Gütern und Dienstleistungen fließen kann, ist also rasant gestiegen. Bereits seit Januar 2010 beträgt die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von M1 7,9%.[2] Man sollte sich daher nicht fragen, woher die höheren Inflationsraten bei den Konsumentenpreisen kommen, sondern vielmehr, warum sie nicht schon bereits viel höher sind.
Auch das kann verschiedene Gründe haben. Wenn man annimmt, dass der HVPI keine nennenswerten Messfehler aufweist, dann kann es schlichtweg daran liegen, dass die Nachfrage nach Geld gestiegen ist.[3] Das wäre ein typisches Krisenphänomen. Bei großer Unsicherheit erhöhen viele Menschen ihre Geldhaltung. Insofern zusätzliches Geld einfach in bar oder auf Konten gehortet wird, führt es kurzfristig eben nicht zu einer erhöhten Zahlungsbereitschaft und somit einer stärkeren Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. In diesem Fall hat es vorerst keinen steigernden Effekt auf das Preisniveau.
Der zweite Erklärungsansatz verweist darauf, dass viel höhere Inflationsraten sehr wohl bereits zu beobachten sind, nur halt nicht bei den Konsumentenpreisen. Das zusätzliche Geld fließt in andere Bereiche und verharrt nicht schlechterdings auf Bankkonten und in Barbeständen.
So ist der deutsche Aktienindex bis heute[4] im Vergleich zum Vorjahr stetig gestiegen, insgesamt um 21,9%. In Anbetracht der langandauernden Lockdowns und der fortwährenden Gefahr erneuter Schließungen ist dieser Anstieg sehr wahrscheinlich nicht auf realisierte oder erwartete Produktivitätsgewinne zurückzuführen, sondern im Wesentlichen inflationsgetrieben. Diese Entwicklungen sind auch in anderen Vermögensmärkten zu verzeichnen.
Der Preisindex für den Neuerwerb von Wohneigentum des statistischen Bundesamtes ist allein im ersten Quartal 2021 um 2,9% gestiegen. Auf ein Jahr hochgerechnet entspricht dies einer Teuerungsrate von 12,2%. Noch gravierender ist die Entwicklung beim Index für die Instandhaltung von Wohnimmobilien. Dieser ist im ersten Quartal 2021 um 4,3% gestiegen, was einer jährlichen Preissteigerungsrate von 18,3% entspricht. Beim Index für Bauleistungen an Wohngebäuden des statistischen Bundesamtes stehen bereits Daten für das zweite Quartal 2021 zur Verfügung. Der Gesamtindex ist im ersten Halbjahr 2021 um 8,3% gestiegen, was einer jährlichen Teuerungsrate von 17,3% entspricht. Es wird also nicht nur der Neuerwerb von Wohnimmobilien erheblich teurer, sondern auch die Instandhaltung einer Wohnimmobilie, die man bereits besitzt.
Dies kann an einigen Teilindizes noch besser verdeutlicht werden. Zimmer- und Holzbauarbeiten an Wohnimmobilien haben sich im ersten Halbjahr 2021 mit einer auf das Jahr hochgerechneten Rate von 67,1% verteuert. Dies hängt nicht ausschließlich mit der allgemeinen Bauholzknappheit zusammen. Auch Klempnerarbeiten (20,4%), Trockenbauarbeiten (15,6%), Abdichtungsarbeiten (14,4%), Fliesen- und Plattenarbeiten (10,7%) und viele weitere Instandhaltungsmaßnahmen, die in regelmäßigen Abständen notwendig werden, haben sich ganz erheblich verteuert. Auch diese Entwicklungen schmälern die reale Kaufkraft vieler Haushalte.
Die ansteigende Preisinflation, die seit Beginn des Jahres im harmonisierten Verbraucherpreisindex zutage tritt, ist nur die Spitze des Eisbergs. Es wird sich zeigen wie schnell die Konsumentenpreise in den kommenden Monaten steigen. Es steht fest, dass die Preisinflation in vielen Bereichen bereits jetzt aus dem Ruder gelaufen ist, und die treibende Kraft hinter dieser Entwicklung ist die Ausweitung der Geldmenge durch das Eurosystem. Sie führt zur schleichenden, sich nun beschleunigenden Entwertung der realen Einkommen vieler Haushalte.
[1] So argumentieren jedenfalls Christoph-Martin Mai und Nadin Sewald im Podcast des statistischen Bundesamtes „StatGespräch“: https://www.destatis.de/DE/Mediathek/Podcasts/StatGespraech/statgespraeche_folge1.html
[2] Das bedeutet, dass sich die Geldmenge M1 von Januar 2010 bis Juni 2021 mehr als verdoppelt hat. Sie ist um 137,0% gestiegen, von etwas mehr als 4,5 Billionen € auf fast 10,8 Billionen €.
[3] Hierbei ist nicht die Tauschnachfrage nach Geld gemeint, die der Verkäufer eines Gutes durch eine Geldforderung zum Ausdruck bringt, sondern die sogenannte Rückhaltungsnachfrage, die ein Geldbesitzer dadurch zum Ausdruck bringt, dass er sein Geld nicht ausgibt, sondern hortet.
[4] Als Referenzzeitpunkt gilt hier der 11. August 2021, 13:00 Uhr, mit einem DAX-Wert von 15763.
Dr. Karl-Friedrich Israel ist Assistenzprofessor an der Katholischen Universität des Westens in Angers, Frankreich. Er hat Volkswirtschaftslehre, Angewandte Mathematik und Statistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, der ENSAE ParisTech und der Universität Oxford studiert. Er wurde 2017 an der Universität Angers bei Professor Dr. Jörg Guido Hülsmann promoviert und unterrichtete dort an der Fakultät für Recht und Volkswirtschaftslehre von 2016 bis 2018 als Dozent. Von 2018 bis 2020 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig.
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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.
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