Die Moralisten und der Kapitalismus

13. Januar 2021 – von Ludwig von Mises

[Hier können Sie diesen Beitrag als Podcast hören.]

Ludwig von Mises (1881 – 1973)

Die Feindschaft, die durch die Verteidiger des Antisäkularismus der modernen Lebensweise entgegengebracht wird, zeigt sich in der Verdammung des Kapitalismus als einem ungerechten System.

In der Meinung des Sozialisten sowie der Interventionisten behindert die Marktwirtschaft die volle Nutzung der Leistungen der Technik und hindert so die Entwicklung der Produktion und verringert die Menge der Güter, die für den Konsum produziert und zur Verfügung gestellt wird. In früheren Tagen leugneten die Kritiker des Kapitalismus nicht, dass eine gleiche Verteilung des Sozialprodukts unter allen kaum eine bemerkenswerte Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung hervorbringen würde. In ihren Plänen spielte die gleiche Verteilung eine untergeordnete Rolle. Sie dachten, Wohlstand und Reichtum für alle, die sie versprachen, waren zu erwarten, wenn die Produktivkräfte erst von allen Fesseln befreit sein würden, die ihnen von der kapitalistischen Selbstsucht angeblich aufgezwungen worden waren. Der Zweck der Reformen, die sie vorschlugen, bestand darin, den Kapitalismus durch ein effizienteres Produktionssystem zu ersetzen und dadurch ein Zeitalter des Reichtums für alle einzuleiten.

Nun, da ökonomische Analysen die Illusionen und Irrtümer der sozialistischen und interventionistischen Verdammung des Kapitalismus herausgestellt haben, versuchen sie ihre Programme zu retten, indem sie zu einer anderen Methode greifen. Die Marxisten haben die Lehre von der Unvermeidlichkeit des Sozialismus entwickelt, und die Interventionisten, die ihrem Kielwasser folgen, sprechen von der Unumkehrbarkeit des Trends zu immer weiterer Einmischung der Regierung in ökonomische Angelegenheiten. Es ist offensichtlich, dass dieser Notbehelf nur dazu konstruiert wurde, ihre intellektuelle Niederlage zu verdecken und die Aufmerksamkeit des Publikums von den verheerenden Konsequenzen der sozialistischen und interventionistischen Politik abzulenken.

Ähnliche Motive treiben jene, die den Sozialismus und Interventionismus aus moralischen und religiösen Gründen verteidigen. Sie betrachten es als über die Pflicht hinausgehend, die involvierten ökonomischen Probleme zu überprüfen, und sie versuchen, die Diskussion des Für und Wider der Marktwirtschaft und das Feld der ökonomischen Analyse zu verschieben auf das, was sie eine höhere Ebene nennen. Sie lehnen den Kapitalismus als ein ungerechtes System ab und verteidigen entweder den Sozialismus oder den Interventionismus als mit ihren moralischen oder religiösen Prinzipien übereinstimmend. Es ist abscheulich, sagen sie, die menschlichen Angelegenheiten vom Standpunkt der Produktivität, des Profits oder einem materialistischen Gesichtspunkt des Wohlstands und reichlicher Versorgung mit materiellen Gütern zu bewerten. Der Mensch soll nach Gerechtigkeit, nicht nach Wohlstand streben.

Die Argumentationsweise wäre folgerichtig, wenn sie der Armut einen innewohnenden moralischen Wert beimessen würde und das Streben, den Lebensstandard über ein Niveau der bloßen Lebenserhaltung zu heben, insgesamt verdammen würde. Die Wissenschaft könnte einem solchen Werturteil nicht widersprechen, da Werturteile endgültige Wahlentscheidungen auf Seiten des Individuums sind, das sie ausspricht.

Jedoch zieht eine solche Ablehnung des Kapitalismus von einem moralischen und religiösen Standpunkt den Mangel nicht dem Wohlergehen vor. Im Gegenteil, sie sagen ihrer Herde, sie wollten das materielle Wohlergehen der Menschen heben. Sie sehen es als die Hauptschwäche des Kapitalismus an, dass er die Massen nicht mit dem Maß an Wohlergehen versorgt, das, wie sie es sehen, der Sozialismus oder Interventionismus bereitstellen könnte. Ihre Verdammung des Kapitalismus und ihre Forderung nach Sozialismus oder Interventionismus wird den Lebensstandard des kleinen Mannes heben, nicht senken. So befürworten diese Kritiker des Kapitalismus allesamt die Lehren der Sozialisten und Interventionisten, ohne sich zu bemühen, eingehend zu prüfen, was die Ökonomen vorgetragen haben, sie zu diskreditieren. Den einzigen Fehler, den sie in den Grundsätzen des marxistischen Sozialismus und der säkularen Parteien des Interventionismus finden, ist deren Verbundenheit mit dem Atheismus oder Säkularismus.

Es ist offensichtlich, dass die Frage, ob dem Wohlergehen besser durch den Kapitalismus, Sozialismus oder Interventionismus gedient ist, nur durch eine sorgfältige Zergliederung der Wirkungsweise eines jeden dieser Systeme entschieden werden kann. Das ist es, was die Nationalökonomie vollbringt. Es hat keinen Zweck diese Themen zu behandeln, ohne all das, was die Nationalökonomie dazu zu sagen hat, in vollem Umfang zu berücksichtigen.

Es ist berechtigt, wenn Ethik und Religion den Leuten sagen, dass sie von dem Wohlstand, den der Kapitalismus ihnen bringt, einen besseren Gebrauch machen sollen; wenn sie versuchen, die Gläubigen an Stelle der anstößigen Gewohnheiten des Prassens, Trinkens und Spielens zu einem besserem Ausgabeverhalten anzuleiten; wenn sie Lügen und Betrügen verdammen und die moralischen Werte reiner Familienbeziehungen und der Barmherzigkeit gegenüber den Notleidenden loben. Aber es ist unverantwortlich, ein Gesellschaftssystem zu verdammen und seine Ersetzung durch ein anderes zu fordern, ohne die ökonomischen Konsequenzen eines jeden voll untersucht zu haben.

In keiner ethischen Lehre oder in den Glaubensrichtungen, die auf den Zehn Geboten fußen, findet sich etwas, was die Verurteilung eines ökonomischen Systems rechtfertigt, das die Bevölkerung vervielfacht hat und die Massen in den kapitalistischen Ländern mit dem höchsten Lebensstandard versorgt, der jemals in der Geschichte erreicht wurde. Auch vom religiösen Standpunkt aus sprechen das Sinken der Kindersterblichkeit, die Verlängerung der durchschnittlichen Lebenszeit, der erfolgreiche Kampf gegen Seuchen und Krankheiten, das Verschwinden von Hungersnöten, Analphabetismus und Aberglauben zu Gunsten des Kapitalismus. Die Kirchen beklagen zurecht die Massenarmut in den ökonomisch rückständigen Ländern. Sie befinden sich aber in einem üblen Irrtum, wenn sie vermuten, dass etwas die Armut dieser bedauernswerten Menschen auslöschen kann, außer der bedingungslosen Übernahme des Systems des Gewinnstrebens der Großunternehmen, das heißt, der Massenproduktion zur Befriedigung der Bedürfnisse der Vielen.

Einem gewissenhaften Moralisten oder Kirchenmann würde es nicht in den Sinn kommen, sich in einen Meinungsstreit über technologische oder therapeutische Methoden einzulassen, ohne sich mit allen damit verbundenen physikalischen, chemischen und physiologischen Problemen vertraut gemacht zu haben. Doch viele von ihnen denken, dass ökonomische Unwissenheit kein Hindernis für die Behandlung ökonomischer Probleme ist. Sie glauben, dass Probleme der ökonomischen Organisation einer Gesellschaft ausschließlich vom Standpunkt einer vorgefassten Idee der Gerechtigkeit betrachtet werden können und ohne das zu beachten, was sie die schäbigen materialistischen Sorgen um ein angenehmes Leben nennen. Sie fordern die eine Politik, lehnen die andere ab und kümmern sich nicht über die Folgen, die sich aus der Übernahme ihrer Empfehlungen ergeben.

Die Gleichgültigkeit gegenüber der Wirkung einer Politik, sei es die einer abgelehnten oder einer geforderten, ist absurd. Denn die Moralisten und die christlichen Vertreter des Antikapitalismus befassen sich nicht mit der ökonomischen Organisation der Gesellschaft aus einer reinen Laune heraus. Sie streben nach der Reform der bestehenden Lage, weil sie eine bestimmte Wirkung erzielen wollen. Was sie die Ungerechtigkeit des Kapitalismus nennen, ist der mutmaßliche Tatbestand, dass er weit verbreitete Armut und Not verursacht. Es ist daher vom Standpunkt ihrer eigenen Werturteile und den Zielen, die sie bestrebt sind zu erreichen, inkonsequent, nur das ins Auge zu fassen, was sie einen höheren Standard an Gerechtigkeit und Moral nennen und die ökonomische Analyse sowohl des Kapitalismus als auch der antikapitalistischen Politik zu ignorieren. Ihr Bezeichnen des Kapitalismus als ungerecht und der antikapitalistischen Maßnahmen als gerecht ist völlig willkürlich, da es keinen Zusammenhang mit den einzelnen wirtschaftspolitischen Programmen hat.

In Wahrheit hat diese Bekämpfung des Kapitalismus als einem System, das den moralischen und religiösen Prinzipien widerspricht, unkritisch und leichtfertig alle ökonomischen Lehren der Sozialisten und Kommunisten übernommen. Wie die Marxisten führen sie alle Gebrechen – die ökonomischen Krisen, Arbeitslosigkeit, Armut, Verbrechen und viele andere Übel – auf das Wirken des Kapitalismus zurück, und alles, was zufrieden stellt – der höhere Lebensstandard in den kapitalistischen Ländern, der technologische Fortschritt, das Sinken der Sterblichkeitsrate und so weiter – auf die Arbeit der Regierung und der Gewerkschaften. Sie haben unwissentlich alle Grundsätze des Marxismus minus seinem – bloß nebensächlichen – Atheismus übernommen. Diese Unterwerfung der philosophische Ethik und der Religion unter die antikapitalistischen Lehren ist der größte Triumph der sozialistischen und interventionistische Propaganda. Sie muss dazu führen, philosophische Ethik und Religion zu bloßen Helfern der Kräfte zu degradieren, die nach der Zerstörung der westlichen Zivilisation trachten. Die Moralisten und Kirchenleute leisten der Sache des Sozialismus und Interventionismus einen kostenlosen Dienst, wenn sie den Kapitalismus ungerecht nennen und erklären, dass seine Abschaffung Gerechtigkeit herstellen wird, und sie befreien sie aus ihrer größten Verlegenheit, aus der Unmöglichkeit, die Kritik der Ökonomen an ihren Plänen durch diskursive Argumentation zu widerlegen.

Es muss ständig wiederholt werden, dass keine Begründung, die auf den Prinzipien der philosophischen Ethik oder dem christlichen Glauben fußt, ein ökonomisches System als grundlegend ungerecht ablehnen kann, das erfolgreich die materiellen Lebensbedingungen aller Menschen verbessert, und das Prädikat „gerecht“ keinem System zuerkennen darf, das Armut und Hunger verbreitet. Die Bewertung eines ökonomischen Systems muss auf der sorgfältigen Analyse seiner Wirkungen im Hinblick auf das Wohlbefinden der Menschen getroffen werden, nicht durch Appell an ein willkürliches Konzept der Gerechtigkeit, welches unterlässt, diese Wirkungen in vollem Umfang zu würdigen.

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Entnommen aus Ludwig von Mises, „Theorie und Geschichte“, Akston Verlag, S. 333 – 337.

Ludwig von Mises, geb. 1881 in Lemberg, war der wohl bedeutendste Ökonom und Sozialphilosoph des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer hat er die (wissenschafts)theoretische Begründung für das System der freien Märkte, die auf unbedingter Achtung des Privateigentums aufgebaut sind, und gegen jede Form staatlicher Einmischung in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben geliefert. Seine Werke sind Meilensteine der Politischen Ökonomie. Das 1922 erschienene “Die Gemeinwirtschaft” gilt als erster wissenschaftlicher und umfassender Beweis für die “Unmöglichkeit des Sozialismus”. Sein Werk “Human Action” (1949) hat bei amerikanischen Libertarians den Rang einer akademischen “Bibel”. Mises war Hochschullehrer an der Wiener Universität und Direktor der Österreichischen Handelskammer. Ab 1934 lehrte er am Institut des Hautes Etudes in Genf. 1940 Übersiedlung nach New York, wo er nach weiteren Jahrzehnten der Lehr- und Gelehrtentätigkeit 1973 im Alter von 92 Jahren starb.

 

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